Gifhorn. . Der Interkulturelle Stammtisch lud Stefan Schmidt ins Mehrgenerationenhaus ein. Thomas Bollmann zeigte, wie Integration im Kreis Gifhorn gelingt

Eine Woche Gefängnis kurz nach der Landung und fünf Jahre Gerichtsprozess wegen bandenmäßiger Beihilfe zur illegalen Einreise, an dessen Ende eine jahrelange Haftstrafe drohte – was Stefan Schmidt durchlebt hat, weil er vor 14 Jahren 37 Menschen in Seenot rettete und sich über das Verbot, den Hafen von Sizilien mit den Flüchtlingen an Bord anzufahren, hinwegsetzte, berichtete der Ex-Kapitän der Cap Anamur am Samstag im Mehrgenerationenhaus Omnibus in Gifhorn.

Und es wollten viele erfahren, was er zu erzählen hatte. Zu seinem Vortrag musste Leiter und Hausherr Eckart Schulte diverse Stühle rankarren, damit die Zuhörer Platz fanden – und selbst die reichten am Ende nicht aus. „Ich bin überwältigt, dass so viele da sind“, sagte er baff.

Vortrag des Kapitäns der „Kap Anamur“ in Gifhorn

Stefan Schmidt rettete 2004 als Kapitän der Cap Anamur 37 Afrikaner vor dem Ertrinken. Was dann folgte, berichtete er im Mehrgenerationenhaus im Georgshof in Gifhorn.
Stefan Schmidt rettete 2004 als Kapitän der Cap Anamur 37 Afrikaner vor dem Ertrinken. Was dann folgte, berichtete er im Mehrgenerationenhaus im Georgshof in Gifhorn. © BZV | Daniela König
Thomas Bollmann rief kürzlich den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben. Im Mehrgenerationenhaus im Georgshof wird derzeit seine Wanderausstellung
Thomas Bollmann rief kürzlich den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben. Im Mehrgenerationenhaus im Georgshof wird derzeit seine Wanderausstellung "Angekommen gezeigt". Viele Flüchtlinge kamen. © BZV | Daniela König
Stefan Schmidt berichtete beim interkulturellen Stammtisch im Mehrgenerationenhaus im Georgshof in Gifhorn. 
Stefan Schmidt berichtete beim interkulturellen Stammtisch im Mehrgenerationenhaus im Georgshof in Gifhorn.  © BZV | Daniela König
Sara Sriwel geht seit drei Jahren auf die IGS Sassenburg. Sie berichtete von ihrer Flucht aus Damaskus.
Sara Sriwel geht seit drei Jahren auf die IGS Sassenburg. Sie berichtete von ihrer Flucht aus Damaskus. © BZV | Daniela König
Teilnehmer der Veranstaltung des Interkulturellen Stammtisches bekennen sich für die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer und protestieren gegen die Abschreckunspolik der EU, die schon tausende Flüchtlinge mit ihrem Leben bezahlen mussten. Foto: Thomas Bollmann
Teilnehmer der Veranstaltung des Interkulturellen Stammtisches bekennen sich für die Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer und protestieren gegen die Abschreckunspolik der EU, die schon tausende Flüchtlinge mit ihrem Leben bezahlen mussten. Foto: Thomas Bollmann © Privat | Thomas Bollmann
Thomas Bollmann rief kürzlich den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben. Im Mehrgenerationenhaus im Georgshof wird derzeit seine Wanderausstellung
Thomas Bollmann rief kürzlich den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben. Im Mehrgenerationenhaus im Georgshof wird derzeit seine Wanderausstellung "Angekommen gezeigt". Viele Flüchtlinge kamen. © BZV | Daniela König
Thomas Bollmann rief kürzlich den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben. Im Mehrgenerationenhaus im Georgshof wird derzeit seine Wanderausstellung
Thomas Bollmann rief kürzlich den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben. Im Mehrgenerationenhaus im Georgshof wird derzeit seine Wanderausstellung "Angekommen gezeigt". Viele Flüchtlinge kamen. © BZV | Daniela König
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Schmidts Kommen hätte zu einem besseren Zeitpunkt nicht sein können – wo doch die beiden deutschen Rettungsschiffe „Sea-Watch 3“ und „Professor Albrecht Penck“ von der Organisation „Sea-Eye“ mit insgesamt 49 Flüchtlingen seit zwei Wochen den Hafen von Malta noch immer nicht anfahren dürfen. Eingeladen zum Vortrag hatte Thomas Bollmann. Er hat vor zehn Wochen den Interkulturellen Stammtisch in Gifhorn ins Leben gerufen.

Nach Seenotrettung kommen Kapitän und zwei Kollegen ins Gefängnis

Schmidt erörterte, wie er 2004 mit dem umgebauten Rettungs- und Versorgungsschiff „Cap Anamur“ für die Organisation „Komitee Cap Anamur“ aufbrach – mit der Idee, „überall dorthin zu fahren, wo Not ist und wo niemand hin will“. Es gab ein Krankenhaus an Deck, containerweise Medikamente und jede Menge Wasservorräte.

Bei einem außerplanmäßigen Halt vor Malta entdeckte er ein Schiff mit 37 Afrikanern, die dicht an dicht auf einem defekten Schlauchboot hockten, das zu sinken drohte. Weil der Hafen von Lampedusa zu klein war, steuerte die Crew Porto Empedocle an. Auf Sizilien erlaubten ihm die Hafenbehörden zunächst, die Flüchtlinge an Land zu bringen. Als sich das Schiff auf den Weg machte, verwehrte man ihr dies an der Seegrenze dann aber plötzlich doch. „Es wurde nie ein Grund genannt. Dabei habe ich alle Regeln eingehalten und der Wache eine Woche vorher angekündigt, dass wir kommen“, erzählte der Lübecker. Der Fall schlug hohe Wellen: Die Medien kamen an Bord, berichteten weltweit darüber. Viele Sizilianer und Organisationen kamen an Bord und steuerten Hilfsgüter bei. Nachdem sich die humanitäre Situation auf der Cap Anamur zuzuspitzen drohte, berief sich Schmidt auf das Seenotfallrecht und lief ohne Erlaubnis in den Hafen ein.

36 der 37 Flüchtlinge wurden nach der Landung gleich abgeschoben, das Hilfsschiff beschlagnahmt. Schmidt selbst, der Vorsitzende Elias Bierdel und der Erste Offizier des Schiffs, Wladimir Daschkewitschund, landeten für eine Woche im Gefängnis. Es folgte ein fünf Jahre währender Gerichtsprozess. Die Anklage: Bandenmäßige Beihilfe zu illegalen Einreise. Es drohte jahrelange Haft. Die Verteidigung samt wöchentlicher Reisen kostete den Verein, der sich komplett aus Spenden finanziert, eine Million Euro. „Dabei war das Geld für die Armen gedacht.“

Stefan Schmidt kritisiert Umgang der Behörden

Im Oktober 2009 erst erfolgte der Freispruch. „In Italien wurden wir als Helden gefeiert, in Deutschland ging etwas Merkwürdiges vor sich“, erinnert sich Schmidt, wie ein Fernsehsender die Rettung als Inszenierung unterstellte.

2007 gehörte Schmidt zu den Mitbegründern des Vereins Borderline Europe. Heute hält der Lübecker Vorträge in Schulen und berichtete nicht nur deutschlandweit, sondern auch in der Schweiz und in Dänemark über seine Erfahrungen. Seit 2011 ist er gewählter Flüchtlingsbeauftragter von Schleswig-Holstein. Für sein geleistetes Engagement erhielt Schmidt nach seinem Vortrag in Gifhorn von einem Flüchtling prompt ein selbst gemaltes Porträt, das ihn als Kapitän zeigte.

Schmidt kritisierte den Umgang mit den Rettern und den Flüchtlingen auf den Meeren vonseiten der EU – und schlug damit die Brücke zu aktuellen Ereignissen wie den Fall des „Lifeline“-Kapitäns Claus-Peter Reisch. Auf die Frage eines Zuhörers, wie ein solcher Umgang mit dem Internationalen Seerecht zusammenpasse, nach dem Menschen in Not in Sicherheit gebracht werden müssten, sagte Schmidt: „Es ist schlimm, wie Behörden mit Gesetzen umgehen. Die Gesetze werden so gedreht, wie es passt.“

Ein Lichtblick seien für ihn Bewegungen wie die Seebrücke. Für den Bezirk Braunschweig war Hanna Leister in das Mehrgenerationenhaus gekommen. Sie berichtete, dass sich die Stadt Braunschweig zwar als Sicherer Hafen bereit erklärt, in Seenot geraten Flüchtlinge im Rahmen ihrer Möglichkeiten aufzunehmen. Doch noch steht die Zustimmung der Bundesregierung aus.

Die Seebrücke setzt auch Demos gegen rechte Hetze um und kämpft für Solidarität statt Abschottung – genau wie die Naturfreundejugend aus Braunschweig. Jugendbildungsreferent Jan Kiegeland berichtete über das Projekt „Unter Freunden“, das den Niedersächsischen Integrationspreis 2018 gewonnen hat. Auch das Fortsetzungsprojekt „Leben. Bewegen. Miteinander“ soll den Flüchtlingen Aktivitäten wie Schwimmen, Basketballspielen, Segeln und Rap-Kursen ermöglichen. Wichtig seien dabei auch Patenschaften mit Bürgern, die in etwa das Alter der Flüchtlinge haben.

Bollmann: Mehr Austausch zwischen Flüchtlingen und Einheimischen

Wie gut die Integration von Geflüchteten im Landkreis Gifhorn funktioniert, machte Bollmann anhand seiner Wanderausstellung „Angekommen“ zu Beginn des Programms, das von Flüchtlingen moderiert wurde, bei einem Rundgang deutlich. Zwischen 120 und 130 Fotos, die er bei Besuchen von Flüchtlingen und gemeinsamen Aktivitäten gemacht hat, hängen noch bis 9. Februar im Georgshof. Sie zeigen etwa den Schwimmkurs in der Allerwelle, einen Besuch auf dem Ponyhof in Neudorf-Platendorf, die kickende Integrationsmannschaft in Ehra-Lessien, Sprachkurse im Café Aller oder vom Fahrradfahren. „Flüchtlinge bekommen hier ein Gesicht. Sie sind keine Welle oder Lawine, werden nicht als Objekte degradiert.“

Vor dem Hintergrund, dass die EU derzeit die Schotten dicht macht, zeigte Bollmann auch sein Projekt „Shame“. Mit einem Bild, das die beiden Schiffe von „Sea-Eye“ mit dem Banner „Shame on you, Europe“, zeigt, ist Bollmann durch viele Städte Deutschlands getourt und hat Menschen animiert, mit der Leinwand „Gesicht zu zeigen“. Das ließen sich auch einige Zuhörer nach der Diskussionsrunde mit den Teilnehmern nicht nehmen – und unterstützten die Aktion mit einem gemeinsamen Foto.