Braunschweig. Jeden Tag wendet sich Braunschweigs Dompredigerin Cornelia Götz in Zeiten von Corona per Videoandacht an die Gläubigen.

Zwischen dem Braunschweiger Dom als der bedeutendsten Kirche der Region und unseren Lesern besteht eine besondere Beziehung, nicht zuletzt durch den Gemeinsampreis. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise hat sich Dompredigerin Cornelia Götz bereiterklärt, Ihnen bis auf Weiteres täglich Andachtsworte zu widmen. Diese finden Sie in diesem Artikel auch als Video.

Die finale Andacht:

Dompredigerin Cornelia Götz

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    Hilde Domin hat gedichtet. „Wir werden eingetaucht / und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,wir werden durchnässt / bis auf die Herzhaut. …“

    Ja, irgendsowas passiert uns im Moment. Ich spüre anderen ab und spüre es selbst, dass diese Tage und Wochen an die Substanz gehen. Wir werden eingetaucht in einen großen Pott von Desinfektionsmitteln aber das, was die Herzhaut nass macht, ist wohl eher die Frage, wo das alles hinführen wird. Und auch: was die Herzhaut nass macht, reinigt und klärt. „Der Wunsch nach der Landschaft / diesseits der Tränen / taugt nicht,der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten. / der Wunsch, verschont zu bleiben, / taugt nicht.“

    All das sind legitime Wünsche, verständliche Wünsche, vielleicht sogar unvermeidliche weil zutiefst menschliche Wünsche. Aber angesichts unserer Wirklichkeit, erwächst aus solchen Wünschen noch kein Bild, das Gestaltungskraft entfaltet. Dankbarkeit ist eher angezeigt: Wir sind ja weitestgehend verschont geblieben. Und in dieser Woche, in der im Dom das War Requiem aufgeführt worden wäre, bekommt solche Verschonung noch eine ganz andere Dimension: 75 Jahre nach Kriegsende, 75 Jahre Frieden – manchen Menschen muss das wie ein ewiger Blütenfrühling vorkommen.

    Darum:„Es taugt die Bitte, / dass bei Sonnenaufgang die Taube, / den Zweig vom Ölberg bringe. … Und dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube … immer versehrter und immer heiler / stets von neuem / zu uns selbst / entlassen werden.“Es taugt die Bitte nach Klarheit und Vergewisserung, einander und unserer selbst. Es taugt die Bitte nach Heilung und einem neuen Anfang. Und es taugt Dankbarkeit. Mit diesem Gedanken verabschiede ich mich. Von morgen an läuten die Glocken wieder, werde ich meine Bitten und meinen Dank wieder direkt und unmittelbar vor Gott und zum Marienaltar des Braunschweiger Doms bringen.

    Darum ist dies hier mein letztes „Wort zum Alltag“ in der Braunschweiger Zeitung. Sie war mir keine Löwengrube, sondern ein fester Grund und ein Zelt, ein Sprachrohr und eine Brieftaube, ein Begegnungsraum. Ich danke dem Chefredakteur von ganzem Herzen für diese besondere Gastfreundschaft. Ich werde wieder in den Dom entlassen und lade Sie herzlich ein, dort die Herzhaut jeden Tag ein bisschen trocknen zu lassen. „Das Wort zum Alltag“ und auch den Abendsegen finden Sie auf der Seite des Braunschweiger Doms. Bleiben Sie behütet!

    Hier finden Sie ältere Andachten:

    Zu Dienstag, 5. Mai: Schrittweises Vorangehen

    Braunschweigs Dompredigerin Cornelia Götz mit dem Wort zum Alltag

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      Solche tagtäglichen Texte haben nicht immer aber doch manchmal sehr konkrete gedankliche Adressaten. Ich stelle mir vor, dass er oder sie diese Zeilen morgens zum Kaffee lesen wird und freue mich, eine Erinnerung oder eine Assoziation teilen zu können – eine spärliche und umso kostbarere Gemeinschaftserfahrung in dieser Zeit. Vor zwanzig Jahren, als wir in diese Gegend hier kamen, habe ich vor allem durch das Konfirmandenferienseminar viele neue Lieder gelernt.

      Als ich zum ersten Mal, damals noch als Vikarin mitgefahren bin, sehe und höre ich mich noch wie gestern in einer Kapelle singen: „Der Sehnsucht Heimatrecht verschaffen / den Hunger stillen, der noch quält – und im Dunklen loben, dem Sehen entgegen leben. / Der Hoffnung auf die Beine helfen, das Stehen üben, aufrecht gehen. / Den Ölzweig endlich wurzeln lassen – das Recht errichten Schritt für Schritt…“ Die Zeilen können ein bisschen durcheinander geraten sein. Am Küchentisch habe ich das Liederbuch nicht zur Hand – aber den Ohrwurm habe ich in mir und die Sehnsucht, den Hunger und wenn es denn sein muss auch die Geduld für das schrittweise Vorangehen.

      Dieses Lied hat für mich immer viel Aufbruch transportiert, Hoffnung, die über das Erwartbare der nächsten Zeit weit hinausgeht und auch Ansporn, Ermutigung. Das muss an den Verben liegen. Es ist ein politisches Lied, das sich nicht zufrieden gibt. Es ist ein sehr realistisches Lied, das davon weiß, dass die Hoffnung manchmal eine Krücke braucht, weil man sie manchmal nicht aus sich selber schöpfen kann. Es ist ein friedliches Lied, das vom Ölzweig singt in einer versöhnten Welt.

      Für mich ist es zuletzt ein zärtliches Lied, vielleicht weil ich es mit Folgendem im Paket gelernt habe: „Behutsam will ich dir begegnen, … mit Sanftmut will ich dich berühren, dir zeigen, Du bist nicht allein, der Engel Gottes wird dich segnen…“ Unzufriedenheit allein, Sehnsucht allein, Realismus allein machen herb und zornig, Geduld allein womöglich kraftlos. Aber gepaart mit Sanftmut und Segen sollte es noch ein Stück gehen und endlich dürfen wir ja auch wieder nicht nur im Dunklen sondern auch im Gottesdienst loben.

      Zu Montag, 4. Mai:

      Vor einem Jahr genau waren wir in Neapel. Wir wohnten auf der Via Toledo, am Rande des spanischen Viertels und begannen von dort aus diese unglaubliche Stadt zu erkunden. Jetzt, hier an meinem Erkerplatz Zuhause mit dem Blick in das frische Grün kann man ich mir nicht vorstellen, wie Quarantäne in diesen engen dunklen Wohn-Schlaf-Küchen geht, die zur Straße offen stehen.

      Die hohen Häuser mit Wäsche und schwatzenden Frauen auf den Balkons sehen wahrscheinlich nur in den Augen einer deutschen Touristin malerisch aus. Wie erdrückend und grausam muss solche Enge sein. Neapel ist auch eine physische Erfahrung von hell und dunkel, Meeresnähe und Steinwüste. Mitten im Gassengewirr öffnen sich immer wieder Plätze, steht man vor großen Kirchen. Im Dom gibt es eine uralte Taufkapelle, vielleicht die älteste des Abendlandes. An der Decke finden sich Reste uralter Fresken mit dem Fischfang, der Samaritanerin, Jesus als er über’s Wasser geht.

      Im Flyer steht: „Der Katechume, im Wasser bis zum Knie, wurde mit Wasser begossen. Er warf den Blick nach oben, und gefangen von dieser Szene wurde er in eine mystische Welt versetzt.“ Der Blick nach oben. Von dort kommt neues Leben her. Keinem wäre wohl in den Sinn gekommen, dort einen Spiegel aufzustellen, um die Fresken bequemer sehen zu können und dabei zu riskieren zuerst sich selbst zu erblicken. Später las mir mein Mann Ähnliches aus Ortheils „Erfindung des Lebens“ über den Kölner Dom vor: „Sofort nach Passieren des großen Portals ging der Blick ja hinauf in die schwindelerregenden Höhen … so erging es den meisten Besuchern, sie blieben stehe und schauten eine Zeitlang in die Höhe als müssten sie Maß nehmen … und sich auf die Größenverhältnisse einstellen.“ Der Blick nach oben wird zur Haltungsfrage, in die sich automatisch Demut mischt.

      Mir ist das alles dieser Tage wieder eingefallen, nicht nur weil über meinem Platz im Erker seither ein neapolitanischer Engel aus der Straße der Krippenschnitzer, der Via S. Gregorio Armeno hängt und mehr Gelegenheit als sonst hat, mir zuzuschauen, sondern auch weil die Frage nach dem Maß, nach oben und unten, nach der Geschwindigkeit, mit der wir die Welt verzehren und dann auf einmal so abrupt ausgebremst sind, derart akut geworden ist.Auch in unserer Bibel spielt dieses Oben und Unten von Anfang eine zentrale Rolle. Die Menschen, begabt, ehrgeizig, ambitioniert, sehnsüchtig bauen den Turm zu Babel, weil sie jedes Maß verloren haben und es bin an den Himmel schaffen wollen. Sie scheitern und verlieren darüber die Fähigkeit, sich zu verstehen und im Blick zu behalten. Erst Jakob, der fliehen musste, weil er seinen Bruder betrogen hat und der nun schutzlos in der Wüste liegt, mit einem Stein unterm Kopf, erlebt, wie sich Himmel und Erde verbinden.

      Er träumt von einer Leiter in den Himmel, auf der Gott steht, Engel steigen hoch und runter – überbrücken die unermessliche Distanz. Auch wir sind solche Gestrandete. Im Moment erleben wir das buchstäblich. Es wird Zeit, wieder neu Maß zu nehmen und dabei immer mal nach oben zu schauen, einzutauchen ohne unterzugehen.

      Zu Freitag, 2. Mai: Der Rückweg

      Dompredigerin Cornelia Götz mit dem Wort zum Alltag

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        In der Zeitung lese ich ein Plädoyer für „Vernetzung im kleinen Kreis“ bzw. vorsichtige Vergrößerung der Infektionsgemeinschaft, um sich die schwierig gewordenen Aufgaben ein bisschen besser aufteilen zu können, denn selbst sehr einsichtige und verständige Menschen zeigen allmählich Ermüdungserscheinungen. Man will zurück ins alte Leben. Wer hier schon lange mitliest weiß, ich schreibe nebenher die Bibel ab. Inzwischen bin ich bei Jakob und Esau. Jakob hatte seinen Bruder um den väterlichen Segen betrogen und hatte deshalb nach Aramäa, in die Heimat seiner Mutter Rebekka fliehen müssen.

        Dort hat er seinem Onkel gedient, jeweils sieben Jahre um Rahel und Lea und dann noch weitere sechs Jahre. Er hat sich eingerichtet in der anderen und fremden Normalität, es hatte gute und schlechte Tage gegeben und für Jakob durchaus auch materiellen Gewinn. Aber dann kommt der Moment, an dem Jakob dieses Leben leid ist und müde. Er will zurück, nach Hause. Jakob sucht eine Exitstrategie aus der Notlösung nach der Flucht für den Rückweg ins alte Leben. Dort will er hin, unbedingt, auch wenn er nach der ganzen Zeit gar nicht weiß, ob die Welt, die er verlassen hat, überhaupt noch da ist und ob er darin noch funktioniert. Abschreibend hat man ein gutes Gespür für die Länge eines Kapitels. Das über diesen Aufbruch, Gen 31, ist sehr lang. Es beginnt mit Entschädigungsverhandlungen für den Lohnausfall der vergangenen Zeit.

        Das dauert und gelingt auch nicht so ehrbar, wie man sich das erhoffen würde. Dazu kommt die Unsicherheit, ob es eigentlich der richtige Moment ist, ob Jakob überhaupt losgehen kann. Er bricht trotzdem auf, aber heimlich und hektisch und wird eingeholt. Ehe er weiter gehen kann, braucht es klare Verabredungen, Grenzsteine und Markierungen, später dann noch viele kostbare Geschenken. Jakob wird es schaffen, aber er wird darüber ein anderer geworden sein – ein Hinkender und ein Gesegneter. Es ist eine lange kraftzehrende Reise von einem Ort, an dem man nicht auf ewig bleiben kann, dorthin zurück, woher man ursprünglich kam. Es ist eine Reise die müde macht aber auch Einsicht lehrt. Es braucht andere Grenzen und neue Bündnisse. Wir stehen da auch, am Anfang des Kapitels. So wie es ist, kann es nicht bleiben.

        Also gilt es, langen Rückweg zu strukturieren und Lebensformen für diese Wanderung durch die dürre Ebene zu finden. Dazu gehören Andachten morgens und abends, ein Plan für die nächste Etappe, Achtsamkeit gegenüber Leib und Seele, Solidarität und Gottes Zuspruch, sein Segen. Ohne den geht Jakob nicht los. Den braucht es. Den brauchen auch wir. Mit ihm werden wir es schaffen bis zur nächsten Tränke und dann zum Horizont und dann werden wir weitersehen. Und bis dahin möge ER seine Hand über uns halten.

        Zu Donnerstag, 30. April: Schweigen gehört zur Stille

        Dompredigerin Cornelia Götz mit dem Wort zum Alltag

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          Hand aufs Herz, es gibt ja auch Aspekte der alten Normalität, nach denen wir uns nicht sehnen, die wir nicht unbedingt zurückwünschen. Die vielen Sitzungen gehören dazu. Ich erinnere mich noch mit Schaudern daran, wie ich mit meinem früheren Chef anlässlich seines Ruhestandes überschlagen habe, wie viele Monate seines Lebens er in Sitzungen verbracht hatte…

          Es ist fraglos wichtig, Argumente auszutauschen, einander zuzuhören, gemeinsame Wege abzustimmen. Allermeist geht das nur, in dem man sich zusammensetzt. Erst recht gilt das für alle Fragen, die man beraten, beschließen und protokollieren muss, weil Rechtsansprüche oder Stellen dranhängen, weil es um Geld geht, oder man Verantwortung trägt für Bildung, Sicherheit, Gesundheit, Kindeswohl.

          Aber jeder, der mit Sitzungen lebt, kennt die Runden, bei denen man schon vorher ahnt, dass es sehr lang werden und man sich dennoch wenig bewegen wird, weiß wie es sich anfühlt, wenn die Luft langsam schlechter wird, Schleimhäute austrocknen, der Rücken schmerzt. Dann sehnt man sich nach Schweigen und Stille. Bei dem weisen Prediger Salomo hieß es vor Corona schon: „Ein jegliches hat seine Zeit … zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit, schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit, lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit.“Die unmittelbare Nachbarschaft von „nähen“ und „schweigen“ in der ja noch viel längeren Aufzählung von Tätigkeiten ist mir bisher gar nicht aufgefallen.  Dafür klang „schweigen hat seine Zeit“ danach lieber den Mund zu halten, weil es diplomatische klug ist oder sich gehört.

          Aber jetzt, so allein mit mir, ohne die üblichen Konstellationen, in denen stundenlang geredet wird, hat „schweigen“ ganz anders Zeit. Es gehört zur Stille. In einem Text von Lothar Zenetti heißt es:

          „Wir reden. / Wir reden dauernd / aneinander vorbei. Wir reden. / Wir reden uns / immer weiter auseinander. Vielleicht / schweigen wir uns / wieder zusammen.“

          Zenetti hat bei diesem Gedicht zunächst an eine Beziehung zwischen zwei Menschen gedacht. Aber jetzt – mitten in dieser schwierigen Zeit – bin ich sensibler dafür, war einer redet oder beschweigt. Jetzt warten wir uns zusammen, oft schweigend. Manches begreift und sieht man neu. Vieles verliert seine Selbstverständlichkeit. Hoffentlich erinnern wir uns dran, wenn wir wieder in Sitzungen dürfen und darüber reden, wie es weitergeht.

          Zu Mittwoch, 29. April: Fröhlich mit Gedichten

          Dompredigerin Cornelia Götz mit dem Wort zum Alltag

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            Es ist eine emotionale Berg- und Talfahrt. Man wartet auf die nächste Runde im Kanzleramt oder unter den Ministerpräsidenten, auf die Entscheidung über die Rahmenbedingungen für Gottesdienste und Konfirmandenunterricht, auf Infektionszahlen und Regen. Nebenher bin ich immer auf der Suche nach Texten, Gedichten und Geschichten, die helfen und wohltun.

            Einer, der unglaublich vielen Menschen gute Worte schenkte war Klaus Peter Hertzsch. Viele kennen ihn durch den Liedtext von „Vertraut den neuen Wegen.“ Ich habe ihn als Professor für praktische Theologie in Jena erlebt. Ehe ich in seinen Vorlesungen über Predigtlehre, Seelsorge und Liturgik saß, hörte ich aber seine Literaturvorlesung. Er, der wusste, dass Menschen in der DDR zu viele gute Bücher nicht zur Hand haben, erzählte von Böll und Brecht, rezitierte – weil er fast blind war – seitenweise auswendig. Literatur als täglich Brot.

            Und er konnte dichten. Nicht nur zu Festen, sondern auch entlang der Bibel. Jetzt in diesen Tagen fallen mir Zeilen aus seiner Ballade über die „schöne Stadt Ninive“ wieder ein. Es ging um den Propheten Jona. Der hatte den Menschen ansagen sollen, dass es so, wie sie leben, nicht weitergehen würde. Aber der Auftrag, war Jona zu schwer und so war er, aus lauter Angst, Überbringer so schlechter Nachrichten zu sein, abgehauen und hatte sich eingeschifft. Aber das Schiff, auf dem er floh, geriet in Seenot. So warf man das Los, um zu klären, wer dem Meer geopfert sollte, um es zu beruhigen. Natürlich musste Jona über Bord. Aber er wurde gerettet und von einem großen Fisch verschluckt.

            Da saß er. Da sitzen wir nun. Immerhin in Sicherheit. Aber allein, jeder in seinem Fischbauch und keiner weiß, wie lange noch und wie das Land aussehen wird, wenn wir irgendwann wieder ausgespuckt werden. Was tut man in solchen Zeiten??? Über Jona dichtete Klaus Peter Hertzsch: „Dort saß er, glitschig, aber froh: / denn naß war er ja sowieso. Da hat er in des Bauches Nacht / ein schönes Lied sich ausgedacht. Das sang er laut und sang er gern. / Er lobte damit Gott den Herrn. Der Fischbauch war wie ein Gewölbe: / das Echo sang noch mal dasselbe. Die Stimme schwang, das Echo klang, / der ganze Fisch war voll Gesang.“Singen ist ja im Moment leider auch nur etwas für den Fischbauch. Chöre werden wohl noch eine ganze Weile warten müssen, bis sie große Gewölbe wieder mit Gesang füllen können. Singen hilft trotzdem. Aus dem Fenster, im Garten oder in der Küche. Singend schöpft man Hoffnung und erinnert sich, dass Gott doch auch gesagt hatte (noch einmal in Hertzschs Worten): Und „sollte ich die Stadt nicht schonen, / in der so viele Menschen wohnen, / so viele Eltern, viele Kinder, / so viele arme, dumme Sünder, / so viele fröhliche Gesellen – / dazu die Tiere in den Ställen?“

            Ja, das wird ER! Man wird wieder fröhlich mit diesen Gedichten. Und also: Weiter geht’s! Ein neuer Tag!

            Zu Dienstag, 28. April: Herr, lass leuchten deine Zeit

            Dompredigerin Cornelia Götz

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              In der alten Zeit musste man einen Film oder Serie dann ansehen, wenn sie kam. Hatte man das verpasst, half nur noch die Erzählung anderer. Die diversen Berichte und Auswertungsgespräche gehörten zu den allerwichtigsten Gesprächsthemen morgens vor der Schule. Denn alles lebte von der Gleichzeitigkeit des Erlebens. So ist es mit besonderen Augenblicken immer noch, denn wir leben davon, dass wir sie teilen – mit allen Sinnen.

              Natürlich kann man ein Fußballspiel im Fernsehen angucken, aber es ist doch etwas anderes, wenn im Stadion alle gleichzeitig die Luft anhalten und die Spannung mit Händen zu greifen ist. Der wohlige Schauer läuft einem eben nur dann den Rücken runter, wenn wir gemeinsam singen und gemeinsam jubeln. Auch Scheitern lässt sich besser aushalten, wenn wir gemeinsam aufjaulen. Im Gottesdienst ist das auch so: mein Herz kann sich leichter erheben, wenn wir gemeinsam aus ganzer Seele singen und miteinander zum Segen aufstehen. Ganz zu schweigen von der Zärtlichkeit fremder Hände beim Friedensgruß, der Innigkeit einer aufgelegten Hand.

              Das geht nicht gut am Laptop und ist auf dem Sofa nicht das Gleiche. Da hatte ein kluger Kommentator schon Recht, wenn er schrieb, der Unterschied zwischen analog und digital sei ungefähr so groß wie der zwischen Liebe und Liebensfilm.

              Wobei gegen gute Liebesfilme nichts einzuwenden ist…Und trotzdem ist es ein wirklicher Segen, dass wir jetzt solche unglaublichen technischen Möglichkeiten haben! Wir können erleben, was andere für uns ins Internet eingestellt haben, ihre Leidenschaft sehen, die Sorgfalt und liebevolle Mühe, mit der sie ein Format überlegt und gestaltet haben. Im Dom haben wir inzwischen einen Abendsegen aufgenommen, den Sie hoffentlich auch sehen können. Die Bilder dabei verdanken wir einem, der mit sehr viel Herzblut und Begeisterung dem Licht im Dom nachgegangen ist und auf den Moment gewartet hat, bis die Abendsonne genau durch die Mitte der Rosette in den Dom scheint.

              Ein einzelner Moment, den er unbedingt einfangen wollte – um ihn später mit Vielen teilen zu können. Ohne diese merkwürdige Zeit hätte ich nicht mit ihm gewartet, hätte ich dieses Leuchten nie gesehen! Dieses Warten hat mich an einen meiner Konfirmanden erinnert, der den 31. Psalm falsch und doch wundersam richtig zitierte. Er sagte statt „Meine Zeit steht in deinen Händen, Herr, lass leuchten dein Angesicht“: „Lass leuchten meine Zeit!“ oder hieß es gar: „Herr, lass leuchten deine Zeit“?

              Zu Montag, 27. April: Konfirmation

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                Gestern wäre Konfirmation gewesen, nicht nur im Braunschweiger Dom, sondern an vielen anderen Orten auch. Allmählich kommt es mir schon fast ein bisschen verrückt vor, mit welcher Selbstverständlichkeit wir das alles geplant haben und doch bin ich schon wieder dabei, in meinem Herzen Hoffnung zu nähren, dass wir nächstes Jahr mit Jugendkantorei und großem Einzug, vollem Gemeindegesang und Abendmahl, einen richtigen Festgottesdienst feiern können.

                Lange habe ich nicht mehr gehört, dass jemand solche Pläne abschließend mit der Einschränkung bedachte: „So Gott will und wir leben.“ Der frühere Landesbischof Friedrich Weber sagte das oft – als hätte er geahnt, dass er nicht alt werden würde.

                „So Gott will und wir leben.“ Davon hängt alles ab. Das sollten wir mitnehmen aus dieser Zeit und als innere Markierung bewahren.

                Aber wenn uns denn geschenkt sein wird, Konfirmation zu feiern, dann gehört vielerorts der 23. Psalm dazu, den Konfirmanden immer noch auswendig lernen. Auch das gehört ja zu den Erfahrungen dieser Zeit, in der wir viel mehr als sonst aus dem schöpfen müssen, was wir in uns tragen. Es ist gut, einen kleinen Vorrat an guten Worten zu haben. In einer neuen Übersetzung klingt es aus dem 23. Psalm, der zum gestrigen Sonntag gehört, so:

                „Gott weidet mich, mir fehlt es an nichts. / Auf grüner Wiese lässt Gott mich lagern, / zu Wassern der Ruhe leitet Gott mich sanft. / Gott lässt meine Lebendigkeit zurückkehren. / Gott führt mich auf gerechten Spuren – so liegt es im Namen Gottes. / … Wenn Finsternis tief meinen Weg umgibt fürchte ich nichts Böses … und ich werde zurückkehren in das Haus Gottes für die Dauer meines Lebens.“

                Wasser der Ruhe. Ist das ein Bild für dieses trockene und stille Frühjahr sein? Dann jedenfalls ist es gut zu wissen, dass es SEINE Fürsorge ist, die uns dorthin geführt hat. Und mindestens so dringend wichtig ist es auch zu hören, dass Lebendigkeit, Bewegung, Begegnung wiederkommen und wir sie nicht allein genießen sollen, sondern auf den Spuren eines Gottes, der uns Wege der Gerechtigkeit und des Friedens zeigt.

                „Und wir werden zurückkehren in das Haus Gottes für die Dauer unseres Lebens.“ Da tut sich ein großer Horizont auf, heller und weiter als wir ihn denken können und eine sehr konkrete Hoffnung, eine Perspektive, für die Gotteshäuser hier unter uns, damit Lebendigkeit zurückkehrt. So Gott will und wir leben.

                Zu Samstag, 25. April: Die Jahreslosung

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                  Dieses Jahr steht unter folgendem Vers aus dem Markusevangelium: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Manche Menschen haben nach Neujahr zu mir gesagt, mit dieser Jahreslosung könnten sie nichts anfangen. Das wären unlogische und widersprüchliche Worte, die mehr verwirren als helfen. Das stimmt. Glauben und Unglauben sind Gegenpole und liegen doch allermeist sehr nah beieinander. Wer hätte gedacht, dass wir diese Lektion in 2020 derart gründlich durchbuchstabieren müssen?

                  Es fällt mir nicht schwer, der Johns-Hopkins-Universität ihre Zahlen abzunehmen. Aber allmählich beschleichen mich Zweifel. Ist die Zahl der Toten, deren Todesursache im Zusammenhang mit dem Coronavirus steht – so formuliert Claus Kleber allabendlich sehr sorgfältig – nicht zu einseitig betrachtet? Müssen wir all die, die aus Hunger und Verzweiflung sterben, wenn Arbeitsmärkte zusammenbrechen, Sozialsysteme und Versicherungen fehlen, Gewalt und Depressionen zunehmen, Kollekten und Spenden dramatisch zurückgehen, nicht auch mitrechnen? Passen die Reaktionen und Hilfsmaßnahmen, die wir versuchen, auch wenn wir so denken, noch? Wo sind die Anwälte derer, die ohnehin von der Hand in den Mund leben, die immer schon auf dem schmalen Grat über den Abgrund der Armut balancieren?

                  Was ist mit den Kindern, die jetzt kein Zuhause haben, in dem es Struktur und Geborgenheit gibt? Wie lange kann man sich auf Homeoffice konzentrieren, wenn parallel Kinder beaufsichtigt werden müssen? Und was ist außerhalb Deutschlands? Meine Gedanken sind auf Kreta. Dort habe ich im letzten Jahr eine kleine Familie kennengelernt. Mutter, Vater, Tochter.

                  Die Eltern arbeiten unermüdlich für die Ausbildung ihres einzigen Kindes. Die schmalen Ersparnisse für ihr eigenes Alter hat die Finanzkrise weggespült. Wenn sie jetzt die Arbeit verlieren… Was ist mit den Jugendlichen Südeuropas, den Großmüttern in Rumänien und der Ukraine, den Wanderarbeitern in Asien, den Putzfrauen auf den Canaren?

                  Wie kann das jetzt gehen: Verantwortung vor Ort hier auf 1,5m Mindestabstand und für die anderen weiter weg, die wir nicht hören, die dem wirtschaftlichen Desaster nichts entgegenzusetzen haben. Das Kind in der biblischen Geschichte, aus der die Jahreslosung stammt, ist von einem bösen Geist besessen, der es sprachlos macht. Es kann nicht reden, findet keine Worte und keine Argumente, kann keinen erweichen, niemanden überzeugen. Andere müssen an seiner Stelle reden. Im Markusevangelium ist es der Vater. Er bringt dieses arme Menschenkind zu Jesus, in der Hoffnung, dass der ihm hilft und hört: „Alle Dinge sind möglich, dem der glaubt.“ Ich möchte das gern glauben. Hilf meinem Unglauben!

                  Zu Freitag, 24. April: Gedankenreisen

                  Dompredigerin Cornelia Götz mit dem Wort zum Alltag

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                    Gestern war Welttag des Buches und mit einem Ohr habe ich im Radio noch gehört, dass jemand – ein Kinderbuchverlag? – Kinder aufforderte, anderen ihren Lieblingssatz aus ihrer Lieblingsgeschichte zu schenken. Wäre ich noch ein Kind, dann hätte ich keinen Moment gezögert und es wäre der letzte Satz aus „Pippi Langstrumpf“ geworden: „liebe kleine Kumelnus, niemals will ich werden grus“. Ich krieg Pippis sensationelle Rechtschreibung nicht mehr hin und mein Exemplar ist auf dem Boden. Aber ungefähr so muss es gewesen sein.

                    Jetzt bin ich groß geworden und der erste Satz, eigentlich nur ein Halbsatz, der mir heute einfällt, stammt von Uwe Johnson, der im August 1983 über den Kamm des Heidbergs in Güstrow schreibt: „Obschon ich dieses Bildes gewärtig zu sein hoffe in der Stunde meines Sterbens…“Ich bin unzufrieden mit mir, weil mir nichts Heiteres zuerst einfällt und krame noch ein bisschen in Gedanken, lande schon wieder bei Uwe Johnson und Jakob, der „doch immer über die Gleise gegangen war“.

                    Es scheint nichts zu helfen. Also beherzige ich einen Rat aus meiner Predigt- und Seelsorgeausbildung, erste Einfälle und Gedanken ernst zu nehmen und nicht Zeit und Kraft darauf zu verschwenden, sie zu verdrängen, sondern lieber der Frage nachzugehen, was mir da eigentlich in den Kopf gekommen ist. Ich bin noch nicht so trübsinnig, dass ich übers Sterben nachdenke – aber ich mache in dieser Zeit viele Gedankenreisen.

                    Ein Ort, den ich am Ende gerne vor meinem inneren Auge hätte, wäre der Inselblick auf Hiddensee oder einer der Wiesengründe im Vogtland. Merkwürdig, es sind gar nicht die überwältigenden Anblicke, die ich im Laufe meines Lebens zu sehen bekommen habe, irgendwo auf der Welt, er sind auch keine besonderen oder gar heiligen Räume, die mir einfallen, sondern heimatliche zutiefst vertraute Landschaften. Welttag des Buches. Da kann man mal sehen, wieviel Bücher mit Beheimatung zu tun haben, mit Wurzeln. Ich schenke meinen Halbsatz meiner Mutter, die ihn verstehen würde.

                    Sie ist keine Frau, die viele Worte macht, aber die wichtigsten Bücher meines Lebens, „Pippi Langstrumpf“, Uwe Johnsons „Jahrestage“, die Gedichtsammlung vom „Goldenen Überfluss“ und Fritz Reuters „Das Leben auf dem Lande“ habe ich von ihr. Jetzt muss ich sie ganz dringend mal wieder in den Arm nehmen dürfen. Und dann gibt es noch einen Vers aus der Bibel.

                    Die Liebe zu ihm teile ich mit einer Freundin und meiner Tochter (…ist dies Worte verschenken vielleicht eine Frauensache???): „Gott spricht: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, will ich mich von Euch finden lassen…“ Wenn das mal keine Gedankenreise nach Hause wird.

                    Zu Donnerstag, 23. April: Gleichmäßige Tage

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                      Domdienst. Draußen scheint die Sonne und man hört wieder ein paar mehr Stimmen. Nachher brauche ich noch einen Text, ein Gebet oder einen Segen für den Moment, wenn wir am Abend den Dom wieder abschließen.

                      Also hab ich auf dem Weg in den Dom schnell noch zwei Bücher gegriffen: „Grand Tour – junge Lyrik Europas“ und Herta Müller: „Im Heimweh ist ein blauer Saal“. Beide Bände eigentlich völlig ungeeignet, um Gebetstexte zu finden und trotzdem kein Wunder, dass sie mich angesprungen haben: diese Mischung aus Fernweh und Heimweh, Sehnsucht und Verknappung, das Hiersein. All das prägt diese gleichmäßigen Tage sehr.

                      Domdienst ist geschenkte Zeit. Merkwürdig, dass man das so deutlich empfindet, denn Zeit ist ja eigentlich immer geschenkt und wann wenn nicht jetzt ist Gelegenheit, Gedichte zu lesen. Das muss am Raum liegen. So lese ich Nikolina Andovna (Mazedonien): „Gesegnet ist der Mond, der am Himmel aufgetischt wird / wie jemandes Teller, der ständig allein zu Abend isst / und die Sonne, die uns daran erinnert / dass man auch aus der Ferne lieben kann…“

                      Ganz unbekannterweise können Menschen einander aus der Seele sprechen. Die Nächste, die Gott mir gegeben hat, ist manchmal ganz fern. So fern wie die Nächsten, die auf unserer Nächstenliebe angewiesen sind. Ich kenne die Gesichter und Stimmen von beiden nicht und erlebe trotzdem urplötzliche Nähe, Zusammengehörigkeit, Ähnlichkeit, Angewiesenheit.

                      Vielleicht hat damit zu tun, dass es für die Bitte um den Segen (zum Beispiel von Isaak auf seine Söhne) im Alten Testament verschiedene Übersetzungen gibt? Mal heißt es, dass „deine Seele mich segne“, dann wieder „dass deine Kehle mich segne“ – die Seele in Wort und Stimme, der Segen, der durch die Worte anderer zu uns findet, die Nähe zu denen, die woanders durchkommen müssen, all das klingt in diesen Tagen – in denen wir allein essen und aus der Ferne lieben müssen - mit und ist ganz nah.

                      Noch ein bisschen blättern in den Textcollagen von Herta Müller: „Die Pfütze ist eine Sache aus Massen Licht Das begreift die Straße nicht.“

                      Ich fühle mich ertappt. Warum hatte ich gedacht, in diesen vielen wunderbaren Collagen und Gedichten nichts zu finden, damit es ein Gebet wird, mit dem ich den Dom schließen kann – allein aber in Gedanken an alle, die gern dabei wären, um hier wieder Andacht zu feiern? In der Zwiesprache mit diesen fernen und Nahen kommen auch die Worte für meinen Tag hier.

                      ER hat es wirklich wunderbar eingerichtet.

                      Zu Mittwoch, 22. April: Sonne ohne Regen

                      Dompredigerin Cornelia Götz

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                        Die Sprecherin im Radio macht es beim Wetterbericht kurz: „Überall sonnig und trocken.“ In der Tat. Wolkenloser blauer Himmel draußen.

                        Vor ein paar Wochen war ich noch tief drin in den Fragen von Schöpfungsbewahrung und Klimawandel, meinem Lebensstil und der nicht so leicht bezwingbaren Freude an hübschen Dingen der Saison, die ich eigentlich nicht brauche. Ich war dabei, mehr zu lernen über biodynamische Landwirtschaft und die Funktion der Wiederkäuer, Bodenwerte und das Gewicht von Landmaschinen. Plastikmüll wurde weniger. Wir haben uns an den jeweiligen Theken angestellt und „unverpackt“ in Angriff genommen, Reisen quer durch Europa mit dem Zug statt mit dem Flieger gebucht. Das alles ist jetzt in den Hintergrund geraten. Nicht gut, sagt mir der Blick auf die Wetterkarte.

                        Dies Thema ist nach wie vor drängend und wird uns die nächste Krise bescheren. Spätestens aus der aktuellen Krise müssen wir lernen, wie teuer uns verspielte Zeit zu stehen kommt. Also!

                        Und trotzdem bin ich froh über Sonne ohne Regen.

                        Wegen der Trauerfeiern und Beerdigungen.

                        Draußen zu stehen, ohne Geläut und Orgel, ohne den bergenden Schutz eines befriedenden Raumes, vor allem aber ohne das Geleit derer, mit denen wir trauern, ist schwer erträglich und bei grauem Nieselwetter unvorstellbar. Wir tragen ja nicht nur sterbliche Überreste zu Grabe. Jede Beerdigung ist auch ein Hindurchgehen, ein Passageritus, von einem Leben ins andere. Die wir lieben und hergeben müssen, gehen vom Leben hier ins Leben dort. Wir gehen vom Leben mit ihnen ins Leben ohne sie.

                        Dazu braucht es Geleit. Einer der, der vorgeht aber vor allem die, die mitgehen. Gerade dann, wenn wir am Grab stehen, braucht man warme Hände, sich festzuhalten und Menschen neben sich zu spüren und hinterher tut es gut, einander lachend und weinend zu erzählen, welche Erinnerungen uns jetzt überschwemmen. Und ja, es braucht auch ganz dringend das gemeinsame Essen, den Leichenschmaus.

                        „Gott, der Herr, ist Sonne und Schild“ heißt es im 84. Psalm. Diese Sonne ist jetzt ein Schutzschild, jedenfalls auf dem Friedhof. Aber leuchtet auch anderes aus, damit wir begreifen: so kann es nicht bleiben weder im Blick auf die Beerdigung unserer Lieben noch mit Blick auf die arme Erde. Das wusste der Psalmbeter auch. Denn „Frühregen hüllt das dürre Tal in Segen.“

                        Zu Dienstag, 21. April: Holocaust

                        Wort zum Alltag

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                          Telefonat mit einer Geschichtslehrerin, die jetzt lehrplanmäßig mit dem Holocaust beginnen würde. Wie soll das gehen, online und Zuhause?

                          Wie soll das gehen in den Elternhäusern, in denen darüber nicht gesprochen wird, ganz zu schweigen von den Eltern, die zu diesem schwierigen Thema selbst nicht über ein Geschichtsbild verfügen, das zum Weitererzählen geeignet ist.

                          Wie soll gehen bei diesen schrecklichen Fakten.

                          Ich erinnere mich an den Schock unserer Tochter, die im Jüdischen Museum in Prag mit mir vor der Wand mit den vielen Namen stand. Und an ihre Tränen nach der Lektüre des ausgezeichneten Kinderbuches „Warten auf Anja“. Es gab nichts Tröstendes zu sagen, außer dass wir aufpassen müssen, dass so etwas nie wieder passiert.

                          Später waren wir in Amsterdam im Anne-Frank-Haus. Man steht in Annes Zimmer, sieht die Poster und Bilder an der Wand und versteht, das war ein ganz normales Mädchen. Jetzt in diesen Tagen, an denen sich viele Jugendliche so eingesperrt fühlen, wie Anne damals, wird noch viel schärfer bewusst, was sie erlitten hat. Alles, womit wir uns jetzt durchhelfen, nichts ging: Telefonate, Post, Kerzen im Fenster. Im Gegenteil: kein Spazieren, schon gar keine laute Musik oder weit offenstehende Fenster. Keine Kontakte, gar keine Aussicht auf Lockerung. Totale Abhängigkeit von den Helfern.

                          Wir wissen auch nicht, wann es wieder „normal“ wird und wie das dann sein wird. Aber für Anne war unabsehbar, wie schwer sich die große Feindschaft draußen, deren Ziel sie war, noch auf ihr Leben legen würde. Die Lebensgefahr, in der sie und ihre Familie schwebten, hatte eine ganz andere grausige Dimension.

                          Anne Frank hat ein „danach“ nicht mehr erlebt. Sie starb in Bergen-Belsen.

                          Am vergangenen Wochenende ist der Befreiung der Überlebenden des Konzentrationslagers im April 1945 gedacht worden. Es ist das Erinnern derer, die verschont geblieben sind und die doch nichts wissen. Elke Lasker-Wallfisch sagte: „Nur wer damals hier in Bergen-Belsen war, kann wirklich wissen, wovon wir Überlebenden reden… Nichts als Leichen, Leichen, Leichen.“ Wie soll man davon reden? Wie soll man das erklären?

                          Die Spitze dieses Eisberges macht nicht nur sichtbar, wie dringend nötig gute Bildung ist und was unserer Gesellschaft engagierten Lehrerinnen und Lehrern verdankt, sie zeigt auch, dass wir uns vor ein paar Wochen noch vor wiedererstarkendem Nationalismus und Populismus gefürchtet haben und nicht vergessen sollten, dass rechte Ideologie kein Corona kriegt sondern unser aller Abwehrkräfte braucht.

                          An diesem Wochenende hätten wir Konfirmation, Wegsegen für junge Erwachsene, gefeiert: „Schutz und Schirm vor allem Bösen, Stärke und Hilfe zu allem Guten.“ Diesen Segen brauchen wir alle, was auch immer wir jetzt angehen müssen.

                          Zu Montag, 20. April:

                          Dompredigerin Cornelia Götz mit dem Wort zum Alltag

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                            Samstagvormittag ist jetzt Spazierzeit. Ein seltener herrlicher Genuss – und eine von den Besonderheiten dieser stillen Zeit, die ich vermissen werde. Wir sind auf dem Weg ins Warnetal und reden über die anstehende Schulöffnung. Gerade habe ich eine Lehrerin getroffen, die den Kopf schüttelte – allein die Schultoiletten – wie soll das gehen mit der groß angelegten Hygiene?

                            Wir haben uns schaudernd an manche solcher Örtlichkeiten erinnert: „Erbarmungswürdig!“ Oder doch nur “erbärmlich“? Gibt es einen tieferen Unterschied zwischen diesen beiden Worten? Der Duden hält die beiden Adjektive offenbar für höchstens hinsichtlich des Sprachniveaus unterschieden. Als Synonyme zählt er Gleiches auf: beide Worte bezeichnen etwas Jämmerliches in sehr schlechtem Zustand, elend, armselig, heruntergekommen, mitleiderregend.

                            Wir hängen dem noch ein bisschen nach und neigen dazu, dass Schultoiletten doch eher erbärmlich und die Kinder, die sie nutzen müssen erbarmungswürdig sind, da sagt mein Mann sich umsehend: „Das Erdreich decket seien Staub mit einem grünen Kleide…“ Was für eine Assoziationskette sein Hirn da gebastelt hat! Aber er hat ja recht. Der Raps blüht, überall frisches Grün und dazwischen Blüten, gelb und weiß und jetzt auch lila. Paul Gerhard hat das wunderbar bedichtet. Dank ihm haben wir ein Lied, das wirklich viele Menschen lieben: „Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerszeit…“ Und schon sind wir in der nächsten Wortklauberei.

                            Warum heißt es „Sommerszeit?“ wenn das ganze Lied doch voller Frühlingsbilder steckt? Kannte Paul Gerhard das Wort „Frühling“ nicht? „Märzen“ und „Maien“ hätten metrisch auch gepasst. Nun singen wir das schöne Lied meistens viel zu spät im Jahr – nur wegen des Aufmachers.

                            Spannend, war uns bisher gar nicht aufgefallen. Es ist ein herrlicher weg. Im Mischwald blühen wilde Kirschen, am Wegrand eine Goldammer und ein Graureiher, über dem Feld ein Falke und unten ein Hase. Dicke Hummeln. Soviel Schönheit um uns herum. Kein Gedanke mehr an Schultoiletten – dafür aber an Narzissen und Tulpen, das Täubchen in den Wäldern…Dann wird das Reden wieder ernster.

                            Aber die Erfahrung bleibt. Solches Hellwerden muss mit „Erbauung“ gemeint sein. Beim Schreiben später denke ich: Vielleicht ist es ja eigentlich ein Osterlied? „Hilf mir uns segne meinen Geist, mit Segen der vom Himmel fleußt“ heißt es in der dreizehnten Strophe. Den werden wir brauchen: Segen auf unserem Verstand und Geist, damit wir jetzt gute segensreiche Wege finden und das Adjektiv „erbärmlich“ nicht zu viel Anwendung finden muss.

                            Zu Samstag, 18. April:

                            Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

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                              Normalerweise – wie oft man das dieser Tage sagt und schreibt! – würden wir morgen im Braunschweiger Dom Gottesdienst gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Neuerkerode feiern. Allermeist ist das eine ganz besonders fröhliche Stunde voller unmittelbarer und spontaner Reaktionen, mit viel Lächeln und begeistertem Gesang. Ins Kirchenjahr, so unmittelbar nach Ostern, wenn alles neu und heil sein darf, passt dann eine Tauferinnerung.

                              Die wenigstens unter uns haben ihre Taufe bewusst miterlebt, denn die meisten waren ja kleine Kinder – jedes auf seine Weise berückend und vollkommen. Erst im Laufe des Lebens versteht man, dass so klug und schön, so erfolgreich und begabt, so liebevoll und geliebt wir auch immer sein mögen: niemand ist vollkommen. Bei den einen springt uns die Unvollkommenheit unmittelbar an, bei den anderen überrascht sie uns schmerzlich, bei uns selbst verdrängen wir sie oder nehmen sie tapfer zur Kenntnis. Eigen ist sie uns allen. Aber nicht jedem gelingt es, mit der eigenen Unvollkommenheit Frieden zu schließen.

                              Manche Menschen quälen sich ungeheuer, um ihre offensichtlichen oder nur vermeintlichen Schwächen und Mängel loszuwerden und vergessen darüber, dass sie keinen Schritt weiterkommen werden, wenn sie sich nicht selbst lieben lernen.

                              Das gelingt am besten, wenn wir uns in den Augen derer spiegeln, die uns lieben, mit unseren Schwächen leben und unserer Fehler zärtlich ansehen – dieser Tage kann man sich ausgezeichnet darin üben! Es gelingt erst recht, wenn wir uns mit den Augen Gottes sehen. Bei der Tauferinnerung haben wir deshalb allen mit Taufwasser ein Kreuz in die Hand oder auf die Stirn gezeichnet und dazu gesagt: „Du ist ein Geschenk Gottes!“

                              Und deswegen bist du richtig genauso wie Du bist. Zwischen den Neuerkerödern, die in so einem Moment von innen heraus leuchten, begreifen das alle anderen auch. Es ist eine Erfahrung voller Dankbarkeit und Erleichterung.

                              Auf einer anderen Ebene hat Dietrich Bonhoeffer beschrieben, wessen wir uns dabei erinnern: Es kommt darauf an, schreibt er, „ob man dem Fragment unseres Lebens ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war.“

                              Zu Freitag, 17. April:

                              Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

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                                Immer noch keine Gottesdienste oder wenigstens Andachten, immer noch keine Kitas und Grundschulen offen und Eltern allein mit fast allem. Immer noch kein Land in Sicht. Noah schickte den Raben aus der Arche, damit er sucht, ob es Land gäbe, irgendwo. Aber er kommt nicht zurück. Er bringt keinen Zweig. Ist er vor Erschöpfung verloren gegangen?

                                Dann schickt er die Taube. Nicht gleich. Dazwischen wartet er. Und wartet noch länger. Die Taube kommt zurück, weil sie kein Land gefunden hat. Ehe sie ein zweites Mal losfliegt, ehe sie den Ölzweig bringt, wartet Noah wieder, wochenweise. Und dann wartet er, bis das Wasser endlich gesunken ist. Er wartet, so wie wir warten. Von Termin zu Termin, nun bis Anfang Mai.

                                Wie geht diese Warten? Das Bild von der Arche taugt nur beinahe. Wir sind ja nicht die Auserwählten, die so untadelig gelebt haben, wir sind alle mittendrin – auf die eine oder andere Weise betroffen, ausgeknockt. Wir spüren, wie sich Gewohnheiten ändern oder verlieren. Worauf warten wir jetzt? Worauf hoffen wir?

                                Mir hilft immer wieder Dorothee Sölle (und es hat mir gutgetan zu lesen, dass einer wie Heiner Wilmer, Bischof in Hildesheim, bei ihr auch eine Kraftquelle hat). Sie hat ein Gedicht für die Tage nach Ostern geschrieben, Song auf dem Weg nach Emmaus: „So lange gehen wir schon / weg von der Stadt unserer Hoffnung / in ein Dorf wo es besser sein soll Haben wir nicht geglaubt / wir könnten die angst überwinden…So lange gehen wir schon / in dieselbe die falsche Richtung / weg von der Stadt unserer Hoffnung / in das Dorf wo wasser sein soll Haben wir nicht gedacht wir wären frei…“

                                So lange sind wir gegangen / in dieselbe die falsche Richtung …“So lange schon. Das dämmert uns in all der Warterei ja auch. Es ist eine lange Geschichte, wir gehen schon lange falsche Wege. Es geht jetzt also nicht nur darum zu warten, sondern auch umzukehren. Dorothee Sölle: „Da kehrten wir um und gingen / in die Stadt der begrabenen Hoffnung - Der mit dem wasser geht mit / der mit dem Brot geht mit / wir werden das wasser finden / wir werden das wasser sein.“

                                Zu Donnerstag, 16. April:

                                Wort zum Alltag von Dompredigerin Cornelia Götz

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                                  Helle und lichte Tage sind das jetzt, länger und manchmal auch wärmer, voller gelb und grün, grüngelb und gelbgrün. Herrlich! Ein bisschen Regen wäre gut… Auch die Ostertexte der Bibel sind voller Fröhlichkeit. In diese Woche gehört Hannas Lobgesang aus dem 1. Samuelbuch: „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn … mein Mund hat sich weit aufgetan … denn ich freue mich!“

                                  Darauf antwortet folgender Halleluja-Vers: „Dies ist der Tag, den der HERR macht. Lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein!“Das versuchen wir, oft gelingt es. Wir haben trotz allem immer wieder Grund zur Freude. Es gibt viel Aufmerksamkeit, Nachbarschaft, Dankbarkeit, viel mehr als man sich in normalen Zeiten schenkt. Es gibt um uns herum Natur, die aufatmet und ins Leben drängt. Und doch, da stört die tiefe Unruhe in uns, die nicht nur aus der Sorge um die Zukunft kommt, sondern auch aus der Sorge um alle, die wir genau jetzt aus den Augen verlieren und nicht sehen.

                                  Dieser Ostertag zum Freuen und Fröhlich Sein ist ja kein Privileg, das Gott genau uns verleiht, damit wir es noch ein bisschen besser haben. Diesen Tag macht der HERR auch und gerade dort, wo die Not zum Himmel schreit. Aber in welcher Situation trifft er die Menschen an? Wo kann da Freude herkommen?In dieser unserer Zeitung konnte man am Dienstag lesen, dass Christos Christou, Präsident von Ärzte ohne Grenzen, angesichts des Elends der Kinder im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos gesagt hat.

                                  „Diese Kinder haben den Appetit auf das Leben verloren, sie sprechen nicht, sie spielen nicht…“ Wie weit muss es kommen, bis Kinder nichts mehr vom Leben erwarten! Kinder, die doch allermeist schon aus kleinen Dingen Freude und Begeisterung schöpfen können! Wer selbst Kinder hat, weiß, dass man stundenlang wach liegt, sich sorgt und nicht klar denken kann, wenn Kinder unglücklich sind, sich aufgeben, sich selbst nicht mögen, keine Kraft zum Leben haben. In solchen Momenten ist man gern breit, auf alles, wirklich alles, zu verzichten, damit es wieder besser wird.

                                  Was lässt uns so zögern, wenn es um fremder Menschen Kinder geht? Immerhin ist das Kindeswohl der Kinder in unserem Land, die jetzt kein geborgenes Zuhause haben und Schutz brauchen, wieder mehr im Blick. Aber was ist mit denen, die gar nichts mehr haben? Keine Eltern, kein Zuhause, keinen Kinderarzt, keine Schule, keine Zukunft?Corona wird eines Tages für eine Zäsur stehen. Hoffentlich ist es im Rückblick keine Zeit, in der wir die Welt um uns herum vergessen haben.

                                  Hoffentlich missbrauchen wir Corona nicht als Begründung, uns nur noch auf unsere Bedürfnisse zu konzentrieren. Hoffentlich verlieren nicht noch mehr Menschen den Appetit auf das Leben. Hoffentlich erinnern wir uns an Ostern 2020 als einer Zeit, der man abspüren konnte, dass wir nicht vor lauter Angst blind und hart geworden sind, denn „dies ist der Tag, den der HERR gemacht hat.“

                                  Zu Mittwoch, 15. April:

                                  Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

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                                    Nahezu jeder Text, jedes Gedicht, jede Liedzeile klingt dieser Tage anders in unseren Ohren, wir hören andere Nuancen und andere Betonungen, wir hören zwischen den Zeilen. Ganz egal, ob Udo Lindenberg singt „Hinter dem Horizont geht’s weiter, ein neuer Tag … zusammen sind wir stark“ oder Eva Strittmatter dichtet: „Das Lächeln, das den andern meinte, nicht uns und unsre Traurigkeit, die Träne, die dem andern weinte, nicht unserer Vergänglichkeit… das war des Lebens Überfluss“ – man hört genauer hin.

                                    So geht es mir auch mit Gebetstexten. Sie klingen auf einmal intensiver, dichter und passen unverhofft in die Zeit. Im Gottesdienstbuch zur Bibel in gerechter Sprache wird als Eingangsgebet für das Osterfest vorgeschlagen: „Hilf uns bewahren und pflegen, was du uns schenkst: das Leben. Dass Ostern ein Anfang sei und wachse, blühe und gedeihe in unseren Herzen und Händen.“

                                    „Hilf uns, das Leben zu pflegen und zu bewahren!“ In der Tat, darum dreht sich im Moment beinahe jeder Gedanke. Für die einen geht es ganz grundsätzlich und existenziell um Pflege, um Leben und Tod – andere hören eher die Frage, wie man gesellschaftliches, kulturelles, öffentliches Leben bewahren und durchretten kann. Und wer auf dem Friedhof steht, erinnert sich vermutlich schneller als andere daran, dass wir unser Leben aus Gottes Hand nehmen und es am Ende auch dorthin zurücklegen. Das ist gut so.

                                    Aber dazwischen liegt das Leben in unserer Hand. Dazwischen ist Ostern ein Anfang, ein Neubeginn – uns in die Hände und Herzen gelegt, damit diese Hoffnung blüht und gedeiht. Und das ausgerechnet in dieser Woche, in der alle Welt auf Ostern und die Tage danach wartet! Ostern ist auf einmal zum Inbegriff des Termins geworden, nachdem es weitergehen soll, erleichtert, gelockert, aufatmend. Ostern ist das Datum, an dem sich zeigen soll, ob unser Alltag dem Leben dient. Unglaublich! Hoffentlich!

                                    Ob und wie es nun wieder weitergehen wird, werden wir morgen ein bisschen genauer wissen. Wir werden uns dann wahrscheinlich unseres menschlichen Maßes neu bewusst werden müssen. Wir werden neu mit der Wahrheit umgehen müssen, dass Jugend und Gesundheit vergänglich sind, dass wir sterben müssen. Wahrscheinlich werden wir neu lernen müssen, dass Umkehr nicht ohne Verzicht möglich ist, großer Wohlstand seines Preis hat. Alles ist anders. Nach Ostern haben wir in den Händen, dass uns das nicht schrecken muss.

                                    Zu Dienstag, 14. April Ein Ostern trotz Leerstellen

                                    Wort zum Alltag aus dem Braunschweiger Dom

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                                      Ostern 2020. Wir werden es nicht vergessen. Es gab viele Leerstellen und war doch wirklich Ostern. Hilde Domin schrieb in einem ihrer Gedichte. „Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug.“ So ungefähr war es am Sonntagmorgen auf dem Dom- und Burgplatz.

                                      Irgendwie musste man seinen Fuß in die Luft setzen und hoffen, dass sie trägt, dass Ostern geschieht. Wir hatten drinnen die Osterkerze und den großen Leuchter angezündet. Als das große Geläut verklang, stand in jeder Tür ein Bläser, drinnen toste die Orgel und so schallte es auf die sonnenbeschienenen Plätze im Herzen unserer Stadt: „Christ ist erstanden.“ Die Menschen – natürlich im gebührenden Abstand – sangen dazu. Ich ging zwischen ihnen her mit dem alten Ostergruß auf den Lippen: „Der Herr ist auferstanden!“ Alle lächelten, fast alle mit Tränen in den Augen. Erleichtert. Ja! „Er ist wahrhaftig auferstanden.“

                                      Und dann erging es wohl den meisten wie den Emmausjüngern aus dem Lukasevangelium. Sie gingen, zu zweit!, zurück in das Leben, in dem derzeit so Vieles fehlt und der Horizont so eng gezogen ist. Zurück in das Leben, in dem wir so sehr mit uns selbst beschäftigt sind.

                                      Ich erinnere mich dieser Tage viel an die Frauen, Kinder und alten Männer einer schwarzen Gemeinde, die wir 2018 in Chicago besucht haben. Sie leben in der Southside, in sogenannten Fooddeserts, Stadtvierteln, in denen es keine Supermärkte, Kioske, Restaurants, Apotheken, Schulen gibt. Bestatter sicherlich auch nicht. Die Infrastruktur ist absichtlich abgezogen worden, damit die Menschen ihre Häuser aufgeben und weggehen, denn die Grundstücke sind kostbar.

                                      Es gab wenige junge Männer dort. Viele, sehr viele, sitzen im Gefängnis. Zu viele sind tot. Es sprengt meine Vorstellungskraft, wie diese Familien jetzt durchkommen sollen. Wie Ostern dort geklungen haben mag, mitten im großen Sterben. Sie werden auch gestern gesungen haben, mit der unvergleichlichen Lebendigkeit ihrer Lieder, Rhythmen, Stimmen – voller Zorn und Trauer, voller Hoffnung endlich auferstehen zu dürfen, Gerechtigkeit zu erfahren, leben zu können.

                                      Sie singen wie die Emmausjünger geredet haben werden. „Brannte nicht unser Herz?“ So fragten sich die die Emmausjünger nach der Begegnung mit dem Auferstandenen. Und wir? Brannte nicht unser Herz als wir die Not derer gesehen haben, die immer ihren Fuß in die Luft setzen müssen, die immer aus der Hoffnung leben müssen, dass die Luft trägt? Brannte nicht unser Herz? Am Ostermorgen, vorgestern und damals, als wir uns anrühren ließen und nicht nur in der Welt unserer eigenen Sorgen, Szenarien, Wünschen festhingen?

                                      Das alte Osterlied „Christ ist erstanden“ endet in den ersten beiden Strophen auf „Kyrieleis!“ Erbarme Dich! Erst dann folgt das große Halleluja. Erbarme dich, Auferstandener, erbarme dich all derer, die wir gerade vergessen!

                                      Zu Samstag, 11. April: Ich glaube an Ostern

                                      Wort zum Alltag - Karsamstag

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                                        Vorgestern schrieb mir einer im Nachgang des Gedenkens an die Hinrichtung Dietrich Bonhoeffers: Er und andere Menschen „standen ganz für sich mit ihrem Leben ein, gegründet auf tief wurzelndes Gottvertrauen … Könnten Sie noch deutlicher die mündigen Christen ansprechen?“

                                        Mündige Christen sind solche, die sich entscheiden zu glauben und zu hoffen, die sich wagen, ein Bekenntnis zu formulieren und sich bewusst sind, dass wir letztlich allein vor Gottes Angesicht stehen, so wie wir gestern allein unterm Kreuz und heute am Grab Jesu stehen. Dabei liegt solche Vereinzelung nicht an Corona, jetzt spüren wir nur in aller Klarheit: dieses unbegreifliche Geschehen damals hat mit mir zu tun, mit jeder und jedem Einzelnen, mit unserem Leben, heute, hier.

                                        Wenn wir mündige Menschen sind, also solche, die selbst urteilen und wählen und für ihr Tun Verantwortung übernehmen, dann betrifft uns das Sterben Jesus Christi nicht wie ein historisches Ereignis, das nur die verantwortet haben, die „Kreuzige ihn!“ geschrien haben. Es betrifft uns als Wahrheit unseres eigenen Lebens.

                                        Diese Einsicht soll nicht diejenigen unter uns verstärken, die in dem Virus eine Strafe Gottes für unser gieriges, gewaltvolles, ungerechtes Leben sehen. Der Virus ist eine Naturkatastrophe. Eine andere Deutung würde Jesu Tod am Kreuz kleinreden und missachten. Denn er starb, damit die Aufrechnung unserer Taten ein Ende hat. Wir kriegen nicht, was wir verdienen. Gott sein Dank.

                                        Im Predigttext zum gestrigen Karfreitag stand: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber.“ Gott nimmt uns ab, dass wir uns die Stirn daran blutig schlagen, wie wir Menschen sind und wie wir uns eingerichtet haben, wie ich bin und wie ich lebe. Er befreit uns davon aber nicht, damit wir uns einen faulen inneren Frieden gönnen. Er befreit, versöhnt und befriedet uns, damit wir uns nicht ohnmächtiger Lähmung, fatalistischer Fremdbestimmung hingeben, sondern die Möglichkeiten und Gestaltungskraft nutzen, die wir ja haben.

                                        „Er hat unter uns das Wort der Versöhnung aufgerichtet. So sind wir nun Botschafter an Christi statt“. Jede und jeder Einzelne eine Botschafterin, ein mündiger Mensch, der sich entscheiden kann.

                                        Und dafür ist Corona dann vielleicht wieder gut: Die Ruhe des Karsamstages, die Stille am Grab hilft, bewusst zu machen, was der Zustand der Welt mit mir und meinem Leben zu tun hat. Diese Stille hilft, darauf zu hören, dass Ostern bedeutet, dass wir etwas tun können, dass wir Frieden schließen können - mit unserer Erde, mit denen, die mit uns auf ihr leben, mit uns selbst.

                                        Dorothee Sölle hat in einem Glaubensbekenntnis formuliert:

                                        „Ich glaube an den Geist, der mit Jesus in die Welt gekommen ist, an die Gemeinschaft aller Völker und unsere Verantwortung für das, was aus unserer Erde wird: Ein Tal voll Jammer, Hunger und Gewalt oder die Stadt Gottes. Ich glaube an den gerechten Frieden, der herstellbar ist, an die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens für alle Menschen an die Zukunft dieser Welt Gottes.“ Ich glaube an Ostern.

                                        Zu Donnerstag, 9. April: Dietrich Bonhoeffer

                                        Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

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                                          Heute vor 75 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer in Flossenbürg hingerichtet. Dass wir seiner nicht angemessen gedenken können, gehört zu den Unerträglichkeiten dieser Tage.

                                          Dies umso mehr, als sein Widerstand einem Staat galt, der die Würde der Menschen mit den Kriterien einer abscheulichen Ideologie abschichtete als wäre uns erlaubt, über Leben und Tod zu verfügen.

                                          Dies umso mehr als sein Ringen um einen anständigen Weg in der Nachfolge Jesu mitten in dieser Welt aktueller nicht sein könnte.

                                          Dietrich Bonhoeffer war ein begabter Mensch, er konnte, so erzählen es Zeitgenossen, musizieren, tanzen, reden, schreiben – vieles besser als andere. Und er war ein ganz normaler Mensch aus Fleisch und Blut, ein Sohn, ein Bruder, ein Freund, ein Verlobter.

                                          Im Februar 1945 schriebt Paula Bonhoeffer an ihren Sohn:

                                          „Mein lieber Dietrich! Meine Gedanken sind Tag und Nacht bei Dir in Sorge, wie es Dir ergehen mag. Hoffentlich kannst Du etwas arbeiten und lesen und kommst nicht zu sehr herunter! Gott helfe dir und uns durch diese schwere Zeit! Deine alte Mutter – wir blieben in Berlin, komme was da wolle.“

                                          Es sind die letzten Zeilen in „Widerstand und Ergebung“, der Sammlung von Briefen und Texten aus Dietrich Bonhoeffers Haft.

                                          Wüsste man es nicht besser, dann könnte das auch ein Briefgruß aus diesen Tagen sein, wenn Menschen, die sich nicht sehen dürfen vor lauter Sorge umeinander nicht zur Ruhe kommen, wenn sie sich auszumalen versuchen, ob und wie, der an dem sie hängen, jetzt wohl durchkommen mag.

                                          Wüsste man es nicht besser, es könnte ein Gruß dieser Tage sein – aus einer Welt, die im Rutschen scheint, in der man wartet, versucht, verlässlich da zu sein, „komme, was da wolle“.

                                          Einige Monate vorher hatte Maria von Wedemeyer, Dietrich Bonhoeffers Braut, geschrieben: „Ich habe einen Kreidestrich um mein Bett gezogen, etwa in der Größe Deiner Zelle. Ein Tisch und ein Stuhl steht da … Und wenn ich da sitze, glaube ich schon beinahe, ich wäre bei Dir…“

                                          Wäre. Nähe war damals so wenig möglich wie heute auch. Nähe war damals wie heute trotz allem in großer Dichte möglich. In Dietrich Bonhoeffers Texten kann man sie ahnen, kann man spüren, wie er Hoffnung schenkte und Klarheit. So schrieb er:

                                          „Es ist das Befreiende von Karfreitag und Ostern, dass die Gedanken weit über das persönliche Geschick hinausgerissen werden zum letzten Sinn alles Lebens, Leidens und Geschehens überhaupt und dass man eine große Hoffnung fasst.“

                                          Zu Mittwoch, 8. April: Traurigkeit der Karwoche

                                          Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

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                                            Nachdem Jesus Christus gefangen genommen worden war, geschieht unweigerlich, was er angekündigt hatte: Petrus, sein Freund, sein Jünger, sein Gefährte verleugnet ihn. Dreimal. Dann bricht er in Tränen aus.

                                            Es sind Tränen der Scham, denke ich.

                                            Scham, es ist nicht geschafft zu haben, obwohl man es sich so sehr vorgenommen und mit ganzem Herzen gewollt hatte. Scham, eingebrochen und schwach zu sein, obwohl das gar nicht zum Selbstbild eines Leistungsträgers passt. Scham über die wahnsinnige Angst, die alles an den Rand drängt und überlagert, was eben noch die Mitte meines Lebens und Ansporn all meines Tuns war. Scham über die eigene Feigheit, den eigenen Opportunismus, weil man seinen Glauben und Überzeugung sofort verraten hat, als man damit nicht mehr gewinnen und leuchten konnte.

                                            Es ist schwer, andere teilhaben zu lassen, wenn es nicht gut läuft.

                                            Es ist schwer, von sich selbst zu sprechen, als von der, die gerade scheitert.

                                            Es ist schwer, einem Verlierer die Treue zu halten.

                                            Es ist schwer, tapfer zu sein, wenn alles bröckelt…

                                            So schwer, dass passiert, was man schon gar nicht wollte: Weinen, in aller Öffentlichkeit. Dann lieber lügen. Dann lieber verdrängen und verstecken.

                                            Und dann?

                                            Die Theologin Dorothee Sölle dichtete:

                                            „Wenn du traurig bist / wird dein blick unbestimmt / es gibt nichts mehr / zu erforschen

                                            Wenn du traurig bist / sind deine hände verloren / es gibt nichts mehr / zu bearbeiten

                                            Wenn du traurig bist / geht die sonne weg / es gibt nichts mehr / zu sehen.“

                                            So fühlt sich die Karwoche an. Auch diese Traurigkeit braucht ihre Zeit. Der Schmerz über die verlorenen Träume, die zerstörten Hoffnungen, die Ruinen unserer Arbeitsergebnisse – auch das braucht seine Zeit.

                                            Und dazu kommt die existentielle Traurigkeit. Wo führt das alles hin?

                                            Im Markusevangelium geht es nach diesen Tränen alles sehr schnell. In meiner 2017er Lutherbibel muss ich nicht mal umblättern, um bis Ostern und Himmelfahrt zu lesen. Die Zeit der Tränen, des Stillstandes, der verdunkelten Zukunft kann offenbar keiner lange aushalten. Das merken wir im Moment vielleicht deutlicher als sonst.

                                            „Wenn du traurig bist / wird dein blick unbestimmt…“ Ja. Aber Tränen waschen ab und reinigen auch, klären. Mit Kindern singt man dann, um sie zu trösten: „Heile, heile Segen…“ Es heißt nicht: „Heile, heile, gut Ding, braucht gut Weile.“ Das wäre gelogen, denn es wird nicht alles gut.

                                            Es heißt „Heile, heile Segen…“

                                            Zu Dienstag, 7. April: Fußwaschung

                                            Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

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                                              Zur Karwoche gehört die Geschichte von der Fußwaschung. Johannes erzählt in seinem Evangelium wie Jesus Christus „erkannte“, also sich dessen bewusst wurde, dass sein Weg zu Ende ging und wie sehr er an denen hing, mit denen er unterwegs gewesen war. Vielleicht überwältigt ihn die Traurigkeit? Jedenfalls bricht er in diesem Moment nicht in Tränen aus, sondern tut etwas: er wäscht seinen Freuden die Füße.

                                              Fußwaschung. Haben Sie das schon einmal erlebt? Ich verbinde mit dieser Erfahrung äußerst ambivalente Gefühle. Da war einerseits eine Fußwaschung wie eine Selbsterfahrung. Wir wuschen einander die Füße in einem Team jugendlicher Mitarbeiter im Vorfeld einer Konfirmandenfreizeit. Mir ging das zu nah. Ich war überrascht, wie intim gerade die Berührung der Füße ist und habe mich wehrlos gefühlt. Es tat mir nicht gut.

                                              Jahre später kam ich vom Schwarzenstein, meinem Dreitausender in Südtirol. Wir waren am Morgen von der Hütte auf den Gipfel gestiegen und dann runter gelaufen ins Ahrntal. Eine unglaubliche Tour. Aber die letzten Meter waren hart. Die Füße brummten und glühten, der kleine Wiesenweg bis zum Quartier war asphaltiert. Nur noch ein Gedanke im Kopf: bitte endlich ankommen.

                                              Damals wurden wir von den Daheimgebliebenen mit Wasserschüsseln und Handtüchern erwartet. Fußwaschung. Ich erinnere mich an mein Zögern und auch dann wieder eine Überraschung: was für ein wohltuender Dienst, wenn man stundenlang gelaufen ist! Die Dankbarkeit gegenüber den eigenen Füßen, die mich so weit getragen hatten ging auf in der Dankbarkeit gegenüber der, die jetzt so liebevoll Blasen und Druckstellen kühlte, die kaputten Füße pflegte.

                                              Was für ein Unterschied. Ich habe damals verstanden, dass der Unterschied daran liegt, ob ich wirklich gelaufen bin.

                                              Jesus wusch denen die Füße, mit denen er wirklich weite Wege zu Fuß gegangen war. Und er sagte: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben.“

                                              Ich lese das so: Lasst uns nachdenken, was denen, die wir lieben wirklich gut täte, wo ihre wunden Punkte und Druckstellen sind und uns überlegen wie wir ihnen Erleichterung schaffen können. Dann wird aus diesem Zeichen das, was es vielleicht sein sollte: eine Liebestat. Im besten Sinne des Wortes.

                                              Zu Montag, 6. April: Diese Stille auf einmal ...

                                              Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 15

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                                                Gestern war Palmsonntag und damit der Tag, an dem die Christenheit an Jesu Einzug in Jerusalem erinnert. Das Neue Testament erzählt wie die Menschen an der Straße standen, jubelten und ihn feierten.

                                                In der ganzen Ambivalenz, ob das einer ist, an den wir glauben können, ob es Hoffnung macht, in dem der da staubig und mit wunden Füßen endlich ankommt, den zu sehen, mit dem alles gut wird, entscheiden sich die Menschen dafür, zuversichtlich zu sein.

                                                Später wird es noch andere Tage geben und wir durchschreiten sie exemplarisch in dieser Woche. Tage, an denen der Zweifel überwiegt, an denen man nicht zu denen gehören will, die so naiv waren an diesen verletzlichen Gott zu glauben, an denen es schmerzhafte Irritationen bereitet, das, was gerade passiert, für Gottes Willen halten zu sollen.

                                                Es wird noch dunkler werden als es schon ist.

                                                Aber jetzt, in diesem Moment, ist Hoffnungslosigkeit ein Luxus, den sich keiner gönnt. Jetzt singen die Menschen erleichtert und in hellen Tönen: „Hosianna, gelobt sei der da kommt!“

                                                Es klingt nach Weihnachten, nach unverdorbenem und unschuldigem Leben, nach Licht und Fröhlichkeit, nach einem hellen warmen Tag. In Braunschweig hätten wir das singend, mit einem Umzug, auf dem Burgplatz gefeiert. Die Kinder der Mädchen- und Jungenkantoreien wären in einem langen Zug zwischen den Spalier stehenden Gottesdienstbesuchern hindurchgezogen und alle hätten gesungen, damit es in die ganze Stadt tönt: Hosianna!!!

                                                Danach wären wir alle wieder in den Dom gezogen, hätten weiter der biblischen Geschichte zugehört und heute hätte es die erste Passionsandacht gegeben.

                                                So aber stand ich nun gestern ganz allein im Dom. Die Sonne schien durch die Fenster. Ich habe zwei Kerzen angezündet, an meine Kinder gedacht und dann: diese Stille! Die muss es damals auch gegeben haben, sie fällt nur nicht auf in der Geschäftigkeit unseres Lebens. Diese Stille, nachdem sich die Menschen wieder verstreut haben und heimgegangen sind. Diese Stille, in der sich in uns bewahrheiten muss, ob wir dieser Hoffnung Kraft und Zukunft zutrauen. Die Stille wird bis Karsamstag immer tiefer werden.

                                                „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ So steht es als Jahreslosung über 2020. Ich glaube. Hilf mir, dass ich das auch ohne die Formen dieser besonderen Woche im Kirchenjahr kann! Ich glaube, dass in dieser Stille nicht die Mutlosigkeit überhand nehmen muss, sondern die Hoffnung wächst. Ich glaube, dass der Stein weggerollt werden wird.

                                                Hilf meinem Unglauben! Denn noch ist es so unfassbar still.

                                                Zu Sonntag, 5. April: „Es ist Sonntagmorgen...“

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                                                  Das DDR-Liedermacher-Duo „Pension Volkmann“ sang auf einer von mir sehr geliebten Platte: „ Es ist Sonntagmorgen auf der ganzen Welt, die Kirchenglocken läuten, dass es Gott gefällt. Es ist Sonntagmorgen, Zeit für ein Gebet, für Haus und Hof zu sagen, wo Haus und Hof noch steht.“ Und wenn ich mich richtig erinnere, ginge es dann weiter: „ Nun lehn Dich an Dein Gartentor mit einer Flasche Bier und gib Dich nett und moderat, der Nachbar dankt es Dir…“

                                                  Damals habe ich das Lied schon deshalb gern gehabt, weil so selbstverständlich von der Platte klang, dass Sonntags Kirchenglocken läuten und Menschen beten obwohl das in der DDR ja wahrlich nicht das war, was die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mit seiner wissenschaftlich-kommunistischen und dazu atheistischen Weltanschauung mit dem Sonntag verbinden sollten.

                                                  Und außerdem hatte das Lied noch eine herrlich weltweite Dimension: ja, es ist Sonntag auf der ganzen Welt und Glocken läuten überall und das verbindet uns, auch wenn wir nirgendwo hinkönnen!!! Und an diesem Wochenende klingt noch was mit, was ich früher eher tolerieren musste, denn der Sänger Peter Butschke geht ja gar nicht in den Gottesdienst, sondern lehnt sich mit seinem Bier über den Zaun. An diesem Sonntag gehe ich auch nicht in den Gottesdienst.Dass uns diese Wirklichkeit nochmal einholen würde!!!

                                                  Dass wir jetzt auch aus dem Fenster hängen müssen oder auf dem Balkon stehen, statt in den Gottesdienst zu gehen – ich hätte es noch vor einem Monat für ein völlig ausgeschlossenes Szenario gehalten! Aber jetzt ist so und was können wir tun?!

                                                  Einen Vorschlag haben wir mit unserem Osterbrief gemacht: Die Glocken werden läuten. Es ist ja „Sonntagmorgen auf der ganzen Welt…“ Und dann Karwoche. Stellen Sie auch um sieben eine Kerze ins Fenster, singt und betet, wenn die Glocken läuten!

                                                  Und wenn Ihnen das komisch vorkommt, dann tun Sie es trotzdem, denn es gibt viele Menschen, die davon zehren, zu wissen, dass genau jetzt Andere das auch tun und die sich so verbunden und getröstet fühlen.

                                                  Zu Freitag, 3. April: „Gott sieht Dich!“

                                                  Wort zum Alltag 13

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                                                    Als unsere Kinder klein waren, haben wir abends vorm Schlafen gebetet und ich habe dann meine Hände, so wie es mein Vater bei mir gemacht hat, über denen kleinen Händchen meiner Kinder gefaltet. „Gib mir meine Hand“ hat mein Cousin das seltsam falsch und wunderbar richtig genannt. Dieser abendliche Moment war eine kostbare Gelegenheit, einzusammeln, was tagsüber geschehen war, sich, wenn es noch nötig war, wieder zu vertragen und zu vergewissern, dass niemand im Dunkel der Nacht ganz allein ist. Gott passt ja auf. Er sieht dich.

                                                    Eines Abends sind wir Eltern nach dem Zubettbringen zu den Freunden auf der anderen Straßenseite gegangen, um Doppelkopf zu spielen. Das Kinderzimmerfenster war im Blick. Alles ruhig, alles dunkel, alles gut.

                                                    Aber als wir dann spät abends heimkamen, fanden wir ein völlig verzweifeltes verweintes Kind vor. Es war aufgewacht und hatte gemerkt, dass keiner da ist und dann vertraut: Gott würde ja sehen, dass es allein ist und würde sich kümmern, würde dafür sorgen, dass wir heimkämen. Aber das passierte nicht. Zum Kummer über die schlechten Eltern kam der Zweifel, ob das stimmte mit dem lieben Gott, der mich sieht und nicht vergisst.

                                                    Später wurde die Sorge größer: Kann denn der eine Gott so viele Sorgen und Probleme gleichzeitig sehen und klären und sind meine Nöte dann wahrscheinlich gar nicht die wichtigsten auch wenn sie mich so sehr quälen?Es ist eine alte große Frage, die wunderbar in dem Musical „Anatevka“ besungen wird: „Ja, anderswo ist es noch viel schlimmer aber bitte Herr, guck doch einen Moment weg von den Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt, guck hierher, bitte!!!, das Pferd lahmt, die Frau macht nicht mit und die Tochter liebt den falschen Mann, bitte nur einen Moment – sieh hierher!!!“

                                                    Wird er das tun? Und zwar nicht im Sinne eines Controletti, der mich ständig all dessen überführt, was ich falsch mache, sondern als Einer, der mich im Blick behält, wenn ich mich verliere – im Dunkel der Nacht, in der Wüste meiner leeren Stadt, in den Sorgen um das was kommt.

                                                    Ich hatte schon erzählt von meinem Projekt, die Bibel abzuschreiben und nochmal genauer hinzuhören (Sie finden es auf der Domseite!). Inzwischen bin ich bei Hagar angekommen, Abrahams schwangerer Magd, die fortgelaufen war und in der Wüste gestrandet. Dort findet sie Gottes Bote, der ihr aufhilft und Mut macht. Und Hagar (eine Frau! – Freude muss sein in diesen Tagen) ist die Erste in der Bibel, die Gott einen Namen gibt. Sie nennt ihn: „Du, der hinschaut!“ oder mit Martin Luther: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Das tut er. Auch jetzt. Gerade jetzt.

                                                    Zu Donnerstag, 2. April: „Besser zu zweit…“

                                                    Jetzt beginnt normalerweise die Hochzeitssaison.

                                                    Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 12

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                                                      Stattdessen haben wir nun die ultimative Bewährungsprobe ob es eigentlich miteinander klappt und wie das so geht, ganz dicht aufeinander. Wenn man nicht mit einer Freundin ins Kino oder ein bisschen shoppen gehen kann, wenn es ausfällt, mit den Kumpels aufs Stadion oder in die Sauna zu gehen, wenn man dafür am liebsten den ganzen Tag die Jogginghose anhat oder stundenlang was genau eigentlich macht – dann kann es schon ein bisschen nervig werden.

                                                      Dazu kommen Gewohnheiten des Anderen, die man nicht so schrecklich gut leiden aber in kleinen Dosen aushalten kann. Die Wohnung hatten wir eigentlich für größer gehalten als sie sich jetzt anfühlt und dass der Nachbar Klavier spielt, war mir bisher gar nicht aufgefallen. Und wer putzt jetzt eigentlich?

                                                      Und das alles ganzen Tag lang und morgen und nächste Woche auch noch...

                                                      Folgender Klassiker unter den Trausprüchen steht bei dem Prediger Salomo:

                                                      „So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft. Auch, wenn zwei beieinanderliegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden? Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.“

                                                      Würde man den Spruch jetzt wieder aussuchen oder vielleicht doch eher was nehmen mit langmütiger Liebe, die niemals aufhört?

                                                      Ich finde den weisen Salomo noch immer gut: Ja, es ist gut, wenn man einen hat und lohnt, einander liebevoll anzusehen und froh zu sein, dass man nicht allein ist. Nicht nur für den Fall, dass es jetzt eine niederstreckt und sie ins Bett muss. Nicht nur für den Fall, dass der Schüttelfrost kommt - vom Fieber oder von der Existenzangst. Sondern für all die Momente des Tages, die man in der Hand hat und füreinander schön machen kann.

                                                      Und was ist es eigentlich mit der dreifachen Schnur? Vielleicht birgt sie dreifache Ja: das Ja zu einander, das Ja vor Gott und sein Ja in seinem Segen über uns. Damit sind wir gestartet. Das reißt nicht so schnell.

                                                      Und sollte die Schnur ausfasern und Verschleiß an Reibepunkten zeigen, dann lasst uns einander durch Gottes Augen sehen: nicht was vor Augen ist (die Jogginghose oder die ausgewachsene „Frisur“), sondern das Herz!


                                                      Zu Mittwoch, 1. April: „Kein Aprilscherz“

                                                      Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 11

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                                                        „Küssen kann man nicht alleine!“ singt Max Raabe. Und da hat er ja so recht!

                                                        Sich selbst zum ersten April veralbern, ist auch schwer – aber ich bin zuversichtlich, dass es irgendwem gelingen wird. Kanäle gibt es ja viele.

                                                        Und „das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen.“ Genauswenig, wie wir uns in unserer eigenen Hand bergen können.

                                                        Umso besser, wenn es gelingt, einander Worte zu sagen, die trösten und befreien, die den Himmel aufreißen, das Herz erwärmen, Erinnerungen lebendig werden lassen, Tränen in die Augen treiben. Dann fühlt man sich lebendig und ist nicht so allein in seiner Virenschutzhaft.

                                                        Ich bekomme dieser Tage viele Mails und Briefe voller Zeichen und Worte, die ich mir selber nicht schicken kann. Einer malt eine Rose, eine erzählt von ihrem Leben und ein Dichter schenkt mir Verse:

                                                        „Ich tappe / im Dunklen / unerhört / dieses Licht / ich staune / das Glühwürmchen an“

                                                        Genau so fühlt es sich an. Im Dunklen tappen, nach der Türklinke tasten, am Himmel das erste Morgenlicht und im Kalender einen halbwegs realistischen Termin suchen. Und dann: ein Sternbild wiedererkennen, später am Morgen das Entenpaar beobachten, das immer an der Oker sitzt, noch später den alten Herrn, der seinen Hund ausführt und neulich den Nachbarn, der eine Kusshand durchs Fenster schickt.

                                                        Wer wollte da behaupten, es gäbe keine Glühwürmchen mehr!

                                                        Und immer wieder gibt es richtige Lichtblicke! Zum Staunen! Heute leuchtet es aus den Herrnhuter Losungen. Es sind Verse, die ich mir nicht aussuche, sondern die mich finden und treffen, gerade weil ich gar nichts dazu tun konnte, dass sie nun zu genau diesem Tag gehören.

                                                        Über dem ersten April 2020 heißt es aus dem Propheten Jesaja: „Ich will mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die des Klagens.“

                                                        Genau! Lasst uns Hoffnung schöpfen und freuen, es kommt Ostern und 100%ig werden wir auch irgendwann Konfirmation feiern und Stadtputz und Burgplatz-open-air und dann grillen wir am Nussberg in riesigen Runden! Kein Aprilscherz.

                                                        Zu Montag, 31. März:

                                                        Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 10

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                                                          Allmählich ahnt man, dass das alles hier eine Kraftprobe werden wird und unsere Fähigkeit, uns zu mit uns selbst und den Allernächsten zu arrangieren und trotzdem noch andere im Blick zu behalten, ihnen wenigsten ein bisschen nah sein zu können, dringend gebraucht wird.

                                                          Nicht zu wissen, wann es aufhört, sich einrichten zu müssen mit Verboten und Grenzen, die jetzt von den Regierungen gezogen werden, ist schwer – auch wenn der Verstand weiß, warum all das passiert und nötig ist.

                                                          Wie schwer und unerträglich muss das erst sein, wenn nicht Fürsorge sondern Ideologie hinter solchen Einschränkungen steht. Was müssen unsere Eltern und Großeltern gelitten haben, als die innerdeutsche Grenze dichtgemacht wurde und es überhaupt kein Indiz gab, wann das je aufhören würde. 28 Jahre lang konnte man nicht mal schnell in den Zug steigen und einander in den Arm nehmen. 28 Jahre lang konnte man nicht zusammenkommen, wenn eine im Sterben lag. 28 Jahre lang kein gemeinsames Geburtstagsfest, keine …

                                                          So schlimm wird es nicht werden. Merkwürdig, dass ich fast vergessen hatte, wie schwer man das aushält. Und wie gesagt, jetzt machen wir das freiwillig, weil wir wissen, es ist nötig und geht nur, wenn alle sich danach richten.

                                                          Im Psalm 18 heißt es – 1989 wussten das Viele: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“

                                                          Damals konnten wir das auf einmal wörtlich nehmen. Unglaublich! Jetzt hilft die Hoffnung auf genau diesen Mauern überwindenden und heilenden Gott und all das, was man damals wie heute auch tun kann: Nachrichten und Briefe schreiben, Bücher schicken, Puzzles, Witze, Fotos, Bilder. Und Gedichte.

                                                          Wieder einmal Bertold Brecht:

                                                          „Morgens und abends zu lesen

                                                          Der, den ich liebe / Hat mir gesagt / Dass er mich braucht.

                                                          Darum / Gebe ich auf mich acht / Sehe auf meinen Weg und / Fürchte von jedem Regentropfen / Dass er mich erschlagen könnte.“

                                                          Da ist alles drin! Die Bitte: Pass auf dich auf! Das Versprechen: ich tue es auch. Und ein Gebet: „Der, der uns liebt, hat uns gesagt, dass er uns braucht. Darum geben wir auf einander acht, sehen auf unseren Weg und lassen uns nicht von Regentropfen erschlagen. Denn der uns behütet, der schläft nicht.“

                                                          Morgens und abends zu beten.

                                                          Zu Sonntag, 29. März:

                                                          Allmählich verliert man das Zeitgefühl. Alles ist ja immer still und ruhig. Gestern wäre Sonntag gewesen, Judika. Ich hätte wegen der Sommerzeit grausig zeitig aufstehen müssen. Wir hätten Gottesdienst gefeiert mit Steinen und Dornen auf dem Altar statt Blumen. Es ist ja Passionszeit.

                                                          Schmerzlicher Konjunktiv mit dem man derzeit auch alle anderen Pläne behandelt: man hätte zu Ostern Besuch gehabt und vielleicht die Monetausstellung in Potsdam angeguckt. Naja vielleicht nicht direkt zu Ostern, zu viel zu tun - aber dieser Tage irgendwann. Hätte.

                                                          Irgendwas ist falsch daran. Irgendwie ist alles aus dem Gerütt gerade.

                                                          Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 9

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                                                            Obwohl dann doch: gestern ist Sonntag gewesen. Tag des Herrn. Auferstehung. Jede Woche neu werden wir – frei nach Goethes Osterspaziergang – „alle ans Licht gebracht.“

                                                            Der Predigttext für gestern und über dieser Woche steht im Hebräerbrief und es heißt: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Ja, dem kann man uneingeschränkt zustimmen. In diesem Hier und Jetzt können die Stadt und wir nicht bleiben. Und ja, keiner weiß genau, wie das zukünftig hier aussehen wird, ob vertraute Orte dann noch weiter funktionieren, wie das die Stadt überstehen wird.

                                                            „Lasst uns nach draußen gehen!“ steht in meinen Materialien zur Predigtvorbereitung fettgedruckt. Da sind wir schon, ganz unfreiwillig. Rein in unser gewohntes Leben können wir derzeit nicht. Aber macht nicht genau das ein bisschen sensibler dafür, wo die anderen gerade sind? Wie sieht deren „draußen“ aus dem eigenen Leben gerade aus?

                                                            Der nächste Impuls in meiner Predigtmeditation heißt:

                                                            „Eingefrorenes Leben auftauen.“

                                                            Vor Monaten geschrieben und gedruckt, trotz Kälteeinbruch gestern, brennend aktuell! Darum wird es in jeder Hinsicht gehen müssen: „Eingefrorenes Leben auftauen.“ Irgendwann wird das öffentliche, das kulturelle, das schulische, das sportliche, das musikalische, das gastronomische Leben wieder auftauen! Das hoffen wir. Und jetzt, genau heute, gilt es aufzutauen, was im Dauerfrost geblieben wäre: Das Wissen, dass unsere Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist, dass unser Leben Gefahr lief, Richtung und Sinn verlieren, dass unsere Herzen eingefroren waren gegenüber der Not derer, die schon die ganze Zeit draußen sind – dass wir den Weg nach Golgatha und in den Ostermorgen zum Leben brauchen, so oder so.

                                                            Und auch:

                                                            Auftauen und wahrnehmen, wieviel Wärme gerade jetzt möglich ist, wenn einer dem anderen sagt (kein Konjunktiv!): „Lass uns näher rücken. Grade jetzt.“

                                                            Zu Freitag, 27. März:

                                                            Zum Glück scheint die Sonne und sie wärmt. Kaum dass sie die Südwand des Braunschweiger Doms erreicht hat, füllen sich die Löwenbänke. Menschen sitzen allein oder zu zweit, sie sitzen auch auf den Stufen vor dem Südportal, an der Linde oder der Rose. Wer kann, lehnt sich an die warme Wand, viele haben die Augen geschlossen.

                                                            Die Fastenmail der evangelischen Kirche in Deutschland beginnt diese Woche mit Worten aus dem 62. Psalm: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“

                                                            Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 8

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                                                              Ob die Menschen, die draußen vor dem Dom sitzen, das erleben?

                                                              Es sieht sehr friedlich aus, aber ich ahne, dass das für viele von ihnen doch nur eine Notlösung ist – wie das einsame Trainieren der Tänzer des Staatstheaters, damit die Kondition nicht schwindet oder das Büffeln zuhause falls doch auf einmal Prüfungen abgenommen werden sollten.

                                                              Ich vermute, manche Menschen hat genau diese Mauer angezogen, die Wand des Domes, in den man jetzt nicht rein kann. Von innen sind die Wände schon vollgesogen von Gesang und Gebet, Klagen und Dank.

                                                              Kann das, was die Menschen bewegt, nach innen durchdringen? Gedanken an die alten Eltern die im Pflegeheim sind und keinen Besuch bekommen können. Gedanken an die Kinder, die Zukunftspläne geschmiedet haben und nun nicht wissen, woraufhin sie leben sollen. Gedanken an Freunde, die keine großen Rücklagen und jetzt keine Einnahmen haben; wie soll man von der leeren Hand in den Mund leben? Gedanken an Ärzte, die Angst haben, über Lebenschancen entscheiden zu müssen oder an Schwestern, denen die Schutzmittel ausgehen und oft auch die Kraft.

                                                              Viele Gedanken, viele Sorgen und viele Stille ringsumher.

                                                              Es braucht viel Zuversicht und Glaubensmut, die Stille und den Stillstand dieser Tage aushalten zu können.

                                                              „Meine Seele ist stille zu Gott...“ Ist das nicht ein Kanon? Wie ging die Melodie eigentlich? Und während ich noch Töne in mir suche, kommen sie schon durch die warme Wand. Da übt jemand Orgel, spielt Choräle der Passionszeit und Osterzeit.

                                                              Kirchenmusiker des Doms sind im Moment auch ungewohnt auf sich gestellt, ohne Proben, Gottesdienste, Mittagsgebete und Konzerte. Aber sie üben und in den Nachmittagsstunden kann man es hören.

                                                              Wie endet der 62. Psalm eigentlich? „Gott ist unsere Zuversicht.“

                                                              Ja, so ist. Wo kam das grade her? Die Wand ist durchlässig.

                                                              Zu Donnerstag, 26. März

                                                              Eigentlich hätte ich dieser Tage mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden des Braunschweiger Doms in der Flambacher Mühle sein sollen. Wir hatten uns ein Programm überlegt, bei dem es nicht nur ein Geländespiel rund um die Teiche mit Bibelbiathlon und Mensch-ärger-Dich-nicht mit lebenden Figuren geben sollte, sondern auch einen thematischen Weg zum Abschluss der Konfirmandenzeit: Gott, Gebet, Taufe, Wüstenerfahrung, Gemeinschaft – was hat das mit mir und meinem Leben zu tun?

                                                              Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 7

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                                                                Eine Übung dabei wäre die Folgende gewesen: „Setzt euch hin und schließt die Augen, reist gedanklich nach Hause in Euer Zimmer und seht es Euch genau an: wie das Licht hineinfällt und sich im Laufe des Tages verändert, welche Bilder an den Wänden hängen, wie es auf dem Schreibtisch aussieht und darunter. Gibt es Pflanzen oder ein Aquarium, sitzt noch ein Teddy am Kopfkissen … Und wenn Ihr das vor eurem inneren Auge präsent habt, dann nehmt ein großes Blatt und malt einen Grundriss. Was ist wo?“ Man braucht ein bisschen Zeit dafür, vielleicht auch leise Musik. Wenn die Jugendlichen allmählich zuende kommen, dann fehlt noch eine Frage. „Wenn Gott in Deinem Zimmer wohnen würde oder wenn Du mit Gott in Deinem Zimmer reden wolltest – wo wäre sein Ort? Wo könntest du ihm nah sein? Male ein Dreieck mit einem Auge an diese Stelle! Und dann such dir zwei drei Leute aus der Gruppe, deren Zimmer Du nicht kennst und lass es Dir erklären und beschreiben!“

                                                                Meist wundern sich die Konfirmanden über diese Arbeitsanleitung. Aber dann versinken sie in ruhige Konzentration und später in ein tiefes Gespräch und entdecken, dass sie an ihrem Fenster oder an der Heizung auf dem Fußboden, im Bett oder mit ihrem Instrument tatsächlich einen Ort, eine Situation haben, wo sie ganz bei sich sein, ganz ruhig werden und in sich hören können. Sie halten es dann gar nicht mehr für so abwegig, dort Gott in ihr Herz und ihre Gedanken zu lassen, dort zu versuchen zu beten.

                                                                Jetzt – in Quarantäne und Zuhausebleibezeiten- wird diese Übung auf einmal für uns alle relevant. Wenn wir nicht in Kirchen gehen können, brauchen wir andere Orte, um Zwiesprache zu halten. Vielleicht im Garten oder nachts unterm Sternenhimmel, vielleicht am Küchentisch bei einer Kerze. Zum Jahreswechsel singen wir, was Dietrich Bonhoeffer aus der ungemütlichen Gefängniszelle nach Hause schrieb: „Lass warm und hell die Kerze heute flammen … / führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.“ Und er schließt: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Jetzt auch, das kann man spüren, wo immer Sie sind.

                                                                Zu Mittwoch, 25. März:

                                                                An Zufall glaube ich nicht so sehr, eher an Fügung und manchmal auch daran, hier- oder dorthin geschoben zu werden, damit ich mich befasse, vorbereitet oder zur Stelle bin – auch wenn ich das gar nicht bemerke. Später, wenn es akut wird, staune ich dann. Dafür also…

                                                                So ist es mir jetzt ergangen.

                                                                Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 6

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                                                                  Vor zwei Wochen war ich noch in der Woltersburger Mühle bei Uelzen. Dort gibt es ein Zentrum für biblische Spiritualität und gesellschaftliche Verantwortung, mit anderen Worten einen Ort an dem man sehr gründlich an biblischen Texten arbeitet und sie zugleich auf unsere aktuelle Situation hin befragt. Inwieweit spiegelt sich zum Beispiel in den biblischen Speisungswundern der wirkliche physische Hunger von Menschen, die ja in einem besetzten Land lebten und oft nicht wussten, wovon sie leben sollten.

                                                                  Ich habe also dort ein Seminar besucht, in dem um die Sintflutgeschichte ging und den Klimawandel, um Naturkatastrophen, um Rettung und Untergang, um Eingeschlossene und Überlebende, um große Bilder und eine neue Erde.

                                                                  Gedacht und geplant war das Thema natürlich im Kontext der großen ökologischen Fragen unserer Zeit. Aber dann ragte Corona immer dringender in unsere Diskurse. Schließlich bin ich eher abgefahren als ich eigentlich wollte, weil die Domsingschule geschlossen werden musste.

                                                                  So kommt es, dass ich in diesen verwirrenden Tagen einen großen Vorrat an frischen Gedanken rund um die Noahgeschichte habe – ohne geahnt zu haben, wie schnell ich den brauchen werde.

                                                                  Ein Wort aus dieser Geschichte, die wir auch in den Worten Martin Buber gelesen haben, geht mir nach – erst recht wenn man im Hinterkopf all die Gestrandeten hat, die auf Flughäfen und an Grenzen feststecken oder noch viel schlimmer, in den überfüllten Flüchtlingslagern: Die Bibel erzählt, dass Noah als er endliche ein bisschen Land sah, eine Taube rausließ, die aber zurückkam, weil sie keine „Ruhestatt für ihre Fußsohle“ fand.“

                                                                  Was für eine unglaubliche Formulierung! Man ahnt, die Taube mit ihren kleinen Füßchen braucht nicht viel aber ohne einen Ort, an dem sie landen und ankommen kann, Ruhe finden, kann sie nicht leben. Den brauchen wir auch – für innen und außen. Und so paart sich in dieser besonderen Zeit die Dankbarkeit für ein geborgenes Zuhause mit der Sorge um die, die das nicht haben. Dabei sollte es bleiben, nicht eines ohne das andere, auch wenn wir eines Tages ans Weitermachen gehen werden.

                                                                  Zu Dienstag, 24. März:

                                                                  Nun ist also auch der Dom zu. Gestern kam die dringende Empfehlung der Landeskirche, die damit auf das behördliche Kontaktverbot reagiert. Bisher konnte man noch am vertrauten Ort eine tägliche Kerze anzünden oder innehalten mit den Sorgen und Hoffnungen dieser Tage.

                                                                  Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 5

                                                                  weitere Videos

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                                                                    Diese Maßnahme schmerzt. Mich auch. Das schmerzt mich fast mehr als der Wegfall der Gottesdienste. Die gibt es im Fernsehen und Internet in großer Zahl, man kann mitsingen und mitbeten. Aber die Wirksamkeit eines solchen Ortes, die Zuflucht zwischen den durchgebeteten Mauern, das lässt sich nicht so leicht nach Hause holen.

                                                                    Und einmal mehr verschärft sich die Frage, wie es denen wohl gehen mag, die im Internet und den sozialen Medien unbehaust und fremd sind. Zuhause sitzend, und Gedanken in eine Kladde schreibend, die mir eine Freundin zu Weihnachten geschenkt hat, ist die nächste Seite auf einmal nicht leer für meine Worte, sondern bedruckt – offenbar auch für mich: „Freiheit meint nicht nur Religions- und Meinungsfreiheit. Auch Freiheit zum Schreiben. Freiheit zum Denken…“

                                                                    Die Worte stammen von Mehrdad Sepehri Fard, der in den 1990ern aus dem Iran fliehen musste und seither christliche Hauskirchen unterstützt, die nur noch im Verborgenen praktizieren können. Ich bin von der Schmerzgrenze doch noch weiter weg als befürchtet. So schlimm ist es hier nicht.

                                                                    Uns ist Begegnung verboten, nicht Glaubenspraxis. Wir können laut vom Balkon singen, denken und einander schreiben. Briefe gehen grade viele aus dem Dompfarramt raus. Und ich schreibe jeden Tag ein Kapitel aus der Bibel ab und stelle das, was ich dabei wahrnehme auf der Domseite ein.

                                                                    Gestern schickte mir eine Frau ein Foto ihres Bibel-Schreibheftes und schrieb dazu: „Vor lauter Angst fällt mir das Lesen oft schwer, aber das Lesen um niederzuschreiben, schafft Ruhe in mir.“ Es geht doch noch viel mehr als ich in meinem Kummer dachte.

                                                                    Zu Montag, 23. März:

                                                                    In unserem Erker steht ein kleiner Feigenbaum. Als ich ihn gekauft habe, trieb er brav ein Blatt nach dem anderen und setzte Früchte an. Ich freute mich an seiner Geschäftigkeit. Mein Mann betrachtete das fleißige Bäumchen nicht ganz so liebevoll. Er hatte die sizilianischen Verwandten vor seinem inneren Auge und befürchtete, den Erker zeitnah an meinen grünen Freund abtreten zu müssen.

                                                                    Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 4

                                                                    weitere Videos

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                                                                      Eigentlich hätte es den Weg aller botanischen Misserfolge in die grüne Tonne nehmen müssen aber ich kann aus meiner Theologinnenhaut nicht raus und hatte Hemmungen. Denn Feigen sind nicht irgendwelche Pflanzen. Feigen gab es, so erzählt es das Alte Testament, wie Weizen und Granatäpfel im Land, wo Öl und Honig fließt.

                                                                      Bei dem Propheten Micha heißt es: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und … ein jeder wird unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum wohnen.“ Und auch das Neue Testament macht am Feigenbaum fest, ob Zukunft möglich bleibt. In dem berühmten Gleichnis aus dem Lukasevangelium vom Feigenbaum, der einfach keine Frucht trägt und der deshalb abgehauen werden soll, bittet der Gärtner: „Gib dem Baum noch ein Jahr! Ich will ihn jäten und düngen! Vielleicht bringt er doch noch Frucht….“ Lass mich daran glauben, dass es anders ausgeht als jetzt aussieht! Lass mich mein Menschenmögliches dafür tun, dass dieser baum sich erholt.

                                                                      Rainer Maria Rilke dichtete: „Gib mir noch eine kleine Weile Zeit, ich will die Dinge so wie keiner lieben…“ Es ist eine Bitte, die nicht übersieht, dass Dinge zu Ende gehen, dass wir Menschen ein Ende haben und die dabei doch ernst nimmt, dass man manchmal erst begreifen muss, wie schön und kostbar unser Leben ist. Der Gärtner sieht sehr wohl auch, dass sein Bäumchen nutzlos geworden ist – aber so muss es nicht bleiben! Es kann alles anders werden, neu und auch wieder gut.

                                                                      Und tatsächlich: mein Feigenbäumchen treibt jetzt, ausgerechnet jetzt, wie verrückt. Es hat solche Kraft, dass ein hölzerner Äthiopier daneben vom Fensterbrett geschoben wurde. Klingt platt, ist aber wahr.

                                                                      Zu Sonntag, 22. März:

                                                                      Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 3

                                                                      weitere Videos

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                                                                        Als Kind habe ich mit meiner Mutter regelmäßig nach dem Abendstern gesehen. Sie hatte dieses Ritual mit ihrer Mutter und Großmutter verabredet, die jenseits der innerdeutschen Grenze lebten. Unser Blicke würden sich treffen, natürlich, was sonst!

                                                                        Es sind schwere Zeiten ohne Frage, man weiß nicht, wie lange wir uns so einrichten müssen und wie es dann weitergehen wird, schon gar nicht, wen und was wir dabei verlieren werden. Wir können wenig tun, außer zu machen, was uns gesagt ist und abzuwarten.

                                                                        Eine Geschichte, die uns in dieser Situation mit allen verbindet, die die Bibel kennen, steht im ersten Buch Mose. Da zieht Noah mit seiner Familie und jeweils einem Paar aller Lebewesen in einen Kasten. Es ist kein steuerbares Schiff, sondern ein Zufluchtsort, den man nicht verlassen kann, weil draußen Unheil wütet. Noah nimmt Essbares mit. Auch hier gibt es also Vorratswirtschaft, denn es wird länger dauern. Darum muss er muss sich auch darauf verlassen, dass zwischen den Tieren das übliche Fressen und Gefressenwerden aussetzt, friedliches Beisammensein ist gefragt.

                                                                        Das war mit bisher so nicht bewusst und es gibt noch mehr Details, die ich überlesen habe:

                                                                        Nachdem Gott die Flut angekündigt hat, setzt er noch eine Frist von sieben Tagen, bis sie kommt. Das kann man als Inkubationszeit lesen, Zeit, in der man eine Gefahr ernstnehmen muss ehe man sie sieht.

                                                                        Gott fordert den Noah auf, auch Samen mitzunehmen, denn die Gefahr wird weichen, er wird wieder säen und ernten können. Ein Zukunftsversprechen.

                                                                        Und er setzt den Regenbogen in die Himmel. Wir alle haben ihn schon gesehen. Es ist Gottes Verbundenheitszeichen.

                                                                        Zu Samstag, 21. März:

                                                                        Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag 2

                                                                        weitere Videos

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                                                                          Sieben Wochen ohne Schwarzseherei und Panik, sieben Wochen ohne das Kolportieren dramatischer Gerüchte, sieben Wochen ohne Entmutigung. Das könnte uns herausfordern, wenn die gängigen Ablenkungen und Stabilisierungsmöglichkeiten fehlen: keine Chorprobe, kein Fitnessstudio, kein Kino, keine Sauna, kein Shoppen, keine Reisen, keine Besuche und auch kein Stress, keine Routine, keine übervollen Tage. Was dann?

                                                                          „Ich hoffe auf Licht und es kam Finsternis.“ So steht es im Buch Hiob und so wurde es für diese vierte Woche der Passionszeit ausgesucht. Nicht gerade ermutigend! Erinnern wir uns: Hiob hatte seine Familie, seinen Besitz, seine Gesundheit verloren. Woraus schöpfte er Zuversicht? Woher nehmen wir, seine Zeitgenossen Hoffnung?

                                                                          Die Hiobgeschichte scheut harte Wahrheiten nicht. Eine ist es, dass das Leid auf dieser Erde nicht aufhören wird. Ein Leben ohne Kummer und Schmerz wird es nicht geben. Auch wenn alles wieder „normal“ ist, wird es deshalb nicht sein wie vorher. Wir werden Spuren davontragen. Das ist noch keine Zuversicht. Das ist Realismus. Kann man trotzdem von Hiob Leben lernen in schwerer Zeit? Er wandelt Schmerz in Klage. Und andressiert sie an den einen Gott, den er fürchtet. Seine Furcht ist Gottesfurcht, nicht Menschenangst vor dem was kommt. So gibt er sich aus der Hand und übt Vertrauen.Für Hiob wird es ein Leben danach geben. In Fülle. So wird es auch für uns sein. Denn heute ist nicht nur Frühlingsanfang. Wir gehen auf Ostern zu. Immer weiter. Gehen Sie bitte mit!

                                                                          Zu Freitag, 20. März:

                                                                          Die Zeitung, diese Zeitung, ist einer meiner Alltagsbegleiter. Ich bin froh, dass sie nach wie vor morgens im Briefkasten liegt und mag mir nicht richtig vorstellen, wie es ohne wäre. Sie ist ein Resonanzraum zwischen uns allen, die wir uns sonst live und in Farbe begegnen und – tatsächlich! – berühren. Ein Raum für die Menschen der Stadt und der Region.

                                                                          Auch der Dom ist solch ein Raum. Tag für Tag, inzwischen seit Jahrzehnten, schreiben wir eine Andacht und feiern sie, verteilen den Text in alle Himmelsrichtungen. Das tun wir noch immer. Tag für Tag. Jetzt hängt der Text im Schaukasten, steht im Internet, findet sich auf der App.

                                                                          Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Leib Christi, Verbundenheit im Gebet und durch dieselben Worte – all das gibt es ja Gott sei Dank weiter und hat sich in Zeiten von Isolation und tiefster Einsamkeit bewährt. Man lese die Gefängnisbriefe von Dietrich Bonhoeffer oder James Graf von Moltke.

                                                                          Dompredigerin Cornelia Götz - Wort zum Alltag

                                                                          weitere Videos

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                                                                            Das Verbot, Gottesdienste zu feiern, noch dazu in der Passions- und Osterzeit, trifft uns alle schwer. Es ist ja die zentrale Lebensäußerung unseres Glaubens, das Evangelium zu verkündigen, darauf zu antworten mit Gebet und Gesang, Abendmahl zu feiern. Wir tun das also die, die Gott beim Namen gerufen hat. Jede und jeden Einzelnen. Solche bleiben wir.

                                                                            In den Herrnhuter Losungen heißt es für diesen Freitag aus dem 27. Psalm: „Der HERR deckt ich in seiner Hütte zur bösen Zeit, er birgt mich im Schutz seines Zeltes.“ Möge seine Hütte die Ihre sein und mögen Sie sich in Ihren Räumen unter seinem Schutz geborgen fühlen. Ich begleite Sie aus meiner Hütte heraus gern und wünsche Ihnen Gottes Segen!