Braunschweig. Der Braunschweiger Salah Deeb trauert um neun Familienmitglieder, die bei einem israelischen Raketenangriff ums Leben kamen.

Neun Menschenleben ausgelöscht, auf einen Schlag. Neun Familienmitglieder, die am Wochenende bei einem Luftangriff in Gaza getötet wurden. Für Salah Deeb war die Nachricht ein Schock. Schon 2009 hatte der Ingenieur aus Braunschweig elf Angehörige verloren, als israelische Panzerraketen Häuser in Jabalia zerstörten. Nun erlitt seine Familie wieder ein ähnliches Schicksal. Am Sonntagabend trafen Raketen das Haus seines Schwagers im nördlichen Gazastreifen und legten es in Schutt und Asche. Der Schwager mit seinen drei Söhnen Bilal (26), Mohammad (21) und Ahmad (14), ihr Großvater und weitere Familienmitglieder – alle waren sofort tot. Seine Schwester überlebte schwer verletzt.

„Die Katastrophe ist nicht vorbei, auch wenn der Krieg endet.“
Haifa Abu Amro, Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Care.

„Sie wurden im Schlaf überrascht“, sagt Salah Deeb. Normalerweise warne die israelische Armee die Bevölkerung, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Doch diesmal habe es anscheinend keine Informationen gegeben.

Salah Deeb lebt seit 1992 in Deutschland, er hat in Wolfenbüttel und Kassel studiert, einen deutschen Pass und arbeitet als Ingenieur in Gifhorn. Doch ein Großteil seiner Familie stammt aus dem Gazastreifen, jenem 360 Quadratkilometer großen Gebiet, das noch nicht einmal die Fläche des Stadtstaates Bremen umfasst. Der 40-Jährige telefoniert regelmäßig mit seinem Bruder, um sich über die Lage in dem Kriegsgebiet zu informieren. „Ich habe jede Minute gebangt“, sagt er. Die Angriffe am Wochenende waren vorerst die letzte große Welle, die über die Menschen in Gaza hinüberschwappte. Seit gestern schweigen die Waffen wieder. Zu spät für Salah Deebs Familie.

Die israelische Armee hat den Gazastreifen verlassen, viele Palästinenser kehren in ihre Wohnviertel zurück, aus denen sie während der Angriffe geflohen waren. Das wird die Lage in den zerbombten Gebieten zwar etwas entspannen, aber das Elend bleibt.

Rund 1800 Tote hat der bislang längste und verlustreichste Krieg im Gazastreifen nach palästinensischen Angaben gefordert. Mehr als 10 000 Verletzte liegen in den Krankenhäusern, wo sie nur notdürftig versorgt werden können. Auf israelischer Seite sind bis jetzt 64 Soldaten und drei Zivilisten ums Leben gekommen. 1800 zu 64 – Zahlen, die laut Salah Deeb das ganze Ungleichgewicht in dem Konflikt deutlich machen.

Es ist schwer, objektive Informationen aus einer Region zu bekommen, in der sich die Spirale der Gewalt immer weiter dreht. Journalisten vor Ort berichten von bewussten Falschmeldungen und unzuverlässigen Informationen, die sowohl von palästinensischer als auch von israelischer Seite gestreut werden. ARD-Korrespondent Richard C. Schneider schreibt in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Bilder, die der Hamas nicht genehm sind, werden nicht zugelassen (und Bildmaterial, das Menschen via Handy auf Twitter, Facebook oder Youtube ins Netz stellen, ist sowieso nie verifizierbar).“ Auch auf der anderen Seite werden gezielt Nachrichten aufgebauscht. Ein Beispiel ist die angebliche Entführung des israelischen Leutnants Hadar Goldin, die heftige Angriffe nach sich zog – bis am Sonntag die knappe Mitteilung der israelischen Armee kam, er sei bei einem Feuergefecht getötet worden.

Je nachdem, durch welche Brille man schaut, finden sich für beide Seiten Rechtfertigungen für die Aggressionen. Unbestritten ist aber, dass die Zivilbevölkerung im Gazastreifen der größte Verlierer des Konfliktes ist. Unabhängige Hilfsorganisationen vor Ort berichten, wie die medizinische Versorgung zusammenzubrechen droht: Die Krankenhäuser sind völlig überfüllt. Es fehlt an Blutkonserven, Antibiotika, Narkose- und Schmerzmitteln und medizinischem Gerät. Aufgrund der Zerstörung des Hauptkraftwerks in Gaza ist auch die Notfallversorgung schwierig.

Mitarbeiter der Organisationen mussten oft selbst vor den Bomben flüchten. „Wir leben jetzt mit 16 Leuten im Büro von Care“, berichtet die Helferin Haifa Abu Amro. So schnell wie möglich wollen sie nun Hygiene-Pakete und Lebensmittel in Dosen an die Bevölkerung verteilen.

„Wir sind in ein Haus gegangen, in dem 50 bis 60 Personen in einem Raum wohnten“, schildert die 30-Jährige ihre Eindrücke. „Sie hatten nichts zu essen, nichts, auf dem sie sitzen oder schlafen konnten.“ Sie geht davon aus, dass momentan in fast jedem Haus durchschnittlich 30 Familien leben. „Wenn sie irgendwann einmal nach Hause zurückkehren, werden sie nichts mehr vorfinden.“ Eines der größten Probleme ist außerdem die Versorgung mit Trinkwasser. Vielerorts gibt es keinen Strom, was auch die Kommunikation erschwert. „Wir laden unsere Handys gerade an Autobatterien auf“, schreibt Haifa Abu Amro.

„Die Infrastruktur ist zerstört und das Gebiet völlig abgeschottet von der Außenwelt“, sagt auch Salah Deeb. Er spricht von dem „größten Gefängnis der Welt“.

Zwar hat auch die Hamas vereinbarte Waffenruhen immer wieder gebrochen, Raketen nach Israel gefeuert und damit weitere Angriffe auf den Gazastreifen provoziert. Dennoch sieht der Ingenieur einen großen Rückhalt in der Bevölkerung für die palästinensische Organisation. „Die Menschen leben seit Jahren mit der Blockade. Viele haben ihr Hab und Gut verloren. Sie sind verzweifelt, weil es keine Aussicht auf Besserung gibt“, sagt er. „Sie sind für den Widerstand, weil sie dahinter die Erlösung sehen.“

Die Menschen haben das Gefühl, von der Weltgemeinschaft alleingelassen zu werden, während Israel aus dem Westen jede gewünschte Unterstützung erhält, ist Salah Deeb überzeugt. „Man muss den Menschen etwas geben: das Recht auf Versorgung, freies Geleit im Gazastreifen, das Recht auf ein würdiges Leben.“

Rückhalt bekommt der trauernde Familienvater von der Islamischen Gemeinschaft in Braunschweig, die am Freitag zu einer Solidaritätskundgebung vor dem Schloss aufgerufen hat. „Wir trennen klar zwischen der jüdischen Religion und dem Vorgehen der israelischen Regierung“, sagt der Vorsitzende Sadiqu Al-Mousslie. Antisemitismus werde nicht toleriert. „Aber man muss Kritik am Vorgehen Israels und an den Angriffen auf die Zivilbevölkerung äußern dürfen.“ Auch UN und die internationale Gemeinschaft müssten klare Worte finden.

Selbst wenn nun wieder die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung keimt: Die Menschen in Gaza glauben nicht daran, dass sich ihre Lage schnell ändern wird, wie Care-Mitarbeiterin Haifa Abu Amro schreibt: „Wir wissen, dass es jetzt eine dreitägige Waffenruhe gibt. Aber diese Katastrophe ist nicht vorbei, auch wenn der Krieg endet.“