Braunschweig. Der Schulbuchforscher Georg Stöber vom Georg-Eckert-Institut erklärt, was beim Lesen von Karten zu beachten ist.

Unser Leser Eberhard Harder aus Braunschweig fragt:

Ich habe bereits vor über 60 Jahren als Berliner mit den Diercke-Atlanten Erdkunde gelernt und möchte jetzt meiner weit entfernt wohnenden Enkelin auch so ein Werk zukommen lassen. Zu welchen Zeiten sind die letzten beiden Diercke-Atlanten erschienen?

Die Antwort recherchierte Thomas Parr:

„In der 1991er Auflage des Atlas’ lesen wir zum ersten Mal zusätzlich zu den deutschen auch die entsprechenden polnischen Städtenamen.“
Dr. Georg Stöber, Georg-Eckert-Institut

Es gibt wohl kaum eine Schüler-Generation nach 1945, die nicht einen Diercke Weltatlas im Ranzen hatte. In den 1960ern war er in braunes Leinen gebunden und mit einer Goldprägung versehen. Bei häufiger Benutzung verlor sich das Gold, dafür traten Fettflecken und Griffspuren an ihre Stelle. Die Patina eines Schülerlebens. In den späten 70er Jahren wurde der Leinen-Einband durch einen abwaschbaren Folien-Einband ersetzt. Grundfarbe Blau.

1883 erschien der erste Diercke. Inzwischen sind mehr als 300 Auflagen gedruckt worden, wie Diplom-Geograph Sebastian Schlüter erklärt. Schlüter gehört zur Abteilung „Produktmanagement Diercke Weltatlanten“ im „Bildungshaus Schulbuchverlage Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH“ in Braunschweig. Ganz am Anfang, 1883, war der Diercke noch bei Westermann erschienen.

„Sehen wir das Karten- werk flüchtig an, dann gewinnen wir den Eindruck, dass die Welt nur aus fein säuberlich getrennten National- staaten besteht.“
Dr. Georg Stöber, Georg-Eckert-Institut

Sagenhafte 300 Auflagen – allerdings für unterschiedliche Atlas-Ausgaben, von denen der Diercke Weltatlas nur eine ist.

Die jüngste Ausgabe des Diercke-Weltatlas erschien im Jahr 2008, wie Schlüter unserem Leser Eberhard Harder mitteilt. Und wann erscheint die nächste Auflage? „Das“, sagt Schlüter, „ist unser Geheimnis.“ Denn einen fest gelegten Rhythmus kennen die Kartographen nicht.

„In der 1991er Auflage des Atlas’ lesen wir zum ersten Mal zusätzlich zu den deutschen auch die entsprechenden polnischen Städtenamen. “
Dr. Georg Stöber, Georg Eckert Institut

In welchen Abständen ein Atlas nämlich aktualisiert wird, erklärt Schlüter so: „Das hängt natürlich auch von politischen Veränderungen ab, die die Diercke-Redaktion zeitnah einarbeitet. So kann wie 1991 und 1992 nur ein Jahr zwischen zwei aktualisierten Neuauflagen liegen.“

1991, als der neue Atlas herausgekommen war, erklärten etliche Staaten ihre Unabhängigkeit, darunter Kroatien, Mazedonien und Slowenien im ehemaligen Jugoslawien, mehr aber noch Staaten der ehemaligen Sowjetunion: Estland, Lettland, Georgien, Ukraine, Moldawien, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan, Aserbaidschan, Turkmenistan. Jede Menge Arbeit für Kartographen. Aber der Zerfall der Sowjetunion ist das Musterbeispiel: „Wenn etwas verändert werden muss, dann sind es zumeist Statistiken, Städtegrößen, Schreibweisen von Namen oder bei neuen Ländern deren Grenzen und Namen“, stellt Schlüter fest.

Immerhin also gibt es im digitalen Zeitalter noch eine nächste gedruckte Atlas-Ausgabe. Und das aus gutem Grund. „Gerade in der heutigen Zeit, wo sich jeder auf seine digitale Navigation verlässt, ist es umso wichtiger zu wissen, wie man analoge Karten liest und was dort zu finden ist.

Gerade Kartenfallbeispiele stehen stellvertretend für komplexe Veränderungen, Gegebenheiten und Aktivitäten an einem bestimmten Ort und verdeutlichen Problemstellung kartographisch“, erklärt Schlüter die Bedeutung eines gedruckten Kartenwerks.

Unser Leser Franz Albert aus Wolfenbüttel fragt:

Ist es nicht egal, wie alt die Karten sind – wenn nicht gerade 80 Jahre oder mehr? Gerade mit älterem Kartenmaterial haben ein guter Lehrer und seine Schüler die Chance, neue Grenzen und politische Entwicklungen zu verfolgen und Geschichte besser zu verstehen.

Die Antwort recherchierte Thomas Parr:

Im Großen und Ganzen hat Leser Franz Albert nicht ganz unrecht. Gleichwohl müssen Karten, insbesondere die in Welt- und/oder Schulatlanten, sehr genau gelesen werden, denn zuweilen steckt eine Menge Politik im Atlas, die allerdings nicht die Atlas-Redaktion zu verantworten hat.

Einer, der sich genauer damit auseinander gesetzt hat, ist Dr. Georg Stöber vom Georg-Eckert-Institut/Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Dort leitet er die Abteilung „Schulbuch und Gesellschaft“ und das Arbeitsfeld „Schulbuch und Konflikt“. Wo aber steckt die Politik im Schulatlas? Der Schulbuchforscher lächelt verschmitzt.

„Nehmen wir Schulatlanten aus den 1920er Jahren und den 1950er Jahren zur Hand und betrachten uns die Deutschlandkarten, dann stellen wir fest, dass die veränderten Grenzen, die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg beziehungsweise nach dem Zweiten Weltkrieg gesellschaftlich und politisch nicht akzeptiert worden sind“, sagt der Wissenschaftler.

Verantwortlich dafür seien Erlasse der preußischen Schulverwaltung in der Weimarer Republik beziehungsweise die seit 1948 tagende Kultusministerkonferenz.

Im Schulatlas sah das dann so aus: „Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland in seine Grenzen vor 1914 abgebildet und nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in den Grenzen von 1937“, erklärt Stöber

Er selbst, Jahrgang 1949, erhielt seinen ersten eigenen Atlas – ein Diercke – Anfang der 1960er Jahre. „Und da war Deutschland eben in den Grenzen von 1937 zu sehen, allerdings mit Hinweisen wie ,unter polnischer Verwaltung‘ und unter sowjetischer Verwaltung‘. Von ,Deutscher Demokratischer Republik‘ war dort nichts zu lesen“, erinnert sich Stöber.

Gewissermaßen einen Grenz-Konflikt zeigt er in einer Gegenüberstellung ein und desselben Kartenausschnitts aus den Jahren 1951, 1971 und 1991. Es ist ein Ausschnitt der damals sogenannten Oder-Neiße-Linie, genau genommen der deutsch-polnischen Grenze.

„Im Atlas von 1951 ist die eigentliche Grenze durch rote Punkte markiert. Die Atlas-Signatur für eine Staatsgrenze war aber schon damals eine dicke rote Markierung.

1971, Willy Brandt (SPD) war Bundeskanzler und gestaltete gemeinsam mit Egon Bahr die Neue Ostpolitik, erscheint der Schulatlas mit einer durchbrochenen Staatsgrenzen-Signatur, weil die Grenze zu Polen ja noch immer umstritten war, aber schon im Bewusstsein der Menschen existierte.

1991 sehen wir in der aktuellen Atlas-Auflage dann die akzeptierte polnische Staatsgrenze, die aussieht wie alle Ländergrenzen.

In dieser Auflage des Atlas’ lesen wir auch zum ersten Mal zusätzlich zu den deutschen auch die entsprechenden polnischen Städtenamen. Diese Veränderung ging im Übrigen auf eine Empfehlung der deutsch-polnischen Schulbuch-Kommission aus dem Jahr 1976 zurück“, erklärt Stöber. Man könne daran erkennen, so der Wissenschaftler, wie langsam sich politische Veränderungen in Schul-Atlanten niederschlügen.

Kann einem Atlas dann überhaupt Vertrauen geschenkt werden? „Natürlich kann man ihm trauen. Aber man muss ihn kritisch zu lesen verstehen“, sagt Stöber. „Die Karten transportieren Botschaften. Sie haben eine andere Sprache, man muss ihre Zeichen und Signaturen kennen. Und – Karten generalisieren.“

Was das bedeutet, erklärt der Schulbuchforscher so: „Sehen wir das Kartenwerk flüchtig an, dann gewinnen wir den Eindruck, dass die Welt nur aus fein säuberlich getrennten Nationalstaaten besteht. Es gibt klare Abgrenzungen und große bunte Flächen. Das schafft ein homogenes, friedliches Bild.

Was innerhalb der Staaten vor sich geht, zeigen die Karten nicht. Wir erfahren nichts über beispielsweise religiöse Gruppen, über politische Strömungen oder soziale Differenzierungen.“

Die Karte der Türkei zeige keinen Kurdenkonflikt, die Karte Indiens keinen Kaschmirkonflikt. Aber es gebe die Konflikte.

So kann ein Atlas immer nur ergänzendes Werk zu Geschichte und Zeitgeschichte sein. Dass Karten noch mehr können als die Klassiker im Atlas, zeigt der Trend zu den sogenannten Worldmapper-Karten.

ATLAS-PRODUKTION IN VORDIGITALER ZEIT

Diplom-Geograph Sebastian Schlüter erklärt die aufwendige Arbeit, einen Atlas herzustellen:

Bis in die 1930er Jahre hinein herrschten das lithographische Verfahren und der Buchdruck vor.

Die Originalzeichnung einer Karte wurde auf Kalkschieferplatten (Schwarz-Platte für Linien, Namen etc., mehrere Farb- und Bergplatten) übertragen, dann von diesen Original-Lithosteinen auf die Druckplatten aus Zink spiegelverkehrt gebracht, „umgedruckt“, deren druckende Stellen für den Buch(hoch)druck auf Schnellpressen hochgeätzt werden mussten. Das war alles weitgehend Handarbeit.

Nach und nach traten der Offsetdruck, die Positivkopie und neuartige Zeichnungsfolien nebst fotomechanische Kopierverfahren an ihre Stelle.

Vereinfacht gesagt: Die Originalzeichnung auf den Folien auf der Grundlage einer Entwurfszeichnung gelangte nun seitenrichtig auf fotomechanischem Wege auf die Druckplatten. Das sparte eine Menge Handarbeit.