Braunschweig. Schon der Start am Landgericht Braunschweig verzögerte sich am Freitag, dann lehnte ein Verteidiger eine Schöffin ab – mit Konsequenzen.
Das ist der Prozess des Jahres: Durch die Objektive der vielen Kameras und die Augen von Dutzenden Journalisten will am Freitag in Braunschweig die ganze Welt einen Blick werfen auf Christian B.. Der 47-Jährige gilt als der Hauptverdächtige im Fall Madeleine „Maddie“ McCann, die 2007 in Portugal verschwand.
B. soll sie getötet haben, glaubt die Staatsanwaltschaft Braunschweig. Die Ermittlungen laufen noch, um den Fall Maddie geht es am Freitag vor dem Landgericht nicht. B. muss sich verantworten wegen verschiedener schwerer Sexualstraftaten, insbesondere Vergewaltigungen, die er in Portugal begangen haben soll. Das Medien- und Zuschauerinteresse an dem Prozess vor dem Landgericht Braunschweig ist trotzdem riesig.
Erster Prozesstag gegen Christian B. in Braunschweig dauert nur wenige Minuten
Das Gerichtsgebäude ist Hochsicherheitszone. Das Einlassprozedere dauert quälend lang. Mit 40 Minuten Verzögerung beginnt die Verhandlung. Und dann gerät der Prozess sofort ins Stocken. Ein Befangenheitsantrag der Verteidigung deckt einen Skandal um eine Schöffin auf. Und Christian B. steht plötzlich gar nicht mehr im Mittelpunkt.
Prozesskundige hatten für den ersten Verhandlungstag ohnehin erwartet, dass die Verteidigung mit verschiedenen Anträgen sozusagen Sand in die Prozessmaschinerie werfen würde. Aber damit hatte niemand gerechnet.
Für Britta T.-D. ist es ihr erster Diensttag als Schöffin. Ganz zu Beginn der Verhandlung muss sie deshalb vereidigt werden. Nach Aufforderung der Vorsitzenden Richterin Uta Engemann spricht sie die Eidesformel, sogar – was längst nicht alle neuen Schöffen machen – samt religiöser Beteuerungsformel „So wahr mir Gott helfe“. Ihr tun es zwei weitere Schöffen gleich.
Fotostrecke: Erster Prozesstag gegen Christian B. in Braunschweig
Engemann will danach die Verhandlung mit der Abfrage der Personalien von Christian B. fortsetzen. Schon grätscht Dr. Friedrich Fülscher – einer von vier Anwälten aus dem Verteidigerteam des Angeklagten – dazwischen: Er stellt einen Befangenheitsantrag gegen Britta T.-D., und der hat es in sich: Sie hatte offenbar auf X (ehemals Twitter) in der Vergangenheit Mordaufrufe geschrieben, gegen den brasilianischen Ex-Präsidenten Bolsonaro („Tötet den Teufel“). Dies belegt die Verteidigung mit Ausdrucken vom Profil der Schöffin.
Eine halbe Stunde zieht sich die Kammer zur Beratung zurück, auch die Schöffin ist dabei. Nach der Rückkehr in den Saal wird die Staatsanwaltschaft nach ihrer Meinung gefragt.
Oberstaatsanwältin und Anklageverfasserin Uta Lindemann teilt die Sorgen bezüglich einer Befangenheit. Sie lehnt die Schöffin ab. „Die Äußerungen stehen außerhalb unserer Rechtsordnung“, sagt sie. Ein Aufruf zum Mord und Totschlag sei etwas, „was wir hier nicht dulden“. Und mehr noch: Sie kündigt an, dass nun Ermittlungen gegen Britta T.-D. wegen des Mordaufrufs eingeleitet werden.
Der Prozess wird auf nächsten Freitag (23. Februar) vertagt. Eine Zeitung rechnet aus: Gerade einmal neun Minuten wurde verhandelt. Nur kurz zuvor hatte der Angeklagte Christian B. den Saal betreten – bekleidet mit einem fliederfarbenen Hemd mit weißen Streifen und einem hellgrauen Sakko. Der dunkelblonde, schlanke Mann verdeckte nicht sein Gesicht und wirkte gefasst.
Großer Andrang am Morgen: Prozessbeginn in Braunschweig verzögerte sich
Schon früh am Morgen war einiges am Landgericht in Braunschweig los: Ein halbes Dutzend Kamerateams hatte sich postiert, es sind deutsche wie auch englischsprachige Medienvertreter vor Ort. So wurden die kurz vor 8 Uhr eintreffenden Anwälte von Christian B. abgepasst – auch am Hintereingang warteten Fotografen auf den Gefangenentransporter. Vor der Tür des Landgerichts bildete sich eine Traube.
Für 9 Uhr war der Prozessbeginn vorgesehen. Der Andrang an Presse sowie Zuschauerinnen und Zuschauern war jedoch so groß, dass zu diesem Zeitpunkt erst ein Drittel der Interessierten im Saal war. Sie alle mussten die Sicherheitsschleusen am Eingang und vor dem Saal passieren. Der Start verzögerte sich also. Die letzten Zuschauerinnen und Zuschauer kamen gegen 9.40 Uhr in den Gerichtssaal. Der Raum ist mit einer Glasscheibe abgetrennt – davor drängelten sich Kamerateams, um das beste Bild von dem Angeklagten zu bekommen.
Christian B. in Braunschweig vor Gericht – so lautet die Anklage
In einer mehr als 100 Seiten umfassenden Anklage wirft die Strafverfolgungsbehörde Christian B. drei schwere Vergewaltigungen und zwei Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern vor. Der Anklageschrift, heißt es seitens der Staatsanwaltschaft, seien „mehrjährige, sehr intensive und aufwendige Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern, insbesondere durch das Bundeskriminalamt, vorausgegangen“.
Das sind die Anklagepunkte:
- Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen Dezember 2000 und April 2006 soll Christian B. eine unbekannt gebliebene, zwischen 70 und 80 Jahre alte Frau in ihrer Ferienwohnung in Portugal im Schlafzimmer überrascht, gefesselt und vergewaltigt haben. Danach soll der maskierte Angeschuldigte mehrfach mit einer Peitsche auf sein Opfer eingeschlagen haben. Das gesamte Geschehen soll er mit einer Videokamera aufgezeichnet haben. Zeugen aus dem Bekanntenkreis des Angeklagten berichteten später, die Vergewaltigungsszene auf einem Videofilm aus dem Haus des Angeklagten entdeckt zu haben.
- Im selben Zeitraum soll Christian B. ein ebenfalls unbekannt gebliebenes, deutschsprachiges Mädchen im Alter von mindestens 14 Jahren in seinem Haus in Praia da Luz in Portugal nackt an einen Holzpfahl im Wohnzimmer gefesselt, mit einer Peitsche geschlagen und die Jugendliche brutal zum Oralverkehr gezwungen haben. Auch dieser Anklagepunkt stützt sich auf Zeugenaussagen über eine Videoaufzeichnung des Tatgeschehens.
- Am 16. Juni 2004 gegen 3 Uhr nachts soll Christian B. in Praia da Rocha in Portugal maskiert über den Balkon in das Appartement einer damals 20-jährigen Frau aus Irland eingestiegen sein, die schlafende Frau unter Vorhalt eines Messers geweckt und brutal vergewaltigt haben. Anschließend, heißt es weiter in der Anklage, habe er die Frau an einen Tisch gefesselt, sie geknebelt und erneut vergewaltigt. Auch bei dieser Tat soll er sein Opfer mit einer mitgebrachten Peitsche auf dem Rücken ausgepeitscht und schließlich gewaltsam zum Oralverkehr gezwungen haben. Das Verbrechen soll er auch in diesem Fall mit einer Videokamera gefilmt haben.
- Am 7. April 2007 – also knapp einen Monat vor Maddies Verschwinden aus einem Hotelzimmer am 3. Mai 2007 – soll Christian B. nachmittags an einem Strandabschnitt von Salema im Distrikt Faro in Portugal nur mit Schuhen bekleidet und ansonsten nackt einem dort an den Felsen spielenden zehnjährigen deutschen Mädchen hinter einem Felsloch aufgelauert haben. Laut Anklage packte er das Kind am Handgelenk, begann zu masturbieren und forderte es grinsend zum Zuschauen auf. Nach dem Samenerguss soll er das Kind losgelassen haben und geflüchtet sein.
- Am 11. Juni 2017 soll der Angeklagte nachts gegen 2 Uhr während des sogenannten Schneckenfestes auf einem Spielplatz in Bartolomeu de Messines in Portugal Blickkontakt zu einem 11-jährigen portugiesischen Mädchen aufgenommen haben, das auf einer Schaukel saß. Dabei soll er seine Hose und Unterhose heruntergezogen und masturbiert haben, bis das erschrockene Mädchen Hilfe suchend zu ihrem Vater lief. Christian B. wurde noch vor Ort von der portugiesischen Polizei festgenommen.
Verteidiger von Cristian B.: „Wir wollen Freisprüche“
Derzeit verbüßt Christian B. noch die siebenjährige Haftstrafe wegen der Vergewaltigung einer 72 Jahre alten US-Amerikanerin im Jahr 2005 im portugiesischen Praia da Luz – dem Ferienort an der Algarve, in dem knapp zwei Jahre später Maddie verschwand. Mehr als zwei Drittel dieser Strafe ist bereits vollstreckt. Auch in dem Vergewaltigungsprozess im Dezember 2019 vor dem Braunschweiger Landgericht hatte sich Christian B. für unschuldig erklärt. Nicht zuletzt überführte ihn ein Haar am Tatort.
Sollte der 47-Jährige mit letztem deutschen Wohnsitz in Braunschweig im aktuellen Prozess erneut verurteilt werden, wäre mit einer zweistelligen Freiheitsstrafe zu rechnen. „Nach Aktenlage muss der Angeklagte mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen“, sagt Braunschweigs Oberstaatsanwalt Hans Christian Wolters im Vorfeld des Prozesses der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Womöglich käme rechtlich sogar eine anschließende Sicherungsverwahrung zum Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern in Betracht.
„Wir wollen Freisprüche“, sagte dagegen Verteidiger Friedrich Fülscher aus Kiel der dpa. Das gelte für sämtliche Anklagepunkte. Ob sich sein Mandant vor Gericht äußern werde oder plane, zu schweigen, ließ der Anwalt vor Prozessbeginn noch offen. Trotz massiver Vorverurteilungen in der Öffentlichkeit hoffe er auf ein faires Verfahren für seinen Mandanten, sagte Fülscher schon im vergangenen Herbst zur Prozessankündigung.
29 Verhandlungstage sind bis Juni angesetzt. Ob diese Zahl ausreicht, ist fraglich.
Großes Interesse am Prozess in Großbritannien
Laut dpa ist das Interesse an dem Prozess vor allem in Großbritannien erwartungsgemäß groß. Selbst kleinere Entwicklungen, wie die Anzeigen gegen Christian B. durch Vollzugsbeamte wegen Beleidigung und der abgelehnte Antrag der Verteidigung, einen Zeugen auszuschließen, seien von Medien im Königreich berichtet worden. Auch der Fall der Irin, die B. im Jahr 2004 mutmaßlich in Portugal brutal vergewaltigte und der nun vor Gericht verhandelt werden soll, sei immer wieder Thema in irischen und britischen Medien.
Dass es sich bei B. um ihren Peiniger handeln könnte, wurde der Irin durch die Berichterstattung über die Vergewaltigung der älteren US-Amerikanerin klar, für die B. derzeit einsitzt. Sie habe sich beim Lesen übergeben müssen, „weil es mich direkt wieder zu meiner Erfahrung transportiert hat“, sagte sie im Jahr 2020 dem „Guardian“.
Erwartet werde, dass die Frau als erste ihre Aussage machen werde, berichtete die „Daily Mail“ unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft in Braunschweig. Das könne mehrere Tage in Anspruch nehmen. Sie wird von den Braunschweiger Strafverteidigerinnen Gabriele Rieke und Petra Schaeffer vertreten.
Die Eltern von Madeleine McCann äußerten sich zu dem Prozess zunächst nicht.
Das geschah bisher: Nachrichten zu Christian B., dem Verdächtigen im Fall Maddie
Lesen Sie hier eine knappe Zusammenfassung – oder klicken Sie auf die einzelnen Artikel:
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- Fall Maddie – Darum ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig
- Fall Maddie McCann – Neue Spur führt nach Braunschweig
Unsere Berichterstattung zur Verurteilung von Christian B. im Jahr 2019:
- Sieben Jahre Haft wegen brutaler Vergewaltigung in Portugal
- Vergewaltigungsprozess – Gericht setzt Verfahren nicht aus
- Prozess in Braunschweig: Überführt ein Haar einen Vergewaltiger?
mit dpa