Ich fühle mich nervös, unsicher, ein bisschen steif. Mit Jeans, T-Shirt und auf Socken stehe ich auf der Trainingsmatte, die Sonne scheint fröhlich durch die Fensterfront. Trotzdem fröstele ich.
Der trainierte, massige Mann vor mir kommt näher. Ein bisschen nach vorne gebeugt, geht sein Blick unter den Augenbrauen hervor gerade in mein Gesicht. Angriffshaltung. Ich muss reagieren.
Gut, dass das nur eine Übungssituation ist. Der trainierte Mann ist Marc Wiebeck, der das Kampfsport-Studio „Loewenschmiede“ in Braunschweig leitet. Er zeigt mir an diesem sonnigen Märzmorgen, wie ich mich im Falle des Falles verhalten kann: Wenn mich ein mir körperlich in allen Belangen überlegener Mann angreifen will.
Am Weltfrauentag können Mädchen und Frauen für umsonst trainieren
Selbstverteidigung für Frauen nimmt in der Branche eine immer größere Rolle ein: Und ein Start-Up um zwei Frauen will mit einer Aktion am Weltfrauentag, dem 8. März, dafür sorgen, dass noch mehr Frauen und Mädchen die Chance bekommen, sich selbst zu ermächtigen.
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Zurück auf die Trainingsmatte vor der Fensterfront. Ich trainiere in Jeans und T-Shirt, weil es Sinn macht, in Alltagskleidung zu üben, sagt Marc. „Klar, in Sporthose ist es einfacher – aber die hast Du ja draußen auch nicht an.“ Es geht darum, die Realsituation so gut wie möglich zu simulieren, zu spüren, wie sie sich anfühlt.
Selbstverteidigung für Frauen: Die Grundhaltung ist der erste Schritt
Um sich besser vorbereiten zu können und Gelerntes besser anwenden zu können. Los geht es mit dem Warmwerden: Seilchen springen, in Bewegung kommen, danach zeigt mir Marc die richtige Grundhaltung. Beide Füße firm auf den Boden, das linke nach vorne, das rechte stabilisiert. Knie leicht gebeugt, Körpermitte fest, Fäuste vor das Gesicht.
Alles, was wir heute proben, sollen auch die Frauen und Mädchen lernen, die am Weltfrauentag am Dienstag, 8. März, einen der kostenlosen Selbstverteidigung-Kurse in einem der 47 teilnehmenden Studios in Deutschland gebucht haben. „Join our Fight“ heißt die Initiative des Start-Ups „Chinkilla“, das Daniela König und Sarah Barakah gegründet haben.
Am Weltfrauentag trainieren Frauen umsonst – auch in Braunschweig
Beide sind Kampfsportlerinnen und Trainerinnen; zusammen vertreiben sie Sport- und Alltagskleidung, aber agieren auch als Netzwerkerinnen. Und haben eben den Aktionstag am Frauentag ins Leben gerufen. In diesem Jahr haben Frauen und Mädchen zum zweiten Mal die Gelegenheit, gratis und unverbindlich in den Kampfsport hineinzuschnuppern.
Erste Übung: Mit der Faust schlagen. Habe ich noch nie gemacht – wie geht überhaupt eine richtige Faust? „Hauptsache, der Daumen ist nicht umschlossen“, sagt Marc, „sonst bricht er dir oder fliegt aus der Kapsel, wenn ein Schlag kommt.“
Und dann: Schultern locker, die Faust gerade nach vorne ausfahren, nicht nach oben, nicht nach unten schlagen. Immer mit den Knöcheln nach vorne. Erst mal in Marcs Handflächen. Abwechselnd links, dann rechts, dann links. „Das machst du schon ganz gut“, bestärkt mich der Trainer.
Daniela König: Angreifer suchen sich gezielt Opfertypen aus
„Viele Frauen wissen gar nicht, wie viel Kraft sie entwickeln können, und trauen sich nicht, zuzuschlagen“, sagt Daniela König. Sie ist eine der Gründerinnen von Chinkilla und hat mit ihrer Kollegin Sarah Barakah schon um die 2000 Frauen trainiert.
Es gehe ihr darum, Frauen zu befähigen, erhobenen Hauptes und selbstbewusst die Straße runterzugehen. „Wer sich selbst nicht als Opfer sieht, wird auch von anderen weniger als Opfer gesehen“, sagt König, „und Angreifer suchen sich gezielt Opfertypen aus.“
Ist man erst mal in Bewegung, setzt der Körper Endorphine frei
Unsicher fühle ich mich jetzt schon nicht mehr so sehr. Am Anfang kam ich mir noch komisch vor, mit der nackten Faust und mithilfe meiner völlig untrainierten Arme gegen Marcs Handflächen zu hämmern. Doch ein bisschen ist es wie beim Tanzen.
Ist man erst mal in Bewegung, setzt der Körper Endorphine frei. Und vor allem: Ich tue etwas, ich wehre mich, ich bin meinem potenziellen Angreifer nicht mehr ausgeliefert. Und das ist ein gutes Gefühl. Gleichzeitig Angst zu haben, ist schwer.
Spielerische Rangeleien sind unter Jungs verbreiteter als unter Mädchen
Sie habe oft gemerkt, dass es einen Schalter im Kopf gebe, sagt Daniela König, der beim Training umgelegt werde. „Sobald die Frauen merken, dass sie zuschlagen können, ändert sich die ganze Körperhaltung. Da gehen die Schultern zurück, die Brust wird groß. Gerade Frauen sind ja eher so sozialisiert, dass sie körperlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen.“
„Unter Jungs wird gerangelt, das ist normal, bei Mädchen wird oder wurde so ein Verhalten nicht bestärkt. Dadurch haben viele Frauen keine Erfahrung darin.“ Und wer nie rangelt, erlebt seinen Körper auch nicht als potenzielle Waffe.
Beim Treten wichtig: Die Bewegung findet erst in der Ausgangshaltung ihren Abschluss
Meine Wangen und Arme sind jetzt warm, das nervöse Frösteln hat aufgehört. Jetzt sind die Beine dran: „Wir aktivieren als nächstes die untere Körperhälfte“, sagt Marc. „Schon mal so richtig gegen was getreten?“ Nee, eigentlich nicht. „Dann ist jetzt die Gelegenheit“, sagt Marc.
Also: Grundhaltung, und dann das rechte Bein von hinten nach vorne bewegen, Knie hoch ziehen, Unterschenkel und Fuß vorschnellen lassen, und dann, ganz wichtig: Wieder nach hinten abstellen. „Lass dein Körpergewicht nicht nach vorne fallen. Die Bewegung muss in der Grundhaltung ihren Abschluss finden“, sagt Marc.
Daniela König: Viele Frauen wollen Selbstverteidigung lernen, trauen sich aber nicht
Um die 600 Frauen haben 2022 bei der Aktion „Join our Fight“ mitgemacht, erzählt Daniela König. In diesem Jahr sollen es doppelt so viele sein. Die Resonanz ist groß: Der Kurs in der Loewenschmiede ist schon ausgebucht. „Sowohl von den Studios als auch von den Frauen war die Resonanz mega gut“, sagt König.
Das zeige, dass die Nachfrage da ist: Und, dass ein niederschwelliges Angebot umsonst und unverbindlich einen Schubs geben kann. „Vielen Frauen haben gesagt, dass sie schon immer Selbstverteidigung ausprobieren wollten, sich aber nicht getraut haben.“
Kampfsportprofis: Hände weg von Waffen bei der Selbstverteidigung
Ich bin ein bisschen außer Atem, und das nutzt Marc, um ein bisschen über Grundsätzliches zu sprechen. „Wenn du angegriffen wirst, hast du drei Optionen: Totstellen, Weglaufen, Angreifen. Totstellen ist keine Option, dann haut der andere auf dich drauf, bist du K.O. bist.“
„Ich würde immer dazu raten, wegzulaufen. Vor allem, wenn Waffen wie ein Messer im Spiel sind. Aus so einem Kampf kommt keiner unverletzt raus. Auch wenn du angreifst: Wenn du deinen Gegner ins Straucheln bringst, oder ihn auf den Popo setzen kannst, dann renn weg. Das ist die beste Option.“
Es gibt pro Jahr 44 bis 63 Angriffe auf Frauen in der Region im öffentlichen Raum
Ob Tränengas, Messer oder Schlagring: „Ich bin gegen Waffen“, sagt Daniela König. Die würden nämlich im Zweifelsfall auch nicht helfen. „Im Gegenteil. Wenn du eine Waffe dabei hast, besteht immer die Gefahr, dass dein Gegner sie gegen dich verwendet“, sagt sie.
Das gelte sowohl auf der Straße, als auch im privaten Bereich – wo sich die meisten Gewalttaten gegen Frauen abspielen. Laut Polizeidirektion Braunschweig gab es 2017 bis 2021 zwischen 44 und 63 Angriffe pro Jahr in der Region rund um Braunschweig. Tendenz: Rückläufig. Im privaten Bereich sind die Zahlen schwer benennbar, weil die Dunkelziffer immens ist. Laut BKA gab es 2021 bundesweit rund 143.000 Taten, die unter die sogenannte „Partnerschaftsgewalt“ fielen. In mehr als 80 Prozent der Fälle waren Frauen betroffen.
Ein guter Passivblock schützt bereits vor Angriffen
Der beste Angriff ist eine gute Verteidigung: Dieses Prinzip übe ich als nächstes. „Jetzt möchte ich, dass du dir einen Passivblock aufbaust“, sagt Marc. Und das geht so: Linken Arm anwinkeln, Hand über das Ohr legen, Ellenbogen spitz nach vorn zeigen lassen.
Rechte Hand auf das linke Handgelenk – Daumen nicht unterhaken –, Ellenbogen vor dem Gesicht in Stellung bringen. „Damit schützen wir das Rechenzentrum“, sagt Marc. Die Grundhaltung bleibt stabil, das Kinn geht auf die Brust, die Sicht ist eingeschränkt, dafür der Schädel vor allem gegen Schläge von links geschützt – weil die meisten Menschen eben Rechtshänder sind.
Sarah Barakah baute das erste Selbstverteidigungsstudio für Frauen in Jordanien auf
Daniela König und Sarah Barakah haben beide in ihren 20ern mit dem Kampfsport angefangen: Für Barakah, die als Kind eines Jordaniers in New York aufgewachsen ist und vorher keinen Kampfsport machen durfte, sei das auch eine Emanzipation vom Elternhaus gewesen, sagt ihre Geschäftspartnerin.
In Jordanien habe sie in dem ersten Selbstverteidigungsstudio für Frauen Kurse gegeben wo sich die beiden Frauen trafen. „Uns geht es nicht nur um den Sport, es geht um das Mindset, um die Sichtbarkeit von Frauen“, sagt König.
Auch aus dem Passivblock heraus ist ein Gegenangriff möglich
Für mich geht es jetzt in die Verteidigung: Mein Angreifer geht auf mich los, meine Arme bauen den Passivblock auf, und dann ramme ich meine Ellenbogen mit vollen Körpereinsatz, ganzer Kraft und einigem Gebrüll in den Boxsack, den Marc festhält. Es rasselt und scheppert, wo der massige Sack an der Wand verankert ist, so stark schwingt der Sack aus.
„Da ist schon Kraft dahinter“, sagt Marc lachend – und ich schäme mich fast ein bisschen. Aber – warum eigentlich? Darum geht es ja. Ich hätte bloß nicht gedacht, dass ich mit meinen 50 Kilo Kampfgewicht wirklich etwas bewegen kann.
Daniela König von Chinkilla: Jeder kann seine Superkraft finden
„Die Statur ist nicht so wichtig“, sagt Daniela König. „Also – sie ist nicht egal, aber jeder kann seine Superkraft finden. Wenn du groß bist, hast du vielleicht mehr Kraft, wenn du klein bist, bist du vielleicht wendiger. In der Selbstverteidigung für Frauen kommt es außerdem viel auf die Hebelwirkung an. Das ist reine Physik.“
„Wenn du dann noch die Anatomie kennst und weißt, wohin du schlagen musst, damit es weh tut, umso besser. Jede und jeder muss eben wissen, was für einen am besten funktioniert: Und das üben. In einem sind wir aber alle gleich. Wir können schreien. Und auch das müssen wir üben.“
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