Braunschweig. Digitalisierung und Globalisierung revolutionieren die Unternehmenskultur.

Wer bei dem Braunschweiger IT-Dienstleister Gärtner Datensysteme Teilzeit arbeiten möchte, braucht keinen Grund. Drei der Chefs reduzierten ihre Arbeitszeit, um Kinder und Job unter einen Hut zu bekommen, der vierte, um mehr Zeit fürs Musikmachen und Fahrradfahren zuhaben. „Wenn man etwas vormacht, prägt das die Unternehmenskultur“, ist Christine Müller überzeugt, eine der vier Geschäftsführer.

Unternehmenskulturen sind zurzeit im Umbruch. Digitalisierung und Globalisierung revolutionieren die Arbeitswelt. Was für den einen mehr Freiheit und Chancen bedeutet, belastet den anderen massiv, etwa dauernde Erreichbarkeit. Wie lösen Arbeitnehmer und Arbeitgeber dieses Dilemma? Ein Patentrezept gibt es dafür nicht. So ließe sich eine Podiumsdiskussion im Haus der Wissenschaft zur „Schönen neuen Arbeitswelt?“ zusammenfassen, die sich um Sinn und Selbstbestimmung in Zeiten des Strukturwandels drehte.

Denn so verschieden die Unternehmen sind, so verschieden sind die Menschen, die dort arbeiten. Eines aber würde wohl allen helfen: sich die Folgen des Wandels bewusst zu machen – und den einzelnen Mitarbeiter ernst zu nehmen. Dabei hilft: miteinander zu sprechen, wie Anna-Maria Staiger vom Institut für Unternehmensführung der Technischen Universität (TU) Braunschweig erklärte. Woran liegt es zum Beispiel, dass ein Angestellter nicht zufrieden ist?

Mitarbeiter müssten spüren, dass sie etwas bewirken, erläuterte Karin Leven, Organisationsberaterin und Coach aus Braunschweig, die Arbeitnehmer und -geber berät. Wichtig für die Unternehmenskultur seien Durchlässigkeit, Offenheit, das Einbinden der Beschäftigten in Entscheidungen, Kommunikation und Informationsmanagement. Im Gegensatz zu etwa den 1950er Jahren, als Disziplin und Hierarchien die Haltung prägten, hinterfragen Mitarbeiter heute deutlich mehr, wie Leven berichtete. Sie wünschten sich mehr Freiheit und Selbstverwirklichung. Selbst stupide Aufgaben fallen laut Leven leichter, wenn klar ist, warum sie erledigt werden müssen. Und Mitarbeiter wollten „gesehen“ werden. Wer Anerkennung erlebt, sei umgekehrt auch kritikfähig.

Gerade große Unternehmen sollten an den Hierarchien ansetzen, empfahl Staiger. Die seien besonders in traditionellen Konzernen in Deutschland noch sehr ausgeprägt. Entscheidungswege dauern deshalb länger – dabei ließen gerade Entscheidungen Mitarbeiter Verantwortung spüren.

Auch das versucht Unternehmerin Müller vorzuleben: „Bei uns entstehen Entscheidungen, sie werden nicht getroffen.“ Schon seit der Firmengründung gebe es die Idee, dass alle Mitarbeiter an einen Tisch passen. Außerdem brächten die Kollegen der unterschiedlichen Abteilungen „fachfremde“ Ideen ein; so mache etwa die Buchhaltung den Technikern Vorschläge und umgekehrt.

So offene Strukturen lassen sich nicht auf jedes Unternehmen übertragen, wie Staiger einräumte. Auch hier gilt: Kommt darauf an. So dürften etwa gewachsene Konzerne auch die älteren Generationen nicht vergessen. „Auch die Führungskräfte stecken in einem Dilemma“, stellte die Forscherin klar.

Doch es scheint nicht alles eine Frage des Alters zu sein. Staiger konnte nicht bestätigen, dass jüngere Mitarbeiter heute weniger arbeiten und mehr Freizeit wollen, was häufig als Trend erkannt wird. Die Wissenschaftlerin erlebt, dass es eher auf die Lebensphase ankomme. Ohne Familie zum Beispiel kann jemand noch alles geben, mancher junge Mensch brenne geradezu für die Arbeit. Mit mehr privaten Verpflichtungen würden viele gerne einen Gang runterschalten.

Andererseits dürfte sich der ein oder andere in Zukunft glücklich schätzen, wenn er überhaupt einen festen Job hat. Zum einen brechen durch Globalisierung und Digitalisierung Arbeitsplätze weg. Zum anderen wird sich die Arbeitswelt, vor allem durch das Internet, immer weiter teilen, prophezeite Dietrich von der Oelsnitz, der das TU-Institut für Unternehmensführung leitet: zwischen festen Mitarbeitern und solchen, die bei Bedarf des Unternehmens mitarbeiten. Die Stammbelegschaften werden laut dem Professor immer weiter abnehmen und parallel ein „sehr volatiler Peripherbereich“ hinzukommen. Das bedeute neben befristeten Verträgen immer häufiger nur projektbezogene Aufträge. Möglich machen es unter anderem Online-Portale, über die Freiberufler gebucht werden können. Die Firmen sparen sich so die Fixkosten für diese Mitarbeiter, was gerade für kleinere attraktiv ist.

Dabei konkurrieren diese sogenannten Clickworker zunehmend mit Freiberuflern auf der ganzen Welt. Viele Aufträge, die per Internet-Plattform vergeben werden, lassen sich problemlos auch zum Beispiel von Indien aus erledigen – für ein deutlich niedrigeres Honorar. Entstanden ist eine Plattform-Ökonomie, die weiter wachse, erklärte Staiger. Nicht nur Handwerker-Leistungen können heute online gebucht werden.

Auch wer festangestellt ist, muss sich inzwischen deutlich flexibler zeigen. Berufswege seien heute viel stärker fragmentiert, stellte Beraterin Leven fest. Der Wechsel zwischen Berufstätigkeit und Weiterbildung, wie etwa einer weiteren Ausbildung oder nochmal zu studieren, nehme zu. Das sei Fluch und Segen zugleich. Mit weniger Sicherheit steigt dafür die Freiheit.

Doch die Flexibilität kann auch bedeuten, immer und überall erreichbar zu sein. Das nehmen Menschen ebenfalls unterschiedlich wahr. Der eine ist froh, nachmittags eine Pause für die Kinder einlegen zu können und weiterzuarbeiten, wenn sie im Bett sind. Der andere kann nicht mal mehr im Urlaub abschalten. Die Erwartungshaltung der Kunden ist dadurch ebenso gestiegen, wie Müller erzählte. Manche verlangten, dass ein Auftrag, der Freitagnachmittag reinkommt, bis Montag abgearbeitet ist. Früher war das allein wegen des Postwegs gar nicht möglich.

Die Arbeit verdichtet sich immer stärker, das Tempo steigt stetig. Studien zeigen Staiger zufolge, dass etwa die „Generation Y“, die in den 1980er bis 1990er Jahren geboren ist, diese Arbeitsintensität als „sehr druckbehaftet“ wahrnimmt. Der Stress kann bei manchen Betroffenen zu einem Burn-out führen. Dieses Gefühl der Ohnmacht kann aber auch ganz andere Gründe haben, wie Leven erläuterte. Wer das Gefühl hat, dass seine Arbeit keinen Effekt hat – weil sich zum Beispiel nichts verändert, obwohl genau dafür eine Stelle geschaffen wurde –, könne ebenso „ausbrennen“. Ein weiterer Grund für die Belastung könne eine abwertende Kultur sein, etwa wenn der Chef Mitarbeiter öffentlich kränkt.

Müller und ihre Geschäftsführer-Kollegen versuchen das Gegenteil. Die Chefs sitzen in denselben Büros – so merken sie laut Müller schnell, wenn ein Kollege gerade zu viel auf dem Tisch hat. Die Mitarbeiter böten sich dann gegenseitig Hilfe an. „Wenn ich eine Zeit lang 120 Prozent gebe, muss ich sehen, dass ich wieder runterkomme“, meint die Chefin. Auch sie selbst wollte mal runterkommen und nahm sich drei Monate Auszeit. „Angst hatte vorher nicht ich, sondern die Mitarbeiter“, erzählte sie lachend. So viel Vertrauen hat nicht jeder Chef – ein Grund für die Präsenzkultur in vielen Unternehmen, wie Staiger bestätigte. Arbeitszeit sei für viele Chefs ein Indikator, wie loyal ein Beschäftigter ist.

Gärtner Datensysteme haben einen Mitarbeiter aus Bielefeld. Dass er nicht nur im Homeoffice arbeitet, sondern an zwei Tagen pro Woche in Braunschweig ist, findet Müller nicht wichtig, weil sie ihm nicht vertraut. Sondern weil das Zwischenmenschliche eben auch wichtig sei für die Zusammenarbeit. Genauso bemühe sich das Unternehmen, seine Kunden regelmäßig persönlich zu treffen.

Beschämt war Müller einmal von der Aussage einer jungen Bewerberin, sie wolle keine Kinder haben. Die Geschäftsführerin findet es „schrecklich“, dass die Frau das erwähnenswert fand. Schließlich gehörten Kinder zum Leben dazu. Genauso könne ein Mitarbeiter auch mal krank werden. Die Einstellung eines jungen Vaters gefiel der Chefin da viel besser: Der kündigte an, vom Tag der Geburt seines Kindes an werde er erst einmal freinehmen – er formulierte das nicht als Frage. Vier Monate blieb er in Elternzeit. „Wenn man das früh weiß, kann man planen“, findet Müller.

Die Ängste der jungen Frauen sollen in Zukunft immerhin kleiner werden, glaubt man den Vorhersagen der Wissenschaftler. Staiger nannte sie angesichts des Fachkräftemangels eine Geheimwaffe. Von der Oelsnitz ging das noch nicht weit genug: Unternehmen, die keine Frauen einstellen, auch in Führungspositionen, würden zurückfallen. Leitende Positionen gebe es heute aufgrund von zunehmender Projektarbeit immer mehr. „Firmen müssen kämpfen, um die Besten zu begeistern.“ Das sei ein echter Wettbewerbsvorteil. „Wollen wir hoffen, dass keine gesetzgeberische Nachhilfe nötig ist.“

Dass die neue Arbeitswelt viele Menschen umtreibt, zeigten zahlreiche Wortmeldungen der knapp 60 Zuhörer. Ein 50-Jähriger beklagte, dass sich viele Mitarbeiter aufgrund der ausgeprägten Ökonomisierung austauschbar fühlten. „Wir sollten einen Schritt zurückgehen“ – gesetzlich unterstützt. Diese Forderung bekräf- tigten andere Zuhörer mit Applaus. Von der Oelsnitz bestätigte die Entwicklung „Höher, schneller, weiter“. Doch dazu trügen wir alle bei, stellte er klar: Eltern, die an der Schule Druck machen, oder Kunden, die mit einem Klick weiter das günstigere Angebot wählen. Das Phänomen habe die gesamte Gesellschaft erreicht. „Es ist an uns, das zu verändern.“