Schöningen. Wissenschaftler Dr. Jordi Serangeli und Naturschützer Karl-Friedrich Weber stellen eine Idee für die Folgenutzung des Schöninger Tagebaus vor.

Europa ein Stück Natur zurückgeben. Das ist der Kern einer Idee, die der Senckenberg-Wissenschaftler und Grabungsleiter der Fundstelle Schöningen, Dr. Jordi Serangeli, und Karl-Friedrich Weber, Präsident der Stiftung Naturlandschaft, für die Nachnutzung des Tagebau-Feldes Schöningen-Süd entwickelt haben. Ihre Vision: Das rund 500 Hektar große Areal sollte weitgehend sich selbst überlassen und als Lebensraum für einige ursprüngliche Tierarten dienen, die einst in diesen Breitengraden heimisch waren.

Wasserbüffel könnten im ehemaligen Tagebau ausgewildert werden.
Wasserbüffel könnten im ehemaligen Tagebau ausgewildert werden. © Rudolf Flentje | Rudolf Flentje

„Wildpferde, Wisente, Wasserbüffel, Heckrinder, Rentiere, Elche – all das sind Tierarten, von denen wir uns heute nicht mehr vorstellen können, dass sie einst in dieser Region lebten“, zählt Archäologe Serangeli auf. Mit ihnen könnte das Wildnis-Areal nach und nach besiedelt werden. „So könnte sich dort mit den Jahren eine Landschaft entwickeln, die im Verlauf jeder Warmzeit ohne das Eingreifen der Menschen entstehen würde.“

Das „Wildnis-Projekt“ wäre bundesweit einzigartig

Für den Naturschützer Karl-Friedrich Weber steht fest: „Die Pflanzen- und Tierwelt, die heute in der Umgebung existiert, würde sich sehr schnell im ehemaligen Tagebau einfinden. Wir müssten eigentlich nur einen Zaun drum ziehen, und das Projekt könnte starten.“ Wenn in der Senke genügend Biomasse gewachsen sei, geschätzt in fünf bis zehn Jahren, so Weber, könnte das Areal mit ersten kleineren Gruppen der genannten Großsäuger-Arten besiedelt werden.

Ein solches „Wildnis-Projekt“ wäre in dieser Ausdehnung bundesweit einzigartig, betonen Naturschützer Weber und Senckenberg-Wissenschaftler Serangeli, die ihren Vorschlag am Montag in der Umweltburg des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland in Königslutter vorstellten. Es würde der Region die Chance geben, sich im Feld Renaturierung deutschland- und europaweit wissenschaftlich zu vernetzen. Das Ziel sei dabei keineswegs, einen großen Zoo zu schaffen, sondern zu beobachten, „fast wie in der freien Natur“, wie diese Tiere miteinander und mit ihrer Umgebung interagieren, heißt es in ihrem Konzept. Welche Konflikte und welches Potential entstehen? Wie gestalten sie ihre Landschaft? Wie wirkt sich ihr Dasein (Trampeln, Grasen, Düngen) auf die Flora aus? Solchen und anderen Fragen soll in Schöningen nachgegangen werden – unter Einbindung weiterer wissenschaftlicher Institutionen der Umwelt- und Klimaforschung in Deutschland und Europa. Wie wichtig und erfolgreich solche Beobachtungen für eine Welt der Biodiversität seien, zeigten laut Serangeli und Weber jahrzehntelange Forschung und neuerdings auch Wiederauswilderungsprogramme durch zoologische Gärten oder beispielsweise das Projekt „Rewilding Europe“.

Neben der Bedeutung für Forschung, Natur- und Umweltschutz würde das Schöninger „Wildnis“-Projekt „durch sein deutschlandweites Alleinstellungsmerkmal zudem ein großes Identifikation-Potential für die Bevölkerung in der gesamten Region haben und deren Attraktivität steigern“, argumentieren Weber und Serangeli. „Eine sich ständig entwickelnde und verändernde Wildnis mit Pferden, Büffeln oder Elchen direkt am Fuße des Paläon“, meint Weber, wäre auch für das Forschungs- und Erlebniszentrum Paläon ein wirklicher Zugewinn.

Einsatz von Drohnen und Peilsendern zur Tierbeobachtung

Auch Elche könnten in der „Wildnis“ leben.
Auch Elche könnten in der „Wildnis“ leben. © picture-alliance/ dpa/dpaweb | Federico Gambarini

„Besucher könnten vom Rande des ehemaligen Tagebaus aus seltene Tierarten zum Beispiel per Fernglas beobachten, denkbar wäre es auch, begleitete Führungen durch das Areal anzubieten. Mit moderner Technik wie Peilsendern oder Videodrohnen ließen sich die Aufenthaltsorte der verschiedenen Arten im Gelände bestimmen, und ihr Verhalten und Bewegungsmuster live dokumentieren und übertragen“, nennt Weber Beispiele, wie die „Wildnis“ für Besucher erlebbar gemacht werden könnte.

Eine Renaturierung des Tagebaugeländes in ihrem Sinne sehen Serangeli und Weber auch als Beitrag zur „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“, nach deren Zielen sich die Natur in Deutschland bis zum Jahr 2020 auf mindestens zwei Prozent der Landesfläche wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln soll. „Die Deutschen sind Weltmeister im Reisen. Viele Touristen sind bereit, viel Geld auszugeben, um in Afrika Zebras in freier Wildbahn zu sehen“, sagt Serangeli. Das „Wildnis-Projekt“ ganzjährig fast vor der Haustür wäre dazu eine sehr gute Alternative. Es hätte nicht nur Vorbildcharakter für Deutschland und Europa, sondern weltweit. „Wir können im reichem Europa nicht erwarten, dass anderswo auf der Welt Löwen, Tiger, Krokodile, Nashörner und Elefanten gerettet werden, wenn wir nicht bereit sind, bei uns eine fast wilde Natur zuzulassen.“

Zwischen Lappwald-See und dem Elm als Naherholungsgebiet gelegen, könne das Projekt einen weiteren wichtigen Baustein im Tourismuskonzept des Landkreises darstellen. Mit der Lage „direkt am Grünen Band“, der ehemaligen innerdeutschen Grenze, so unterstreicht Naturschützer Weber, wäre es ein Beleg für das Motto: „Grenzen trennen – Natur verbindet“.

Erster Schritt soll eine Machbarkeitsstudie sein

Die nachhaltige Entwicklung der Bergbaufolgelandschaft in den Landkreisen Helmstedt und Börde hätte laut Weber die volle Unterstützung des „Geoparks Harz, Braunschweiger Land, Ostfalen“, der nicht nur ein Instrument sei, um in die Vergangenheit zu schauen, sondern der auch die Zukunft durch nachhaltige Entwicklungen in der Region gestalten wolle.

Von der Idee zu einem realisierbaren Projektplan ist es ein weiter Weg, das ist den beiden Initiatoren bewusst. Ein erster Schritt soll eine Machbarkeitsstudie sein. Die Lokale Aktionsgruppe „Grünes Band im Landkreis Helmstedt“ hat sich bereits dafür ausgesprochen, deren Erarbeitung auf Platz 2 einer Prioritätenliste für 2019 aufzunehmen.

Der Biber könnte sich im ehemaligen Tagebau ansiedeln.
Der Biber könnte sich im ehemaligen Tagebau ansiedeln. © picture alliance/dpa | Patrick Pleul

Die Finanzierung des eigentlichen Projekts könnte dann aus dem Topf des Bundesmodellvorhabens „Unternehmen Revier“ erfolgen. Mit Landrat Gerhard Radeck und Lothar Hagebölling, ehemaliger Staatssekretär und Leiter des Bundespräsidialamtes und heutiger Berater des Regionalmanagements für das Helmstedter Revier, haben Serangeli und Weber bereits Unterstützer für ihren Vorschlag gefunden. Die Initiatoren hoffen, dass noch viele weitere folgen werden.