Michael Schlosser wollte sich 1983 in einem Leichtflugzeug aus der DDR absetzen – Stasi-Spitzel verrieten ihn

Manchmal hat Michael Schlosser die Schnauze voll. Sein Frust verliert durch den sächsischen Dialekt zwar an Härte, aber er meint es ernst. Wenn der 66-jährige Dresdner in seinen Stasi-Akten liest, kommt der Dreck von damals wieder hoch, dann möchte er das Fenster öffnen und die Akten einfach rausschmeißen, dann möchte er am liebsten auswandern.

Er tut es nicht, er hat längst nicht alles gelesen; manche Akten hat er erst vor Wochen von der Dresdner Außenstelle der Birthler-Behörde erhalten. Er will erzählen. Er ist ein Zeitzeuge, der die DDR-Vergangenheit nicht mit Nostalgie weichspült. Er hält Vorträge an Schulen. "Dann ist es immer mucksmäuschenstill." Er würde in Sachsen gern auch bei offiziellen Anlässen auftreten, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. "Das wird aber nicht gewollt!", sagt er knapp.

Im Stasi-Abschlussbericht zum Operativen Vorgang "Röhre" heißt es 1983: Durch den Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) "Jens Trädner" sei der Staatssicherheit bekannt geworden, dass Michael Schlosser, geboren in Triptis, wohnhaft in Dresden, KFZ-Schlosser beim Fernsehen der DDR, Studio Dresden, "möglicherweise beabsichtigt, mittels einem selbstgebauten Kleinflugzeug spektakulär die Grenze zu durchbrechen, um in der BRD ständigen Wohnsitz zu nehmen".

Auch IM "Peter Schwarzer", wie "Jens Trädner" ein Arbeitskollege Schlossers beim Fernsehen, bestätigt laut Unterlagen, dass sich "Schlosser für Fliegerzeitschriften interessiert und mit Kollegen in der Mittagspause über ein Flugobjekt in einer ungarischen Zeitung gesprochen hat".

Die Stasi-Zentrale in Dresden ergänzt selbstzufrieden: "Durch das entstandene Vertrauensverhältnis des IM ,Trädner’ zur bearbeiteten Person konnte das Datum des geplanten Grenzdurchbruchs erarbeitet werden, worauf sofort eine konspirative Durchsuchung angesetzt und am 28. Oktober 1983 durchgeführt wurde." Die Stasi-Leute finden ein selbstgebautes Flugzeug, das sofort sichergestellt wird. Zu den Einzelteilen des Objekts heißt es unter anderem: "30 Meter Vierkantstahl, Polyestermatten, ein Trabantmotor, zwei Schubkarrenräder für das Fahrwerk und ein Rollerrad am Heck."

Schlosser wird festgenommen. Wenige Monate später, im März 1984, verkündet das Kreisgericht Dresden das Urteil: Vier Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe "wegen Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall".

"Ikarus", wie er in der Operativen Personenkontrolle durch das Ministerium für Staatssicherheit genannt wird, ist gescheitert, bevor er in die ersehnte Freiheit fliegen kann.

Geflogen ist er nur einmal: Auf dem Truppenübungsplatz in Königsbrück in der Nähe Dresdens absolviert Schlosser einen kurzen Testflug in zwei Meter Flughöhe. Niemand schöpft Verdacht, im Gegenteil: "Einige Russen halfen für einen Schnaps beim Abladen." Auch der Rücktransport gelingt.

Die dreiste Selbstverständlichkeit, mit der Schlosser vorgeht, ist offenkundig ein wirksamer Schutz. Die Arbeiten an der Maschine gehen weiter: Nachts werkelt Schlosser in seinem geräumigen Hühnerstall, in dem es keine Hühner gibt. Er hat viel zu tun, zumal man im real existierenden Sozialismus nicht einfach in einen Laden gehen kann. Improvisieren heißt die tägliche Devise: mit Mökoflex-Kleber, Schrauben, Sperrholz, Draht und so weiter.

Schlossers Name ist Programm: Für den gelernten KFZ-Mechaniker gibt es kein Problem, dass sich nicht irgendwie lösen lässt. Wer Autos reparieren kann, ist in der DDR ein kleiner König, allerdings – wie Schlosser – ohne Königreich. Denn der Sachse will unternehmerisch tätig sein, forschen, basteln, entwickeln.

Doch Eigeninitiative ist in der Deutschen Demokratischen Republik nicht erwünscht, sie birgt aus der Sicht der SED-Funktionäre den Keim des Ungehorsams. Schlossers Antrag auf Zulassung eines KFZ-Betriebes wird abgelehnt: "Kein Bedarf!"

So reift der Plan zur Flucht. Zunächst will Schlosser einen Hubschrauber konstruieren, doch das erweist sich als zu kompliziert. Er studiert Flugzeitschriften und entscheidet sich für ein Flugzeug im – nach heutigem Sprachgebrauch – Ultraleichtbau.

Schlosser ahnt nicht, dass zwei Kollegen in seinem Fernseh-Kollektiv als Informelle Mitarbeiter für die Stasi schnüffeln. Am Ende des Verrats steht die Verhaftung; nach 13 Monaten Haft wird er von der Bundesrepublik freigekauft. Noch heute wacht er nachts zuweilen auf und hört das Klappern von Schlüsseln – wie im Stasi-Gefängnis in Bautzen.

Es gelingt Schlosser nicht, im Westen Fuß zu fassen. Nach der Wende kehrt er zurück – per Auto. Das Flugzeug bleibt verschwunden; das Amt für offene Vermögensfragen spricht ihm 2006 nach langem Streit 1067 Euro "Schrottgeld" zu.

Michael Schlosser weiß, wer IM "Trädner" und wer IM "Schwarzer" ist; er fordert von beiden, vergeblich, Schadenersatz. Manchmal möchte er die Stasi-Akten einfach aus dem Fenster schmeißen und auswandern. "Aber wohin?"