Hildesheim.

Bei Ausschreitungen in Kairo kamen gestern erneut Demonstranten ums Leben. Die Opposition distanzierte sich von gewaltbereiten Demonstranten, rief zum Dialog auf. Laut Thomas Demmelhuber, Juniorprofessor an der Universität Hildesheim, ist das auch der einzig gangbare Weg, um die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Ägypten zu beenden: Auch die Opposition muss sich für eine Beruhigung der Lage einsetzen.

„Im Moment dominieren die Hardliner-Positionen. Die Opposition fordert Zugeständnisse, die ohne einen Gesichtsverlust von Präsident Mohammed Mursi nicht umzusetzen wären. Es müssen sich nun also beide Seiten bewegen“, sagt Demmelhuber im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Politologe, der seit 2005 den Umbruch in Kairo miterlebte und nun in Hildesheim forscht, stellte dort gestern Abend sein Buch „Revolution und Regimewandel in Ägypten“ vor.

Um Ägypten geht es gestern und heute auch bei einer prominent besetzten Veranstaltung in Hildesheim: 100 Kulturschaffende und -politiker aus Ägypten, dem übrigen Afrika und Europa kommen anlässlich der Einrichtung des Unesco-Lehrstuhls an der Universität Hildesheim zu einem Afrika-Kolloquium zusammen.

Thomas Demmelhuber
© Juniorprofessor und Autor Thomas Demmelhuber, der lange in Kairo lebte.

Künstler berichten, unter welchen erschwerten Bedingungen sie arbeiten. „Der arabische Frühling wurde auch kulturell gestaltet“, erklärt der Hildesheimer Kulturpolitikprofessor Wolfgang Schneider, „Dokumentarfilme, Graffitis und Performances zeigen, wie lebendig der politische Aufbruch in den nordafrikanischen Ländern ist.“ Nach wie vor regiere in Ägypten aber die Hochkultur der Eliten.

Schneider ist Inhaber des neuen Unesco-Lehrstuhls in Hildesheim, der sich mit den Zusammenhängen von künstlerischer Betätigung und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in Afrika befassen soll. Bisher gibt es in Deutschland nur zehn solcher, von den Vereinten Nationen gestifteten, Lehrstühle. Die Hildesheimer wollen in enger Kooperation mit Partnern in Afrika Projekte in der kulturellen Bildung untersuchen und Ausbildungsprogramme im Kulturmanagement entwickeln. Anlässlich des Mursi-Besuchs in Deutschland lautet Schneiders Appell: „Präsident Mursi, gewähren Sie den Künstlern Freiheit!“

Angesichts der Unruhen werden in Ägypten wohl zunächst keine kulturpolitischen Fortschritte zu erzielen sein. Das zeigen die Erfahrungen und Forschungsergebnisse von Professor Demmelhuber. Derzeit konzentrieren sich alle Kräfte auf die Stabilisierung der politischen Lage: „Die Regierung Mursi schafft es nicht, die öffentliche Ordnung abzusichern, sie muss auf das Militär zurückgreifen und hat den Ausnahmezustand in einigen Städten verhängt. Das Militär darf jetzt auch Zivilisten verhaften, also polizeiliche Aufgaben übernehmen.“

In der Abhängigkeit vom Militär unterscheidet sich die Regentschaft des von der Muslimbruderschaft getragenen Mursis also kaum von der seines gestürzten Vorgängers. „Auch in der neuen Verfassung hat das Militär eine besondere Stellung“, so Demmelhuber: „Seine Rolle bleibt weiter unantastbar, und es unterzieht sich nicht einer zivilen Kontrollen. Es hat also seine Privilegien aus der Mubarak-Zeit behalten, quasi als ,Revolutionsdividende‘.“

Der Professor erinnert an die Warnung des Militärchefs: Wenn es die politischen Akteure nicht schafften, sich wieder an den Verhandlungstisch zu setzen, drohe die Erosion der staatlichen Ordnung. Demmelhuber: „Das Militär sieht sich aber als Garant der staatlichen Ordnung, die es mit der Revolution der freien Offiziere 1952 selbst geschaffen hat.“ Über die Jahrzehnte haben die Generäle ihren Einfluss auch auf andere Bereiche ausgedehnt. „Es ist auch in der Wirtschaft sehr aktiv – ein wahrer Gemischtwarenhandel: von Immobilien, über Kühlschränke bis hin zur Produktion von subventioniertem Brot.“

Um die Lage zu befrieden, müssen die Kontrahenten also zurück an den Verhandlungstisch. Außerdem müsse der Demokratisierungsprozess wieder aufgenommen werden, der in einem Land mit diesen Traditionen nicht nach zwei Jahren abgeschlossen sein könne.

zu Ägypten!

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Schließlich müssten Länder wie Deutschland dem vor dem Staatsbankrott stehenden und von Touristenmangel gebeutelten Land helfen: „Es gab in den letzten Mubarak-Jahren Wachstumsraten von sechs Prozent, jetzt sind es nur noch zwei“, so Demmelhuber. Er verweist auf das Durchschnittsalter von unter 30 Jahren, jedes Jahr strömten Hunderttausende auf den Arbeitsmarkt. „Diese nötigen Jobs kann Ägypten unter diesen schlechten ökonomischen Bedingungen nicht schaffen.“