Gifhorn. Der Historiker Professor Manfred Grieger präsentierte die Ergebnisse seiner Straßennamen-Untersuchung. Am Ende waren viele Zuhörer ratlos.

Die Stadt Gifhorn wollte nicht, dass sich so etwas wie mit der Gotthard-Rattay-Straße wiederholt – die ist vor sechs Jahren umbenannt worden, nachdem Rundschau-Recherchen ergeben hatten, dass der Namensgeber vor seiner Zeit als Gifhorner Stadtdirektor NSDAP-Mitglied und bekennender Antisemit war. Deshalb hatte der Rat Professor Manfred Grieger beauftragt, auch alle anderen Straßennamen zu untersuchen.

Der Historiker präsentierte seine Ergebnisse am Donnerstagabend vor rund 100 Zuhörern im Rathaus – mit einigen Überraschungen. Im Fokus von Griegers Forschung standen alle Namensgeber, die während der NS-Zeit von 1933 bis 1945 lebten – das betrifft in Gifhorn 63 Straßen und Wege beziehungsweise 62 Personen (Konrad Beste kommt gleich zweimal vor). Unter die Lupe sollten ausnahmslos alle genommen werden – „um blinde Flecken zu vermeiden“, so Grieger. Das Argument „den kennen wir doch“ gelte im Vorfeld nicht – und der Historiker sollte damit Recht behalten.

Lücken gab es jedoch durch das Kreisarchiv: Das habe die Einsicht in die Entnazifizierungsakten zweier Personen verwehrt. „Das ist eine politisch kommunikative Torheit“, so Grieger. In Gifhorn gebe es wenig Systematik, was die Straßenbenennung betrifft. Unter den Namensgebern seien Künstler und Tropenmediziner genauso zu finden wie die Politiker. Und nicht nur Letztere seien in der NSDAP gewesen. Und will man in einer Straße wohnen, die nach einem Ingenieur benannt ist, der womöglich mit Zwangsarbeitern V1-Flugbomben bauen ließ?

Gifhorns Straßen sind unter anderem nach elf Politikern, elf Frauen beziehungsweise 25 lokalen Persönlichkeiten benannt, nach elf Widerstandskämpfern, elf Unternehmern beziehungsweise Technikern und nach fünf Künstlern. Von all diesen Menschen seien 13 Mitglieder der NSDAP gewesen – neun lokale Größen und vier Unternehmer.

Als ein Beispiel zeigte Grieger die Mitgliederkarteikarte von Herbert Trautmann, von 1961 bis 1986 Bürgermeister der Stadt. „Das Foto zeigt ihn in SA-Uniform. Das war nicht unbedingt üblich.“ Man könne annehmen, dass er auch zeigen wollte, dass er dazugehört. Die Benennung des Herbert-Trautmann-Platzes sei 2004 erfolgt – „zu dieser Zeit war es aber schon üblich, zu fragen, was jemand in seiner Vorgeschichte gemacht hat“. Weitere Beispiele gefällig? Der ehemalige Stadt-Schulrat Dr. Ulrich Roshop war – wie auch Gamsens Ex-Bürgermeister Christian Olfermann – bereits 1931 in die NSDAP eingetreten.

Die Tatsache, dass Roshop, ein einstiger NSDAP-Kreiskulturwart, nach seiner Pensionierung 1970 Stadtarchivar wurde und dort eine „Neuordnung“ vorgenommen hat, bereite Grieger schon gewisse Sorgen. Er habe auch herausgefunden, dass Roshop in seinem Entnazifizierungsverfahren ordentlich geschummelt hat, um eine bessere Kategorisierung zu erhalten und wieder in den Schuldienst zurückzukommen. Ludwig Kratz, Stadtbürgermeister von 1925 bis 1946, hatte ab 1937 sein braunes Parteibuch, sein späterer Nachfolger und Landrat Wilhelm Thomas ebenfalls. Grieger: „Die NSDAP war kein Taubenzüchterverein! Man brauchte Bürgen, die bescheinigten, dass man im Sinne der Sache handelt.“

Ausführlicher wurde Grieger beim Namen Friedrich Ackmann. Nach dem Gifhorner Ex-Oberkreisdirektor (1951 bis 1968) ist nicht nur eine Straße, sondern auch ein Pflegeheim des DRK benannt. „Er ist erst in die SS eingetreten, dann in die NSDAP, hatte die Mitgliedsnummer 75.241. Er hat früh auf diese Karte gesetzt.“ Und der SS-Untersturmführer war erfolgreich, und zwar als Verwaltungsleiter in der Besatzungsstruktur des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete: „Er war als Gebietskommissar Leiter der Hauptabteilung 1 beim Generalkommissar in Kiew“ (Ukraine). Was er dort genau gemacht hat, sei noch zu untersuchen. Für Grieger ist aber klar: „Er war kein kleiner Fisch!“

Am Ende des Vortrags war die Ratlosigkeit vieler Besucher in den Gesichtern abzulesen: Was macht man jetzt mit diesen Straßennamen? Alle umbenennen? Welche Kriterien setzt man an? „Wir müssen jetzt Strategien entwickeln“, begann Ratsherr Willy Knerr (CDU) die Diskussion, „es sollte keine Entscheidungen über die Köpfe der Menschen hinweg geben.“ Jörg Prilop jedoch warnte davor, auf Anwohner zu hören, die sich lediglich „scheuen, neues Briefpapier anzuschaffen“ (Applaus). Er wies darauf hin, dass auch die Namen von Hindenburg und Carl Diem zu überdenken seien – der eine sei der „Wegbereiter der Diktatur“ gewesen und der andere jemand, „der den Sport immer als Wehrertüchtigung gesehen hat“.

Bürgermeister Matthias Nerlich gab zu, dass der Abend auch für ihn „überraschende Momente“ gehabt habe. „Die Wahrheit ist nicht immer bequem.“