Braunschweig. Der Gründer und Gesellschafter der „dm-Drogeriemärkte“, Götz Werner, über seine Idee des bedingungslosen Grundeinkommens für alle Bürger.

Edeltraud Sack: Ich habe mit dem Thema Grundsicherung seit Jahren Erfahrungen gesammelt. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen irgendwann keine mehr Lust haben, was im Leben zu erreichen, wenn der Staat sie immer nur fördert. Wie sollen die mit einem bedingungslosen Grundeinkommen dann noch motiviert sein?

Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass, wenn ein Mensch ein gewisses Niveau erreicht hat, er schon auf das nächsthöhere schaut. Der Mensch ist ein Wesen, das prinzipiell nie restlos zufrieden ist. Als ich ein junger Mann war, habe ich gedacht: Wenn du 1000 Mark verdient hast, dann hast du es geschafft! Aber nein: Wenn man das eine Ziel erreicht hat, hat man schon wieder neue Wünsche. Und ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der mit dem, was er hat, zufrieden ist.

Sven Sikatzki: Dass jeder immer nach Höherem strebt, ist ja ein sehr positives Menschenbild. In vielen Berufsfeldern ist das sicher so. Aber gibt es nicht auch Berufe, die im Falle eines Grundeinkommens für alle nicht mehr ausgeübt würden, weil es für die Menschen keinen finanziellen Druck mehr gibt?

Sie stellen die Frage: Wer macht denn dann die Drecksarbeit? Sie haben drei Möglichkeiten: Die erste Möglichkeit ist, Sie schaffen einen attraktiven Arbeitsplatz, an dem der Mensch sich wertgeschätzt fühlt. Die zweite Möglichkeit ist, Sie konstruieren eine Maschine, die die Arbeit erledigt. Wenn Ihnen beides nicht gelingt, bleibt noch eine dritte: es selbst zu machen.

Edeltraud Sack: Aber wenn alle Menschen auch ohne zu arbeiten das gleiche Geld erhalten, haben wir dann nicht wieder Zustände wie in der DDR?

Es erhalten nicht alle das gleiche Einkommen. Mein Gedanke ist: Die Menschen sollen keine Existenzangst mehr haben. Denn nur dann wachsen sie über sich hinaus. Jeder kann arbeiten und hinzuverdienen. Das bedingungslose Grundeinkommen hat nichts mit Sozialismus zu tun. Denn bei der Grundeinkommensidee geht es um das Individuum. Der Sozialismus hingegen hat immer nur auf das Kollektiv geschaut. Und das hat nichts mit Freiheit zu tun.

Lars Dedekind: Die Finanzierbarkeit Ihrer Idee bleibt mir aber noch ein bisschen schleierhaft.

Damit muss man sich beschäftigen. Nur wer etwas denken kann, kann es auch rechnen. Wenn Sie von Anfang an sagen ,Das ist nicht finanzierbar!‘, finden Sie auch keinen Weg. Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe.

Lars Dedekind: Aber ich würde von Ihnen gerne konkrete Vorschläge zur Finanzierung hören.

Die Frage ist doch: Sind wir als Gemeinschaft in der Lage, genügend Güter und Dienstleistungen herzustellen, so dass jeder Bürger frei von Existenzangst leben kann? Und die Antwort darauf lautet: ja. Das Geld ist nur ein Abbild dessen, was wir güterwirtschaftlich leisten können. Letztendlich ist es Aufgabe der Eliten, einen Ausgleich herbeizuführen, damit alle eine Teilhabe erhalten. Das geht über die Steuern. Die Frage ist: Wie kann man Steuern so erheben, dass die Initiative des Einzelnen nicht behindert, sondern gefördert wird? Mein Vorschlag ist, die Mehrwertsteuer dafür heranzuziehen, und zwar deswegen, weil bereits heute alle unsere Steuern letzten Endes in den Preisen enthalten sind.

Lars Dedekind: Wie meinen Sie das?

Ein Arbeitnehmer zahlt zwar Steuern, aber tragen muss sie der Kunde des Unternehmens, bei dem der Arbeitnehmer angestellt ist. Die Steuern des Arbeitnehmers werden also über die Preise refinanziert. Heute schon landen alle Steuern, die Sie zahlen, alle Krankenversicherungsbeiträge – also auch alle Sozialleistungen wie Hartz IV – in den Preisen. Im Preis einer Flasche Wasser sind etwa
50 Prozent Staatsquote enthalten. Sie können die Steuern auch direkt erheben. Die Konsumsteuer ist die Steuer der weltweiten Arbeitsteilung, denn sie besteuert nur die Güter, die im Land konsumiert werden. Die Mehrwertsteuer subventioniert den Export und belastet den Import.

Lars Dedekind: Was müsste ein Grundeinkommen denn ermöglichen?

Dass man davon bescheiden, aber menschenwürdig im Sinne von Artikel 1 unserer Verfassung leben kann. Es soll kein Existenzminimum sein, sondern ein Kulturminimum.

Lars Dedekind: Welche Größenordnung stellen Sie sich vor?

Ich habe es mit 1000 Euro veranschlagt. Die Höhe muss aber in einer demokratischen Gesellschaft ausgehandelt werden.

Edeltraud Sack: Aber wie wollen Sie von 1000 Euro alles finanzieren? Wohnung, Auto, Kultur?

Man soll bescheiden leben können. Manche Menschen leben heute von 380 Euro. Wenn ein Mann und eine Frau mit je einem Grundeinkommen zusammenleben, haben sie gemeinsam schon 2000 Euro und können viele Dinge gemeinsam nutzen.

Sven Sikatzki: Kann man vor dem Hintergrund der Freizügigkeit in der Europäischen Union das Grundeinkommen nur bei uns einführen?

Ja, genauso wie Hartz IV. Sie haben heute bereits die Freizügigkeit, aber nicht jeder, der hierher zieht, kann gleich Hartz IV beantragen. Wir müssen bereits heute definieren: Wer gehört zu uns, für wen fühlen wir uns verantwortlich?

Sven Sikatzki: Die Piratenpartei hat ja auch das bedingungslose Grundeinkommen in ihr Programm aufgenommen. Wie groß sind denn da die Schnittmengen zu Ihrem Konzept?

Ich habe kein Konzept, ich habe nur eine Idee. Ich weiß auch nicht genau, was die Piraten vorhaben. Sie haben bisher auch nur eine Idee und müssen daraus ein Konzept machen.

Edeltraud Sack: Mich hat gewundert, dass Sie nicht einer der zwanzig Autoren waren, die von Angela Merkel eingeladen wurden, um über das Thema der Grundsicherung zu sprechen. Wie kam das?

Das müssen Sie Frau Merkel fragen. Aber darum geht es doch nicht. Die Politiker sind nicht entscheidend. In Deutschland wird aber immer auf die Politiker geschaut. In der Schweiz zum Beispiel fragen die Menschen: Was sage ich den Politikern, was sie tun sollen? Entscheidend ist, dass der Wind der Veränderung aus der Gesellschaft weht. Politiker werden diese Themen dann aufgreifen müssen.

Lars Dedekind: Für Menschen, die so einen missionarischen Eifer haben wie Sie, gibt es oft ein Schlüsselerlebnis. Welches war das bei Ihnen?

Bei mir war es so: Vor bald 40 Jahren habe ich dm gegründet und hatte Erfolg. In der Folge musste ich viele Menschen einstellen. Und bei den Einstellungsgesprächen ist mir irgendwann klar geworden: Wenn ich mit einem Bewerber, den ich einstellen möchte, kein Gehalt vereinbare, kann er es sich gar nicht leisten, bei uns anzufangen. Denn er muss zuerst die Sicherheit haben, dass er zum Beispiel seine Miete zahlen kann, bevor er zu uns kommt. Dann habe ich erkannt: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Einkommen ist nicht die Bezahlung von Arbeit. Einkommen ist die Ermöglichung von Aktivität.

Sven Sikatzki: Wollen Sie das Modell nur als Vision verstanden wissen, oder sehen Sie kurz- oder mittelfristig Umsetzungsmöglichkeiten?

Wir haben bereits heute Bestandteile des Grundeinkommens verwirklicht. Etwa die Mindestaltersrente oder das Kindergeld. Die Instrumente haben wir bereits, wir müssen sie nur weiterdenken.

Sven Sikatzki: Wann, glauben Sie, wird das bedingungslose Grundeinkommen bei uns Realität sein?

Das Grundeinkommen wird erst Realität, wenn sich unser Denken ändert. Solange wir denken, dass die Arbeit wichtig ist, um ein Einkommen zu beziehen, kommen wir nicht weiter. Wir müssen davon überzeugt sein, dass wir das Einkommen brauchen, um arbeiten zu können. Und nicht umgekehrt. Wann genau das sein wird, kann niemand sagen. Entwicklung ist ein diskontinuierlicher Prozess. Es konnte auch niemand vorhersagen, wann die Mauer fällt.