Braunschweig. Der SPD-Bezirk Braunschweig feiert den 150. Geburtstag der Partei und besinnt sich auf alte Werte.

Hubertus Heil (links), SPD-Bezirkschef, SPD-Chef Sigmar Gabriel (Mitte) und der ehemalige Landtagspräsident und niedersächsische Kultusminister Rolf Wernstedt bei der Feier 150 Jahre SPD in der VW-Halle.
Hubertus Heil (links), SPD-Bezirkschef, SPD-Chef Sigmar Gabriel (Mitte) und der ehemalige Landtagspräsident und niedersächsische Kultusminister Rolf Wernstedt bei der Feier 150 Jahre SPD in der VW-Halle. © Peter Sierigk/Andre Dolle (6)

Die SPD ist die älteste demokratische Partei Europas. Voller Selbstbewusstsein und doch ohne Pathos wies SPD-Chef Sigmar Gabriel am Sonntag beim Festakt „150 Jahre SPD“ des Bezirks Braunschweig in der VW-Halle auf diese Tatsache hin.
150 Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Kaiserzeit, Revolutionswirren, Weimarer Republik, Nazi-Deutschland, zwei Weltkriege, die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung liegen seit der Parteigründung 1863 zurück.

Die Welt hat sich geändert. Jede Zeit braucht ihre Antworten. Wofür die Partei heute, in Zeiten nicht mehr existenter Milieus steht, darauf versuchten Gabriel sowie der SPD-Bezirkschef Hubertus Heil und der ehemalige Landtagspräsident und Ex-Kultusminister Rolf Wernstedt (SPD) Antworten zu geben – trotz des gebotenen Rückblicks.

Die „alte Tante“ SPD hat sich in ihrer Geschichte immer wieder gehäutet, an Entwicklungen angepasst – und sich selten einer bequemen Opportunitätspolitik hingegeben. Darauf wies vor allem Festredner Wernstedt hin. In der Kaiserzeit, unter den Nazis und in der DDR wurden die Sozialdemokraten nicht nur verboten, zum Teil wurden viele von ihnen auch verfolgt, sogar ermordet.

Trotz aller unbestreitbaren Erfolge knabbert die SPD aber immer noch am historischen Absturz auf 23 Prozent bei der Bundestagswahl 2009. Nun, im Jubiläumsjahr, will die SPD zeigen, dass sie noch Volkspartei ist. Dabei besinnt sie sich nach der schmerzhaften Agenda 2010 unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder wieder auf ihre Wurzeln. Kernthemen bei der Bundestagswahl sind der Kampf um eine Bändigung der Finanzmärkte, gegen Fliehkräfte in der Gesellschaft und für einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Klassische SPD-Themen eben.

Die spielten auch gestern eine Rolle. „Wir kämpfen gegen eine Welt der Ohnmacht, in der die Finanzmärkte die Verhältnisse bestimmen, in der die soziale Schere immer mehr auseinanderdriftet“, sagte Heil. „Wenn es die SPD nicht schon gäbe, würde man sie heute gründen müssen.“

Gabriel beschrieb den Markenkern der SPD so: „Egal welche Religion, welche Hautfarbe, ob Mann oder Frau, ob man in einem ärmeren oder einem reichen Elternhaus aufgewachsen ist: Es braucht Bedingungen, die allen Menschen die Chance geben, etwas aus ihrem Leben zu machen. Das gilt bis heute.“

Dann wurde Gabriel aus gegebenem Anlass doch noch pathetisch, als er an die Leiden von Sozialdemokraten unter den Nazis erinnerte. Gabriel zitierte den Widerstandskämpfer, Reichtagsabgeordneten und SPD-Politiker Julius Leber, geschrieben kurz vor seiner Hinrichtung in Plötzensee am 5. Januar 1945 an seine Familie: „Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des Lebens der angemessene Preis“. Gabriel rang kurz mit sich. Dann sagte er: „Was für ein Satz!“

Kurz zuvor kalauerte Gabriel noch, indem er sich mit einer anderen Größe der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, verglich. Lassalle starb bereits 1864 im Duell wegen einer Frau. „Heute haben es SPD-Vorsitzende einfacher, die müssen nur zur Konferenz der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen.“

Dennoch gelte es immer wieder, soziale Standards zu sichern. „Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl“, sagte der Parteichef. Dann zählte er auf, wo auch heute noch, trotz aller Errungenschaften, an denen die SPD maßgeblichen Anteil habe, der Schuh drückt. So seien die Hälfte aller neuen Arbeitsverhältnisse unbefristet. „Welche junge Frau, welcher junge Mann wird denn aus dieser Unsicherheit heraus eine Familie gründen?“, fragte Gabriel. Eine weitere Ungerechtigkeit sei, dass Frauen immer noch 25 Prozent weniger Lohn für die gleiche Arbeit erhalten. Außerdem könne es nicht sein, dass alleinerziehende Mütter drei Jobs annehmen müssten, um über die Runden zu kommen.

„Wir wollen weiterhin für gerechtere Lebensverhältnisse sorgen“, sagte Gabriel. Die SPD ist die einzige soziale Konstante des Landes.“

Der SPD-Politiker Wernstedt erklärte die Geschichte der Partei anhand der Begriffe Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie, Frieden und Bildung, für die die SPD wie keine andere Partei in Deutschland stehe.

Bezogen auf die ersten Jahrzehnte der Partei, die besonders schwierig waren, sagte Wernstedt: „Die SPD versteht mehr von Freiheit, weil sie mehr von Unfreiheit versteht, die sie erlitten hat.“

Beim Aspekt der Gerechtigkeit streifte Wernstedt auch die umstrittene Agenda 2010. Er sagte: „Einiges an der Agenda ist zu diskutieren.“ Was genau zu diskutieren ist, ließ er offen.

VW-Chef Martin Winterkorn bezeichnete Wernstedt als „tollen Typ“. Er erwähnte Winterkorn stellvertretend für die Debatte um Managergehälter. „Ob er 5, 10 oder 15 Millionen Euro verdient, ist aber nicht Winterkorns Werk. Es sind die rechtlichen Bedingungen, die dies möglich machen.“

Als Wernstedt die Solidarität zur Sprache brachte, prangerte er die „ethische Verwahrlosung der Finanzwelt“ an. „Banker verantworten Milliarden. Dabei handelt es sich um Menschen, die nicht wissen, was Gemeinwohl ist.“ Dieser Egoismus sei frappierend.

Vieles sei erreicht, sagte Wernstedt. Es bleibe aber immer noch viel zu tun für die SPD. Ständig müsste dieselbe Frage an die gesellschaftlichen Eliten gestellt werden: „Wem nützt das eigentlich, was Sie tun?“ Dann wandte sich Wernstedt direkt ans Publikum: „Wenn ihr diese Frage stellt, wisst ihr, was ihr zu tun habt.“