Moskau. Moskau hat Tausende Kinder nach Russland bringen lassen. Die Rede ist von „systematischer Verschleppung“. Der Kreml sieht das anders.

In Moskau sprechen sie von einer „großen humanitären Aufgabe“. Russland habe seit Beginn der „Spezialoperation“ rund 730.000 Kinder aus dem Osten der Ukraine aufgenommen, erklärte Maria Lwowa-Belowa, die russischen Kinderrechtsbeauftragte, unlängst auf einer Pressekonferenz im russischen Außenministerium. Es gehe überwiegend um Kinder, die mit ihren Familien kamen – aber eben auch Kinder aus Waisenhäusern.

Lwowa-Belowa sieht so gar nicht wie eine mutmaßliche Kriegsverbrecherin aus. Sie wirkt charmant, offen, selbstbewusst. Doch der Internationale Strafgerichtshof, den weder Russland noch die USA anerkennen, erließ Mitte März einen Haftbefehl gegen sie und Präsident Wladimir Putin. Russland spricht von Hilfe, Kiew von rund 20.000 verschleppten Kindern. Unterschiedlicher könnten die Erzählungen nicht sein.

Aus Kiewer Sicht sind diese Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland entführt worden und werden dort russisch indoktriniert. Dies sei ein Genozid, ein Kriegsverbrechen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beklagt, die Kinder würden ihrer ukrainischen Identität beraubt und zwangsweise russifiziert. Der Westen hat sich dieser Sichtweise angeschlossen.

Russland: Die Kinderbeauftragte spricht von „Evakuierung“

Die russische Darstellung geht hingegen so: Die umkämpften Gebiete seien jetzt russisches Staatsgebiet. Und Lwowa-Belowa mache nur ihren Job. Sie kümmere sich um Kinder, die in Gefahr sind. Die Kinderbeauftragte selbst spricht von einer „Evakuierung“. Die Darstellung der Ukraine und des Westens bezeichnet sie als „Lüge“.

Vor einigen Tagen konnte eine ukrainische Organisation 31 verschleppte Kinder aus Russland zurückholen und ihren Eltern übergeben – darunter der 13-jährigen Bohdan.
Vor einigen Tagen konnte eine ukrainische Organisation 31 verschleppte Kinder aus Russland zurückholen und ihren Eltern übergeben – darunter der 13-jährigen Bohdan. © Reuters | Valentyn Ogirenko

Es geht unter anderem um das Schicksal von Kindern, die mitten im Kampfgebiet in Waisenhäusern leben oder deren Eltern während der Kämpfe starben oder verschollen sind. Täglich Bomben und Granaten, Eroberung durch russische Truppen, Rückeroberung durch die Ukrainer, täglich Lebensgefahr.

Im Februar geriet die Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf in die Kritik, sie soll möglicherweise in Verschleppungen involviert gewesen sein. Die Rede war von 13 ukrainischen Kindern, die sich in einem russischen Kinderdorf bei Moskau wiederfanden, die russische Staatsbürgerschaft erhielten und in Russland zur Adoption freigegeben wurden. SOS-Kinderdorf hat inzwischen die Mitgliedschaft der russischen Niederlassung suspendiert und sämtliche finanziellen Mittel eingefroren.

Die Organisation legt nach eigenen Recherchen inzwischen Wert auf die Feststellung, dass die Kinder in zwei verschiedenen SOS-Kinderdörfern untergebracht worden seien, sie nicht die russische Staatsbürgerschaft erhielten und auch nicht zur Adoption freigegeben worden seien.

Russland über ukrainische Kinder: "Wir tun alles"

Lwowa-Belowa sagt, gefährdete Kinder würden in Russland in Sicherheit gebracht und betreut, wenn es keine Eltern oder Verwandte gebe. Gäbe es aber noch Angehörige in der Ukraine, hätten diese Möglichkeit, sich an die Kinderbeauftragte mit einer Suchanzeige zu wenden, wenn sie ihre Kinder vermissen. „Wir tun alles, um die Familien zusammenzubringen“, sagt Lwowa-Belowa.

Für eine hohe Staatsbeamtin hat die 38-Jährige eine ungewöhnliche Karriere gemacht. Eigentlich ist sie Musikerin. Und sie engagierte sich für Kinder. In ihrer Heimatstadt Pensa, 550 Kilometer südöstlich von Moskau gründete sie ihre erste gemeinnützige Organisation. „Blagowest“ (Glockenton) kümmerte sich um die Resozialisierung von Waisenkindern. 2016 wurde ihre Mitstreiterin Anna Kusnezowa zur russischen Kinderrechtsbeauftragten ernannt. Von da an ging es auch mit Lwowa-Belowas Karriere steil bergauf. Sie eröffnete weitere Reha-Zentren – größere und teurere, dank vieler staatlicher Zuschüsse.

Putin-Vertraute: Maria Lwowa-Belowas erstaunliche Karriere

Auch politisch machte Lwowa-Belowa Karriere. Im November 2019 trat sie in die Kreml-Partei Einiges Russland ein, wurde in das Präsidium des Generalrats der Partei gewählt. Und schwenkte immer mehr auf die Regierungslinie ein.

Maria Lwowa-Belowa hat fünf leibliche Kinder, fünf Kinder hat sie inzwischen adoptiert. Dazu kümmert sie sich um ein Dutzend weiterer Kinder mit Behinderungen, für die sie die Vormundschaft hat. Im Oktober 2021 wurde sie zur Kinderrechtsbeauftragten ernannt. Vorwürfe der Ukraine und westlicher Staaten, es gebe „geheime Lager zur Umerziehung“ der Kinder, weist sie zurück. Es seien Ferienlager, die der Erholung von Kindern aus dem Kampfgebiet dienten. Die Kinder würden nach ihrem Aufenthalt dort wieder zu ihren Familien zurückkehren.

Die russische Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa hat einen erstaunlichen Aufstieg hinter sich.
Die russische Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa hat einen erstaunlichen Aufstieg hinter sich. © dpa | Ulf Mauder

Westliche Ermittler widersprechen der russischen Darstellung aufs Schärfste. „Es zeigt sich das Bild einer systematischen Verschleppung von Kindern durch russische staatliche Stellen“, sagt Klaus Hoffmann. Er ist eigentlich Oberstaatsanwalt in Freiburg. Doch seit Monaten verbringt der Jurist mehr Zeit in der Ukraine als in Deutschland. Im Auftrag der Europäischen Union und mit Hilfe der Georgetown Universität in Washington hilft Hoffmann den ukrainischen Strafverfolgern bei Ermittlungen zu Kriegsverbrechen, vor allem zu russischen Gewalttaten.

Russland: Verschleppungen als Teil der Besatzungspolitik?

Hoffmann sagt: „Die Verschleppungen sind so organisiert, dass das nicht mehr spontane Aktionen einzelner Kommandeure oder örtlicher pro-russischer Politiker sind.“ Diese Politik sei vielmehr Teil einer Besatzungspolitik, die schon 2014 in der Ukraine begonnen hat. Wie viele Kinder bisher durch den russischen Staat aus der Ukraine verschleppt wurden, kann Hoffmann nicht sagen. Aber es gibt Hinweise, dass es keine Einzelfälle sind, sondern etliche junge Menschen Opfer dieser Deportationen sind.

Etwa Zeugenaussagen von Jugendlichen und ihren Eltern, die zurückkehren konnten. Und: Das russische Fernsehen liefert die Belege für die Umerziehung in russischen Lagern selbst – nennt diese Politik nur anders und bestreitet, dass das gegen den Willen der Familien und mit Gewalt passiere. Ein Report der renommierten Yale-Universität kam erst vor wenigen Monaten zu dem Schluss, dass die gezielte Trennung von Kindern und Eltern ein Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sei. Das Forscherteam konnte Einrichtungen in mehreren russischen Städten ausfindig machen, insgesamt 43 Camps. In einem Großteil dieser Lager würden die jungen Menschen „systematisch umerzogen“, etwa durch Unterricht in „kultureller, patriotischer und/oder militärischer Bildung“.

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Umkämpfte Gebiete: Russische Propaganda an den Schulen

Doch nicht nur Verschleppungen sind Teil russischer Politik – sondern auch die Manipulation der Menschen in den von Russlands Armee besetzten Gebieten im Süden und Osten der Ukraine. So seien die ukrainischen Schulbücher dort nach und nach ersetzt worden, sagt Hoffmann – durch russische Schul-Propaganda. „Durch Bücher, die den Kindern die russische Weltsicht vermitteln und die ukrainische Kultur und Nation negieren“, so der deutsche Jurist.

Mehrere westliche Nichtregierungsorganisationen untersuchten für eine aktuelle Studie Schulbücher, die in den seit 2014 von Russland besetzten Gebieten im Unterricht gebraucht werden, sowohl in Klassen von Grundschülern als auch an den weiterführenden Schulen. Ihr Fazit ist eindeutig: Bildungsprogramme seien Teil der russischen Kriegsführung und demnach ein „Instrument der Aggression gegen die Ukraine“. Die Erziehung in den besetzten Gebieten ziele darauf ab, die Kinder in der Ukraine zu „einem Teil des russischen Volkes“ zu machen. Zu „Patrioten“, die bereit seien, für Russland zu kämpfen. Und zu sterben.