Braunschweig. Kolumnistin Ursula Hellert über Psychologie und Pädagogik, Erziehung und freie Schulen – und warum die Nazis etwas dagegen hatten.

Diktatoren mögen keine Individuen. Das war immer so, das ist so und das wird so bleiben. Autokratische Systeme, also solche, die eher Diktatur „light“ bevorzugen, mögen diese auch nicht wirklich. Man könnte sagen, sie richten raffinierte unsichtbare Zäune auf, innerhalb derer die Menschen Individualität spielen dürfen. Oder genauer ausgedrückt: Die Zäune sollen sicherstellen, dass die Menschen nur solches Wissen erwerben und solche Möglichkeiten erfahren können, die sie auf die „richtigen“, zu dem herrschenden System passenden Gedanken, Absichten und Taten bringen. Glücklicherweise klappt das nicht immer und nicht bei allen.

Die Erinnerung an den Hass der Diktatoren auf Individuen sprang mir ins Hirn, als ich mich vor ein paar Wochen aus anderem Anlass mit William Stern beschäftigte. William Stern ist der deutsche Psychologe, der den weltweit heute noch gebräuchlichen IQ (Intelligenzquotienten) „erfand“, also die Darstellung von geistigem Leistungsvermögen in Relation zum Durchschnitt der Bevölkerung gleichen Alters. Seit William Stern – sozusagen seit dem Jahr 1912 – sagen wir Sätze wie „Hans Peter oder Franziska haben einen IQ von 122“.

William Stern begründete die differentielle Psychologie

Diese Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende hatte eine ganz spezifische Prägung. Überall brach sich der Gedanke Bahn, wie unterschiedlich Menschen wahrnehmen, denken und ganz einfach sind. Individualität war eine positive Losung der Zeit. So auch die von William Stern begründete sogenannte differentielle Psychologie. Sie beschäftigt sich mit der Frage nach den Unterschieden zwischen Menschen bezüglich ihrer Persönlichkeitsmerkmale und ihrem Verhalten. Ihre Forschung will vor allem ergründen, wie es zu diesen Unterschieden im Zusammenspiel von Vererbung und sozialen Einflüssen kommt.

Die Unterschiede der Kinder, Unterschiede in ihren Begabungen, ihren Voraussetzungen und ihren Persönlichkeitsmerkmalen, wurden anerkannt und sollten entsprechende Förderung erhalten.
Ursula Hellert - über die reformpädagogischen Konzepte

Und jetzt machen wir den Sprung in die Pädagogik, in die schulische Bildung. Was liegt nahe in einer Zeit, die so deutlich auf die Individualität fokussiert ist? Es ist genau die Zeit, in der auch in der Schulbildung Vielfalt zum Tragen kommt. Es ist genau die Zeit, in der die sogenannte Reformpädagogik zur Blüte kommt und mit ihr die Gründung von Schulen in freier Trägerschaft nach diesen unterschiedlichen reformpädagogischen Modellen.

Deutschland war bedeutend für die Entwicklung der Pädogogik

1919 wurde in Deutschland das erste Montessori-Kinderhaus in Berlin gegründet und 1923 die erste Montessori-Schule in Jena. 1917 wurde in Amerika in einer Schule die Dalton-Plan-Arbeit eingeführt. In Deutschland gibt es diese schulische Ausrichtung eher selten. Es waren hier die sogenannten Jena-Plan-Schulen, die einen etwas ähnlichen Ansatz verwirklichten. 1927 machte Professor Petersen in Zusammenarbeit mit seiner Frau in Jena seine Universitätsschule als Labor der Schulpädagogik bekannt und schnell berühmt. Von dort aus wurden weitere Jena-Plan-Schulen gegründet. 1919 wurde durch Rudolf Steiner die erste Waldorfschule in Stuttgart gegründet.

Bei allen Unterschieden hatten diese reformpädagogischen Konzepte eines gemeinsam. Die Unterschiede der Kinder, Unterschiede in ihren Begabungen, ihren Voraussetzungen und ihren Persönlichkeitsmerkmalen, wurden anerkannt und sollten entsprechende Förderung erhalten. Nicht für alle das Gleiche, sondern für jeden das Angemessene. So kann man es vielleicht zusammenfassen. Zu dieser Zeit war Deutschland weltweit bedeutend für die Entwicklungen in der Psychologie und der Pädagogik.

Die Nationalsozialisten schlossen die freien Schulen in Deutschland

Aber dann kam das Jahr 1933. Und jetzt kann man die Geschichte kurzmachen. Wie sichert eine Diktatur sich dauerhafte Gefolgschaft? Sie schaltet die Erziehung und die Bildung aller Kinder von Geburt an gleich. Und das war das Ende dieser freien Schulen mit ihren individuellen Konzepten. Sie wurden schlicht und einfach geschlossen und die entsprechende Pädagogik wurde verboten.

Merke und schreibe es – wenn nötig – tausend und abertausend Mal an die Häuserwände: Diktatoren mögen keine Individuen. Das war so und das ist so!

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