Braunschweig. Mit Jürgen Hesselbach von Interview zu Interview – wir liefern hier die Studie eines Wunsch-Gesprächspartners.

Das erste Interview führten wir noch in seinem Maschinenbau-Quartier am Langen Kamp. Gerade eben – 2005 – war Jürgen Hesselbach in einer Kampfabstimmung gegen seinen Vorgänger, den Physiker Jochen Litterst, zum Präsidenten der TU Braunschweig gewählt worden. Wohl selten ist ein Programm, das der Neue generalstabsmäßig vorbereitet hatte und wie später so oft minutiös in Statistiken, Charts und Thesenpapieren vorlegte, so konsequent, fast radikal umgesetzt worden.

Hesselbach hatte zwölf Jahre als Präsident – und er nutzte sie zum totalen Um- und Ausbau der Carolo Wilhelmina. Das Strickmuster entspricht der Logik des Maschinenbau-Ingenieurs. Eine Maschine kann nur erfolgreich laufen, wenn sie keine Fehlkonstruktionen aufweist, Mechanik und Wirkungsgrad stimmen, ständig Kraftstoff fließt und Ballast abgeworfen wird. Der Antrieb muss stets kraftvoll sein, die Struktur dabei schlank, die Leistung exzellent. Schließlich will man vorne mitfahren.

So redet Hesselbach nicht, aber so handelt er.

Wenn er, der gebürtige Schwabe, „vom Bosch“ und „vom Daimler“ spricht, den Ikonen südwestdeutscher Wertarbeit, klingt nicht nur Anerkennung mit, sondern Zuneigung. Warum Baden-Württemberg das deutsche Musterländle ist, erklärt Hesselbach schon im ersten Interview in unnachahmlicher Manier: harte Landschaft, karger Boden, gottesfürchtige Menschen, die nicht im Überfluss schwelgen und lustwandeln, sondern nach einer protestantischen Arbeitsethik froh und unermüdlich schaffen.

Dies ist das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus, der schöpferischen Zerstörung, um immerzu Neues zu schaffen. Aber, mit Verlaub, was wär’ das denn alles ohne den deutschen Ingenieur? Der baut dir aus Büroklammern noch eine Maschine. Er meidet oder bejammert Probleme nicht, nein, er kann ohne sie nicht leben. Fertige Lösungen sind ihm im Grunde genommen ein Graus.

Verlieren wir jetzt noch ein Wort über Mathematik, dann ist das Psychogramm perfekt. Letztlich ist alles nur eine Frage der Zahlen, der präzisen Formeln, die den Ingenieur in die Lage versetzen, Entscheidungen zu treffen. Es ist eine Sprache, die kein Lamento kennt, keine Taktik, keine Ausflüchte. Mathematik sagt ja oder nein, 0 oder 1, stimmt oder stimmt nicht.

Also Hesselbach. Und dann kniet er sich hinein, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt, die Gesichtsfarbe unter Hochdruck mitunter ins Rötliche changierend. „Der VW“, das sagt der Schwabe nicht. Wenn Hesselbach von „Volkswagen“ spricht, schwingt lange Zeit Distanz mit. Doch dann führt er die TU und den Automobil-Konzern so eng zusammen, wie man das vorher nicht für möglich gehalten hätte. Das Niedersächsische Forschungszentrum Fahrzeugtechnik (NFF) ist da ganz sein Credo: Mach das, was du am besten kannst – und gib’ alles dafür.

Stärken stärken, mit starken Partnern gemeinsam Strukturen schaffen. Wie oft hat er das gesagt? Allein das elektronische Archiv unserer Zeitung weist rund 1000 Artikel mit dem Stichwort „Hesselbach“ auf. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass wir den Mann zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen konnten – und immer ein Zitat erhielten, das an Deutlichkeit und Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ. Hesselbach war natürlich auch der Wunsch-Gesprächspartner beim „Orakel“ unserer Zeitung. So schön präzise kann kaum einer über Zukunft sprechen.

DLR, HZI, PTB, Fraunhofer, Leibniz, Helmholtz – mit denen musst du als TU was machen. Luft- und Raumfahrttechnik am Forschungsflughafen, Braunschweigs Technologie-Trumpf, auf den Hesselbach nichts kommen lässt und den er maßgeblich nach vorn gebracht hat. Übrigens neben der schwäbischen Tüchtigkeit auch immer mit ordentlich Glück: Als das Kapital sich weltweit verzockt, die Banken und Finanzmärkte am Abgrund stehen, werden in Deutschland milliardenschwere Konjunkturpakete aufgelegt. Die TU schlägt unter Hesselbachs Führung richtig zu. Ein Forschungsneubau nach dem anderen entsteht.

Wenn zwei von diesem Kaliber sich treffen, dann geht es richtig los. Zum Beispiel Rudi Balling, der umtriebige frühere Chef des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung. Balling ließ sich für Mathematik entflammen, träumte davon, mit der Sprache der Zahlen weit in die Zukunft rechnen zu können. So könnte man nur mit Zahlen die Muster des Erbguts, der Krankheiten und der Proteine enträtseln und kombinieren. Im Idealfall ersetzen mächtige Computer die Bio-Reaktoren und Petrischalen. So entsteht das BRICS, das Zentrum für Systembiologie.

Oder nehmen wir Gert Hoffmann, noch so ein Alpha-Mann. Hesselbach und der frühere Braunschweiger Oberbürgermeister waren keine Freunde, doch sie schätzten jeweils die Macherqualitäten des anderen. Ihren größten gemeinsamen Auftritt hatten sie mit Braunschweigs größtem Coup: Stadt der Wissenschaft 2007! Vor Aachen und Freiburg. Davon spricht man noch heute gern. Und von einer Forschungsregion um den TU-Präsidenten herum, die sich mit insgesamt rund 30 führenden Institutionen in der Forscherdichte und beim Forschungsanteil an der Wirtschaftskraft in Europa an die Spitze gesetzt hat.

Und die Schwächen? Muss man schwächen. Am besten mit Statistiken, Charts und Thesenpapieren. Minutiös vorbereitet. Wieder im Interview, etwas später. Rankings, Vergleiche der niedersächsischen Hochschulen, brutal aufbereitet. Wir titeln damals: „Ein schonungsloser Vergleich.“ Da liegen sie auf dem Tisch, bereit, geopfert zu werden: Germanistik, Geschichte, Physik. Schlussgruppe! Das klingt schon wie ein Todesurteil.

Als Hesselbach ausgerechnet bei der Physik ernst machen und sie im Zusammenhang mit der Niedersächsischen Technischen Hochschule (NTH) nach Hannover ausliefern will, kriegt er mal richtig Gegenwind. Die Stadt der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB), Braunschweig, ohne eigene Physik an der TU? Ein Unding, erklärt der damalige PTB-Präsident Ernst O. Göbel in unserer Zeitung. Physik-Professor Karl-Heinz Glaßmacher, einer der Väter der grandiosen Rosetta-Erfolgsstory mit Landung auf dem Kometen, sucht offen den Konflikt, spricht von „Plattmachen der Braunschweiger Physik“.

Am Ende bleibt die Kirche im Dorf, die Physik in Braunschweig, wozu auch die Halbherzigkeit in Hannover in Sachen NTH maßgeblich beitrug. Hesselbach hatte die Niedersachsen-TU fast als einziger ernst genommen und war sogar bereit gewesen, dafür auch Braunschweiger Interessen zu opfern. Ihm schwebten endlich Siege und Forschungsmillionen in der Exzellenzinitiative des Bundesforschungsministeriums vor, während die Kirchturmbewahrer in Hannover allein schon bei dem Gedanken an eine mögliche Braunschweiger Dominanz in Schreckstarre verfielen.

Die NTH blieb Episode. Von da an hieß es wieder: Braunschweig first. Und: bauen, gründen, einweihen.

In Hesselbachs Amtszeit wurde mindestens eine Viertelmilliarde Euro verbaut. Die Studentenzahl stieg von 13.500 auf 20.000. Auch die überfällige Sanierung von Altgebäuden mit einem Aufwand im dreistelligen Millionenbereich läuft oder ist auf den Weg gebracht. Nach zwölf Jahren sagt Hesselbach in einem seiner letzten Interviews vor dem Ausscheiden: „Ich kann meine eigenen Grußworte nicht mehr hören.“

„Er war oft nicht zuhause“, sagt seine Frau Ulrike und spielt auf das ungeheure Arbeitspensum des Präsidenten an. Doch wenn, am Feierabend, am Wochenende, in den Ferien – dann wird im heimischen Haus und Garten in Wolfenbüttel, im Urlaub an skandinavischen Seen oder im Ferienhaus im Allgäu ein anderer Jürgen Hesselbach sichtbar.

Die Kinder Jan (41), Julia (37), Johanne (32) und Jutta (30) wachsen in einem behüteten Elternhaus auf, in dem ein aufgeschlossenes Verhältnis zu Musik, Bildung und Mathematik gepflegt wird. Alle drei Töchter studieren Maschinenbau – und sind Diplom-Ingenieurinnen. Der Sohn ist Diplom-Pädagoge. Ulrike Hesselbach hält den Laden zusammen, eine kluge, warmherzige Frau, ehrenamtlich engagiert als Vorsitzende des Kinderschutzbundes in Wolfenbüttel, viele Jahre im Kirchenvorstand, bis 2013 Mitglied der Landessynode. Vier Enkel sind schon da, jetzt freut man sich einfach auf mehr gemeinsame Zeit.

Die TU Braunschweig ohne Jürgen Hesselbach? Nicht ganz, im Maschinenbau-Quartier am Langen Kamp wird er einen Fuß in der Tür behalten.

Doch Ulrike Hesselbach verrät uns ein weiteres Projekt, das den Gatten jetzt ganz in Beschlag nehmen wird: „Er will den Garten perfektionieren.“ Nun ist es heraus: Das ist – neben alten Büchern über Technik und Geschichte – sein großes Hobby. Rosen! Der Ex-Präsident will jetzt Gemüse anbauen. Wir vermuten, mit der Präzision des Ingenieurs. Dies scheint ein Widerspruch zu sein, muss es aber nicht. Nur Geduld müsste man wohl haben.