Unsere Zeitung veranstaltet mit der Stiftung Aufarbeitung eine Diskussion und dokumentiert die Fakten

Der Fall Eigendorf entzweit bis heute die Gemüter. Frühere Eintracht-Spieler bestätigen unter der Hand, dass sie immer noch an die Unfall-Theorie glauben: Es schien und scheint ihnen plausibel, dass der Fußball-Profi am 5. März 1983 stark alkoholisiert mit seinem Sportwagen auf regennasser Straße in einer gefährlichen Kurve in Braunschweig-Querum gegen einen Baum raste – Frust über die Nichtaufstellung an diesem Bundesliga-Spieltag soll alles ausgelöst haben.

Auch der damalige Eintracht-Trainer Uli Maslo und der damalige Sprecher der Braunschweiger Staatsanwaltschaft, Dr. Hans-Jürgen Grasemann, vertreten diese Auffassung heute gegenüber unserer Zeitung.

Für den damaligen Sportchef unserer Zeitung, Jochen Döring, greift die offizielle Version indes möglicherweise zu kurz. Er zeigt sich beeindruckt von den Recherchen des Autors und Dokumentarfilmers Dr. Heribert Schwan vom WDR.

Der sagt: Es war Mord! Stasi-Chef Erich Mielke habe ihn persönlich angeordnet. Eigendorfs DDR-kritisches Fernseh-Interview direkt an der Mauer nur wenige Tage vor dem Unfall sei der Auslöser gewesen. Danach sei ein Killer-Kommando zur Exekution angetreten. Alle Informationen, die es brauchte, waren zuvor bis ins kleinste Detail zusammengetragen worden.

Die Stasi, daran kann kein Zweifel bestehen, hatte Lutz Eigendorf im Fadenkreuz. Der damalige Eintracht-Präsident Hans Jäcker bestätigt heute, dass Eigendorf um seine Bespitzelung wusste.

Der 1979 nur wenige Tage nach Eigendorf aus der DDR geflohene Spieler und heutige Trainer Jörg Berger gibt an, Eigendorf damals eindringlich vor der Stasi gewarnt zu haben. Insbesondere habe er an ihn appelliert: "Halte Dich mit Interviews zurück, die Erich Mielke reizen könnten."

Am 21. Februar 1983 wird dennoch das Eigendorf-Interview in der ARD-Sendung "Kontraste" ausgestrahlt. Der Spieler preist darin die Attraktivität der Bundesliga für DDR-Kicker. Zwei Wochen später, am 5. März, kommt es zum Unfall.

Ausgerechnet am Todestag, dem 7. März 1983, erhält nicht nur der in die direkte Nähe Eigendorfs gelangte Spitzel IM "Klaus Schlosser", der als persönlicher Freund auf den Beifahrersitz seines Wagens und in sein Haus in Grassel im Kreis Gifhorn durfte, eine Prämie von 500 Mark. Auch sein Führungsoffizier erhält an diesem Tag 1000 Mark Prämie.

Am 8. März 1983, einen Tag nach Eigendorfs Tod, findet im Neckarstadion das Freundschaftsspiel des VfB Stuttgart gegen den BFC Dynamo Ost-Berlin statt. Es ist der Stasi-Klub Erich Mielkes, es sind Eigendorfs frühere Mannschaftskameraden. Sie lesen just an diesem Spieltag im Westen die Schlagzeilen in den westdeutschen Zeitungen: Lutz Eigendorf ist tot.

Hintergrund: Bei Stasi-Boss Mielke und seinen Leuten grassierte die panische Furcht, weitere Spieler könnten im Westen bleiben und als sportliches Ziel die Bundesliga anstreben – wie Eigendorf.

Wie brandaktuell diese Furcht tatsächlich war, zeigt die Tatsache, dass es im November 1983 mit Falko Götz und Dirk Schlegel erneut zwei Spieler von Dynamo Ost-Berlin waren, die sich vor dem Europapokalspiel in Belgrad absetzten und in die bundesdeutsche Botschaft flüchteten. Für Heribert Schwan ist klar – mit dem Mord am "Verräter" Eigendorf wollte Mielke ein brutales Zeichen setzen: Wer mich verrät, muss um sein Leben fürchten.

Sportjournalist und Eintracht-Experte Jochen Döring, heute 80, der unter den Kommunisten bis 1950 im berüchtigten Speziallager Nr. 2 in Buchenwald auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers interniert war, hält dies für eine plausible Theorie.

Er sagt: "Ich glaube, dass Mielke, der ein brutaler Mensch war, es als ganz persönliche Niederlage empfinden musste, dass ausgerechnet der Kapitän seiner Lieblingsmannschaft zum Feind überlief. Nach Mielkes Logik musste er zur Strecke gebracht werden."

Oberstaatsanwalt Grasemann, ein anerkannter Spezialist für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts, sieht das anders. Er war von 1988 an Sprecher der 1992 aufgelösten Erfassungsstelle Salzgitter für DDR-Unrecht.

Grasemann vergleicht den Fall Eigendorf mit anderen Fällen – etwa des DDR-Volksarmisten Werner Weinhold, der bei seiner Flucht 1975 zwei Grenzer tötete. Weinhold sei fortan im Westen wie Eigendorf ins Visier genommen worden. Zu Mord oder Entführung kam es nicht. Grasemann: "Dabei war alles geplant – ihn auf die Schienen zu legen, ein Unfall-Absturz in den Bergen, ein Raubüberfall auf dem Weg zur Arbeit. Alles wurde durchgespielt, aber nicht ausgeführt."

Grasemanns Fazit für den Fall Eigendorf: Vorhandene Mord-Pläne allein reichen nicht, man braucht den entscheidenden Beweis. Da ist es für die Wahrheitsfindung bitter, dass in der ansonsten umfänglichen Stasi-Akte des im Westen operierenden IM "Klaus Schlosser" ausgerechnet die Jahre 1980 bis 1983 fehlen und in der Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde bis heute nicht gefunden werden konnten.

Nach anderen Akten, die man trotzdem fand, hat sich ausgerechnet der IM, der Eigendorfs persönliches Vertrauen genoss und im Februar 1983 in Grassel sogar das neugeborene Baby sehen durfte, vor dem Unfall am 5. März viel öfter als sonst mit seinem Führungsoffizier in Ost-Berlin getroffen: am 11. Januar, am 8., 14., und 22. Februar.

Doch das alles sind nur Indizien. Hält Heribert Schwan trotzdem den Beweis für seine Mord-Theorie in der Hand? Wir zeigen ein Dokument, das in Schwans Buch "Tod dem Verräter! – Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz Eigendorf" (Knaur) enthalten ist. Es wurde in der Stasi-Unterlagen-Behörde von Referatsleiter Roberto Welzel auf Antrag Schwans gefunden.

Das handschriftliche Dokument vom 19. September 1983 stammt aus der Hauptabteilung XXII des Ministeriums für Staatssicherheit, die u.a. für die Terror-Abwehr in der DDR und auch in der Bundesrepublik zuständig war.

Die Notizen beschäftigen sich auf 32 Seiten mit der Analyse von Tötungs-Methoden, chemischen Substanzen – offenbar Beispiele aus der "Praxis". Es wird auch ein Gift beschrieben, das die Sehfähigkeit beeinträchtigen und als Gas in einem engen Raum eingesetzt werden kann. Seite 22, siehe oben, hat es in sich. Sie trägt die Überschrift "Für Personengefährdung" und diskutiert offensichtlich die Wirkungsweise von Anschlags-Arten. In Zeile 9 steht: "z.B. E. – was im Raum führt langfristig zum Tode?" Zeile 13: "Unfallstatistiken? von außen ohnmächtig?" Und dann Zeile 14: "‘verblitzen’, Eigendorf".

Für Schwan kann kaum ein Zweifel bestehen, dass es hier um Überlegungen zu Eigendorfs Tod geht. Die Stasi habe ihn vor seinem Unfall überfallen, vergiftet, bedroht – und dann im Auto davongejagt und seinem Schicksal überlassen. Den Rest habe Eigendorf dann das "Verblitzen" verpasst – grell aufgeblendete Scheinwerfer in einer Nebenstraße direkt an der Unfallstelle.

(Wird fortgesetzt)