Braunschweig. Die Gemeinden schrumpfen. Eine junge Pfarrerin und ein Pastoralreferent beschreiben, warum Kirchen dennoch wichtig seien.

Für Sabrina Fröhlich spielte die Kirche lange keine große Rolle. Sie ging nicht in den Gottesdienst, es gab kaum Kontakt zur Kirche. Das war schon in ihrem Elternhaus in Salzgitter-Lebenstedt so. Lediglich im Alter von 14 bis 16 Jahren begleitete sie Konfirmanden.

„In meinem ersten beruflichen Leben“, wie die junge Pfarrerin sagt, „war ich dann Verwaltungswirtin bei der Stadt Salzgitter“. Sie merkte nach der Ausbildung und einem Jahr im Job schnell, dass der Beruf nichts für sie war. Sie entschied für sich: „Da geht noch was.“

An das spätere Theologie-Studium in Marburg und Berlin dachte die damals 19-Jährige noch nicht sofort, als sie am Braunschweig-Kolleg ihr Abitur nachholte. Und doch stellte sie sich schon früh die große Sinnfrage des Lebens. Selbst als sie ihr Studium begann, stand noch nicht fest, dass sie einmal Pfarrerin werden will. Es gab nicht den einen einschneidenden Moment, den „Ruf Gottes“, wie Fröhlich sagt und lacht. Sie merkte damals aber: „Das Religiöse, die Beschäftigung mit den Sinnfragen, kann ich als Pfarrerin selber ausleben und auch weitergeben.“

Fröhlich fand also erst relativ spät zur Kirche – und ist seit drei Monaten Pfarrerin auf Probe in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Georg Calixt in Helmstedt. Dabei sind es nach ihrer Einschätzung gerade die Menschen ab 20 und bis etwa 50 Jahren, die die Kirchen nur sehr punktuell erreichen können. Fröhlich: „Karriere, Heirat, Kinder, Hausbau – das zählt für manchen in dieser Lebensphase mehr. Da ist oft kein Platz und auch keine Zeit für die Kirche.“

Ein Bedeutungsverlust treibt die Kirchen um. Er lässt sich in Zahlen festmachen: Die evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig hat derzeit etwa 342 000 Mitglieder in 329 Gemeinden und zwölf Propsteien. Es gibt 250 aktive Pfarrerinnen und Pfarrer. Das sind beachtliche Zahlen. So viele Mitglieder haben selbst die größten Sportvereine der Republik nicht. Die Sportvereine aber wachsen, die Landeskirche schrumpft — um 5000 bis 6000 Mitglieder pro Jahr. So geht es auch anderen Landeskirchen und den katholischen Bistümern. Es sterben mehr Mitglieder als neue geboren und getauft werden — es gibt aber auch Austritte.

Ein weiteres Merkmal sind die Gottesdienste. Auch hier sind die Zahlen der Landeskirche Braunschweig imposant: Jedes Jahr finden in den Gemeinden insgesamt 19 000 Gottesdienste und mehr als 3000 Kindergottesdienste statt. Die Gottesdienste werden an einem normalen Sonntag von 12 000 Menschen besucht. Das ist etwa die Hälfte des Stadion-Fassungsvermögens des Fußball-Zweitligisten Eintracht Braunschweig. Andererseits sind das nur 3,5 Prozent der Landeskirchen-Mitglieder.

Wir haben es also mit einem schleichenden Übergang von Volkskirche zu etwas Neuem zu tun. Pfarrerin Fröhlich sieht das pragmatisch: „Das ist ein ehrlicher Prozess. Die, die nichts mit Kirche zu tun haben wollen, treten aus.“ Statt Volkskirche also eine Art Freiwilligenkirche.

Schon Martin Luther aber habe sich über leere Kirchen beklagt, sagt Fröhlich. Der Sonntagsgottesdienst ist für die Pfarrerin ein „exklusives Angebot“, denn er spreche nur bestimmte Menschen an. „Die Liturgie setzt viel voraus, wir singen alte Lieder, halten lange Predigten — obwohl viele Menschen gar nicht mehr daran gewohnt sind, so lange zuzuhören.“

Für Fröhlich zählt mehr zur Bedeutung der Kirche als reine Gottesdienst-Besucherzahlen. Das stimmt. Die Landeskirche Braunschweig zum Beispiel ist auch ein bedeutender Arbeitgeber in der Region. Sie zählt rund 3400 Beschäftigte: von der Gemeindesekretärin über den Küster bis hin zu Diakonen und Kirchenmusikern. Hinzu kommen die Pfarrer. Im Bereich der Diakonie sind weitere 3000 Personen beschäftigt. Schließlich gibt es etwa 16 000 Menschen, die sich ehrenamtlich in der Landeskirche engagieren.

Landeskirche und Diakonie betreiben 100 Kitas, außerdem Beratungsstellen, Altenpflegeeinrichtungen und das Krankenhaus Marienstift in Braunschweig. Auch das ist Kirche.

2018 besteht die Landeskirche 450 Jahre. Sie hat unsere Region mit geprägt. Abt Jerusalem zum Beispiel war Initiator des Collegium Carolinum, dem Vorläufer der TU Braunschweig. Das Juleum in Helmstedt entstand als eine der ersten Unis in Deutschland, damit die Pfarrer der Landeskirche gut ausgebildet werden konnten.

Bischöfe setzten die kirchlichen Feiertage in Deutschland durch. Sie hatten Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Diesen Einfluss, den die Kirchen seit Jahrhunderten genossen haben, der schwindet. Sie sind ein Sinnanbieter unter vielen. Manche sehen den Sinn im Sport, in der Musik, beim Feiern in der Disco, im Schützenverein oder im Zusammensein mit der Familie. Die Menschen kommen nicht mehr aus Tradition in die Kirche, wie das Oma und Opa taten. Weil man das eben so macht. Es ist auch nicht mehr klar, dass man Mitglied in der Kirche ist und seine Kirchensteuer zahlt.

Dies können die Kirchen bedauern — oder auch Chancen darin entdecken. Einer, der sich damit auseinandersetzt, ist Martin Wrasmann. Er ist Pastoralreferent in der katholischen Pfarrei St. Altfrid in Gifhorn. Wrasmann ist auch stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim. Sein Schwerpunkt ist die lokale Kirchenentwicklung, also die Frage, wie die katholische Kirche von morgen aussehen kann — und welche Herausforderungen sich ihr stellen.

Wrasmann ist sicher, dass die Kirchen in der Flüchtlingsfrage ihr Profil geschärft haben. Die Willkommenskultur und der Einsatz für die Flüchtlinge hätten gezeigt, dass die Kirchen mobilisieren können, wenn es um die Nöte der Menschen geht. „Es waren vielerorts Christen, die ihre ureigene Berufung gespürt haben und aus dem Anspruch des Evangeliums gehandelt haben. Es zeigt, dass wir eine Kompetenz für Gastfreundschaft besitzen.“

Wrasmann glaubt, dass viele Themen brach liegen. Themen, die Kirchen besetzen könnten. Er denkt an den Umgang mit Demenz oder an die Sorge der Grundversorgung gerade von älteren Menschen im ländlichen Raum.

Der Gifhorner hat eine These. Er sagt: „Die fetten Jahre kommen für die Kirche erst noch.“ Was ihn so sicher macht? „Ich erlebe in den vergangenen Jahren verstärkt eine Sehnsucht der Menschen nach Orientierung — auch einer religiösen.“ Das gelte gerade für junge Menschen, denn: „Das Unterwegssein in sozialen Netzwerken stillt nicht den Hunger nach Beziehung und Halt. Die Kirchen haben hier eine große Chance, nicht im Sinne vereinnahmender Missionsarbeit, sondern mit ihrer Einladung, sich auf grundlegende Fragen einzulassen.“ Für Wrasmann ist dies die Nagelprobe für die Zukunft der Kirchen. Die Kirchen am Scheideweg.

Bei den Katholiken aber ist der Nachwuchs noch rarer als bei den Protestanten. Die Priesterseminare sind leer, Pfarrer geben mal verliebt, mal frustriert, mal ausgebrannt ihren Beruf auf. Warum also können Verheiratete oder Frauen nicht zum Priester geweiht werden? Wrasmann sagt: „Ich glaube, dass wir die Debatte um das kirchliche Amt und die Zulassungsbedingungen verschärft diskutieren müssen. Ich halte dies jedoch nicht für die erste Frage der Gestaltung der Zukunft.“ Für Katholiken und Protestanten, so Wrasmann, sei es wichtiger, eine „Kirche der Beteiligung“ zu schaffen. Alle Getauften sollten sich stärker einbringen können. Das hätte etwas Basisdemokratisches. Wrasmann lässt aber offen, wie weit dies gehen könnte.

Und wie soll der Pfarrer der Zukunft aussehen? Es braucht Menschen, die mehr als andere nach Gott fragen und dem Sinn des Lebens. Die dem anderen dienen, die mehr als andere das Bedürfnis nach Menschlichkeit und auch Gerechtigkeit haben.

Pfarrerin Fröhlich aus Helmstedt sagt dazu: „Jeder kommt mit dem, was er kann.“ Das, was die Kirchen im Angebot haben, hätten sie schon seit 2000 Jahren im Angebot. „Es gilt aber, sich wieder mehr darauf zu besinnen.“ Die Gesellschaft ändere sich so schnell, dass einem schwindelig werde. „Kirchen stehen für Stabilität, Kontinuität.“

Was Menschlichkeit bedeutet, hat Fröhlich sehr eindringlich während des Studiums in Berlin erfahren. Damals arbeitete sie in der Notübernachtung für Frauen. Was sie als „coolen Nebenjob“ bezeichnet, muss hart gewesen sein: Von 18 Uhr abends bis 8 Uhr morgens kümmerte sie sich um Frauen — mehr als 90 Prozent waren Opfer von Gewalt. Es gab Essen, eine Kleiderkammer, Platz zum Schlafen. „Wir haben gewaschen für die Frauen, manchmal haben wir einfach zusammen Tatort geschaut oder geredet.“

Zwar verlieren die Kirchen den ein oder anderen zeitweilig, bei den „Kasualien“, wie sie im Kirchendeutsch heißen, der Taufe, der Konfirmation, der Heirat oder der Beerdigung, kommen sie doch, die Schäflein. Beerdigungen sind Fröhlich besonders wichtig. Da bereitet sie sich intensiv vor, feilt nach dem Gespräch mit den Angehörigen abends an ihrem Computer an ihren Worten über den Verstorbenen.

Eine Beerdigung ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: „Während meiner Predigt hat ein Mann in der Kapelle laut geschluchzt. Er saß irgendwo in der Mitte und war wahrscheinlich ein enger Freund.“ Sie empfand das als sehr tiefen und ehrlichen Moment. „Auf dem Weg nach Hause habe ich im Auto geweint.“ Als sie das erzählt, ist sie für einen kurzen Moment den Tränen nahe.

Fröhlichs Tagesablauf als Pfarrerin könnte unterschiedlicher kaum sein. „Da spielt sich das ganze Leben ab“: Vom Taufgespräch über den Singkreis, dem Konfirmandenunterricht und der Beerdigung ist alles dabei. „Das ist Wahnsinn.“

Eine Eventisierung der Kirche sieht sie kritisch. So etwas hält sie für nicht unbedingt zielführend. Es gibt Bestrebungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), zum Beispiel öfter per Beamer Filmchen oder Fotos an die Kirchenwände zu werfen. Über den Wettstreit der Kirchen mit Freizeit-Anbietern um die Menschen sagt Fröhlich: „Ich kann keine Salsa-Kurse anbieten.“ Das Gemeindeleben sei intakt. „Wenn ein einzelnes Angebot einschläft, dann schläft es ein.“