Braunschweig. Mehr als vier Stunden lang reden über das Sterben – 200 Menschen kommen freiwillig. Es geht um ein Netzwerk der Palliativversorgung.

„Liebe Sterbliche ...“ – so beginnt der Palliativmediziner Dr. Reiner Prönnecke seinen Vortrag. Und damit könnte er ja eigentlich auch schon wieder beendet sein. Denn sterben müssen alle hier im Raum – früher oder später. Fragt sich nur wie – und unter welchen Umständen. Prönnecke kann sich noch erinnern, wie sie Sterbende noch vor wenigen Jahrzehnten in ein Badezimmer abgeschoben haben, weil es keiner aushalten konnte, die Profis nicht, die Angehörigen schon gar nicht.

Das Sterben aber gehört zum Leben, sagt man so schön, ein Leben in Würde, also auch ein Sterben in Würde. Eine solche Veranstaltung wie die am Samstag im BZV-Medienhaus, sagt Prönnecke, wäre vor 20 oder 30 Jahren noch nicht möglich gewesen. Mehr als vier Stunden lang reden über das Sterben. 200 Leute sind freiwillig gekommen. Am Ende haben alle das Gefühl, dass es gut war, mal so darüber zu sprechen.

Die Menschen werden älter, die letzte Grenze kommt näher

Palliativmediziner Prönnecke vom Marienstift hat in seiner beruflichen Laufbahn sehr, sehr viele Menschen beim Sterben begleitet, aber was das wirklich ist, er gibt es zu, das weiß er immer noch nicht. „Ich begreife das Sterben nicht“, sagt er. Es zwingt ihn aber dazu, über Hoffnungen und Hoffnungsbilder nachzudenken. Man wird älter, die letzte Grenze kommt näher, jene, wenn sich Körper und Seele trennen, und so kann man hoffen zu sortieren, was wirklich wichtig ist.

Vermutlich ja nicht Konsum, denn das ist eine Sackgasse. Aber ein Lächeln, die Hand halten, ein Mensch an deiner Seite. Bei Sterbenden, sagt der Mediziner, kann man auch Heilung erleben.

Prönnekes Kollege Dr. Erhard Kellner, ein Allgemeinmediziner, erzählt von einer sterbenskranken Patientin, die sich entschlossen hatte, es geschehen zu lassen. Kein Frontalangriff mit Chemo und allem Pipapo. „Wir machen gar nichts“, verfügte sie. Ihr Arzt unterstützte sie, die Familie der Patientin machte ihm dafür Vorwürfe und verstand die Welt nicht mehr. „Sie muss doch eine Sonde haben ...“ Aber so ging es zu Ende, in Würde. „Das war ein ganz sanftes Sterben“, sagt Kellner. Die Angehörigen grüßen ihn heute nicht mehr. Eine Besucherin im Publikum fragt: „Wo kriegt man so einen Hausarzt?“

Wieviel ist unserem Gemeinwesen dieses Thema eigentlich wert?

Kein einfaches Thema, ein Thema, bei dem jeder buchstäblich sein eigenes Bild und seine eigenen Vorstellungen im Kopf hat. Pfarrer Rüdiger Becker, Direktor der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, eröffnet den Tag, klar, es geht natürlich um Wertschätzung für die Pflege und auch darum, dass unser Gemeinwesen für so ein Thema auch die notwendigen Mittel und Kräfte zur Verfügung stellen muss.

Aber es geht auch um Achtsamkeit, um wesentliche Dinge jenseits der Konjunkturentwicklung. Die Welt da draußen ist gerade „voll von Gestalten, die uns nicht gut tun“, sagt Becker. Aber es gibt viel mehr zwischen dem ersten Schrei und dem letzten Atemzug, was die Menschen früher vielleicht sogar besser als heute wussten, als sie nicht ganz zufällig eine Einrichtung der Altenhilfe gleich neben eine Geburtsklinik setzten.

Letzte-Hilfe-Kurse werden angeboten

Und so sind es viele Fragen und Situationen, über die Pflegende, Ärzte, Seelsorger bei so einer Veranstaltung berichten können. „Es geht auch darum, ein Netzwerk zu knüpfen: Wo sind andere, die das auch bewegt?“, sagt Becker. Man redet über letzte Dinge. Zum Beispiel über Letzte-Hilfe-Kurse. Lernen, was man für Nahestehende am Ende des Lebens tun kann. Da werden Grundkenntnisse und einfache begleitende Maßnahmen vermittelt. Da geht es eben nicht nur um die vier wichtigsten Medikamente, sondern auch um das fünfte – Zuwendung.

„Bewusste Gestaltung des Abschieds“, sagt Diakonin Ruth Berger, Stationen im Trauerprozess, Begegnungen in Würde mit Sterbenden. Da haben gewissermaßen alle etwas davon. „Jeder, der geht, sagt uns etwas über uns selbst.“

Ruth Berger spricht über das künftige „Zentrum Würde“ am Marienstift, angesiedelt in der Friedenskapelle in der Helmstedter Straße, tatsächlich ein Ort der Begegnung, ein spiritueller Ort. Ein Ort, „um endlich zu leben und endlich zu leben“ im doppeldeutigen Sinne des Lebens, das am Ende ist und endlich Leben ist. Ein guter Ort.

Professionelles Netzwerk für die Versorgung Schwerkranker bis zum Tod

Die Evangelische Stiftung Neuerkerode, Trägerin des Marienstifts, hat zu dieser Veranstaltung ins BZV-Medienhaus eingeladen, Hospizarbeit und Hospiz-Stiftung unterstützen es. Natürlich stecken die komplizierteste Dinge im Detail, zum Beispiel bei der „Spezialisierten ambulanten palliativen Versorgung“ (SAPV). Das ist ein professionelles Netzwerk, das die Versorgung Schwerkranker bis zum Tod im häuslichen Umfeld ermöglicht, unter Einbeziehung und mit Begleitung durch die Angehörigen.

Aber auch die „Allgemeine ambulante palliative Versorgung“ (AAPV) möge nicht vergessen werden, wird aus dem Publikum gemahnt – verbunden mit einem Dank an die vielen ehrenamtlichen Palliativ-Helfer in diesem Bereich. Das ist es ohnehin, worum es hier geht, egal, ob SAPV oder AAPV, es geht um Würde, Zeit, Ruhe, aber eben auch um Ausbildung und Vorbereitung. „Damit nicht die Überforderung und das große Schweigen kommen, wenn diese Themen in unser Leben treten“, sagt Ulrich Kreutzberg vom Verein Hospizarbeit Braunschweig.

„Am liebsten würden wir ja alle gesund sterben“, meint Braunschweigs Sozialdezernentin Christine Arbogast. Geht aber nicht. Der Regelfall sehe nun mal anders aus, es lasse sich eben nicht alles bis ins Kleinste planen, auch die Schlussphase des Lebens nicht. „Immer jung bleiben“, weiß die Sozialdezernentin, „ ist auch keine Alternative“.

Und so ist eine Quintessenz dieser von Chefredakteur Armin Maus moderierten Veranstaltung die Besinnung aufs Netzwerk, ohne das es nicht geht. Kliniken, Klinik-Ärzte, Hausärzte, Pfleger, Helfer, Ehrenamtliche, Hospiz, Hospizverein und viele mehr.

„Da kann nicht einer allein sagen: Ich mach’ das jetzt. Das wäre eben ein missverstandener palliativer Gedanke “, sagt Rüdiger Becker, zufrieden mit dem Verlauf einer Veranstaltung, die etliche Teilnehmer noch länger beschäftigt. „Sterben macht uns lebensklug“, bringt es Becker auf eine Formel.

Ein Gemälde zeigt das Sterben – jeder sieht es anders

Rainer Prönnecke zeigt den Zuschauern ein Gemälde einer Sterbenden, Öl auf Leinwand. Die krebskranke Valentine Godé-Darel dämmert dem Tod entgegen, der Maler Ferdinand Hodler porträtiert ihr Sterben – vor 100 Jahren in der Schweiz. Dann erlischt das Bild. Jeder hat es nun anders im Kopf – abhängig von seinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen. Wenn es eines letzten Beweises bedurft hätte, hier buchstäblich im Team zu spielen und gemeinsam mit anderen dem Sterben eine Würde zu geben und dabei tatsächlich zu lernen, dann hat ihn diese Veranstaltung gebracht.