Braunschweig. Bei Dennis Gabriel wurde ein Hirntumor entfernt – er hat die Operation bei vollem Bewusstsein erlebt. Wir haben nach der OP mit ihm gesprochen.

Können Enten Fahrrad fahren? Das ist eine der typischen Testfragen, die einem Patienten bei einer so genannten Wach-OP gestellt werden. Unter Wach-OP versteht man eine Operation am Gehirn, bei der der Patient bei vollem Bewusstsein ist. Das heißt: Während der Operation ist er ansprechbar und kann Fragen beantworten.

Dennis Gabriel hat eine solche Wach-OP hinter sich. Vor einem Jahr hatten die Ärzte bei dem 37-Jährigen aus Salzgitter einen Hirntumor entdeckt – eher zufällig, bei Untersuchungen nach einem Sportunfall. Im September wurde Gabriel von Professor Klaus Zweckberger operiert, seit gut einem Jahr Chefarzt der Neurochirurgie am Klinikum Braunschweig. Es war die erste Operation dieser Art am Klinikum. Aber nicht die erste für Professor Zweckberger: An der Neurochirurgischen Klinik der Universitätsklinik Heidelberg, wo er zuletzt stellvertretender Ärztlicher Direktor war, hat er regelmäßig Operationen dieser Art durchgeführt. Auch in Braunschweig sollen sie nun vermehrt angeboten werden.

Das Ziel: Den Tumor bestmöglich entfernen, ohne dass bleibende Schäden entstehen

Nachbesprechung der Wach-OP mit Professor Klaus Zweckberger, Patient Dennis Gabriel und seiner Freundin Jaqueline Jüngling.
Nachbesprechung der Wach-OP mit Professor Klaus Zweckberger, Patient Dennis Gabriel und seiner Freundin Jaqueline Jüngling. © Klinikum Braunschweig | Björn Petersen

Dass der Patient bei Bewusstsein ist, habe einen entscheidenden Vorteil, sagt Zweckberger: „Ich bekomme ein direktes Feedback von ihm.“ Dann erklärt der Neurochirurg: Einerseits wolle man bei der Tumoroperation so viel wie möglich vom Tumorgewebe entfernen, da der Patient dann die besten Heilungschancen hat. Andererseits wolle man möglichst keine Bereiche des Hirns zerstören, die für die Motorik oder für das Sprechen zuständig sind. Wenn ein Tumor dem Sprach- oder Motorikzentrum im Gehirn sehr nahe kommt oder sogar in diese Bereiche hineinwächst, sei eine Wach-OP bei niedriggradigen Gliomen, die langsam wachsen, eine gute Möglichkeit, den Tumor bestmöglich zu entfernen und dabei bleibende Schäden zu vermeiden.

Wenn der Patient nun während der Hirnoperation auf die Frage, ob Enten Fahrrad fahren können, sinnvoll antworten kann und dabei nicht lallt oder stockt, zeigt das, dass der für das Sprechen zuständige Bereich einwandfrei funktioniert. Getestet wird das mittels einer elektrischen Stimulationsgabel, die dem Gewebe kleine Stromstöße versetzt. Mit dieser Gabel wird das Hirngewebe Millimeter für Millimeter abgetastet.

Wirkt sich ein Stromstoß auf das Sprechverhalten des Patienten aus, weiß der Chirurg: In diesem Bereich sollte er nichts entfernen, ansonsten drohen neurologische Schäden. Die Bereiche werden entsprechend gekennzeichnet, dann erst schreitet der Chirurg mit einer elektrischen Pinzette und einem Ultraschallaspirator zur Tat. Auf Monitoren können er und seine Kollegen den Eingriff stark vergrößert beobachten. Sollten Tumorreste bleiben, können diese anschließend mit einer Chemotherapie oder Bestrahlung behandelt werden.

Manche Patienten spielen Geige oder singen während der Hirn-OP

Dennis Gabriel sagt, er sei hart im Nehmen. Deshalb habe er der Wach-OP gleich zugestimmt: „Für mich war klar: Wenn das die besseren Heilungschancen verspricht, dann mache ich das.“ Angst habe er nicht vor dem Eingriff gehabt, sagt er: „Ich war eher gespannt, wie das wird.“ Für seine Freundin Jaqueline Jüngling war die Vorstellung einer Wach-OP jedoch beunruhigend: „Ich würde das nicht bei mir machen lassen. Aber er sollte das selbst entscheiden und war da ganz locker“, sagt sie.

Etwa zwei Stunden lang dauerte die OP am offenen Schädel. Dennis Gabriel hat sich die ganze Zeit über mit dem Psychologen unterhalten. „Wir haben über meine Hobbys gesprochen, das Motorradfahren und die Feuerwehr. Und über meinen Sohn“, sagt Dennis Gabriel. Zudem habe der Arzt ihm Testfragen gestellt, habe ihm Gegenstände gezeigt, die er benennen sollte. An anderen Kliniken gab es auch schon aufsehenerregende Wach-OPs, bei denen musikalische Patienten während des Eingriffs Geige gespielt oder gesungen haben.

Professor Klaus Zweckberger hat die erste Wach-OP am Gehirn im Klinikum Braunschweig erfolgreich durchgeführt. Rechts: Patient Dennis Gabriel
Professor Klaus Zweckberger hat die erste Wach-OP am Gehirn im Klinikum Braunschweig erfolgreich durchgeführt. Rechts: Patient Dennis Gabriel © Klinikum Braunschweig | Björn Petersen

Vor der OP wird stets ein langes Gespräch mit dem Patienten geführt. „Die intensive Vorbereitung ist das A und O“, erklärt Zweckberger. Da werde abgestimmt, über welche Themen der Patient während der OP sprechen möchte und geprüft, ob er mental und psychisch stabil genug ist. Es wäre schließlich verheerend, wenn ein Patient während der OP kollabiert oder in Panik verfällt.

Das Gehirn selbst besitzt keine Schmerzwahrnehmung

Ganz wichtig: Schmerzen empfindet der Patient bei der ganzen Sache nicht. Der erste Schritt der OP, bei der der Schädel geöffnet wird, findet unter Narkose statt. In der nächsten Phase wird der Patient extubiert, wacht langsam auf und wird kontaktfähig: Bei der Tumorentfernung ist der Patient wach. Lokale Schmerzmittel sorgen dafür, dass Haut, Knochen und Knochenhaut am Kopf betäubt sind. „Das Hirngewebe selbst besitzt keine Schmerzwahrnehmung“, so Professor Zweckberger. Geschlossen wird die Schädelöffnung wieder unter Narkose.

Dennis Gabriel hat die Operation im September gut überstanden. Fünf Tage nach dem Eingriff konnte er schon nach Hause. „Anfangs hatte ich mir Sorgen gemacht, weil er in den ersten Tagen keine komplexen Sätze schreiben konnte und Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte“, erzählt seine Freundin. Das aber sei eine Folge der durch die OP hervorgerufenen Schwellungen gewesen. Inzwischen seien die Symptome weitestgehend abgeklungen. Ab und an suche er nochmal nach einem Wort, ergänzt Gabriel: „Aber es wird immer besser.“

Der Tumor von Dennis Gabriel konnte komplett entfernt werden

Eine lange, bogenförmige Narbe zieht sich nun über seinen Schädel. Die Narbe verheilt gut, man sieht sie nur, weil er die Haare so kurz trägt. Das Wichtigste aber ist: Der Tumor konnte komplett entfernt werden, die Ärzte sind optimistisch, dass keine weitere Behandlung erfolgen muss. Die Erleichterung ist Gabriel anzumerken. „Ich würde es immer wieder machen“, sagt er rückblickend.

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