Wolfsburg/Lübeck. Es war eine Art Grundsatzrede von Daniela Cavallo. Sie will, dass die Gewerkschaft sich stärker einmischt. Auch im eigenen Laden gibt es Bedarf.

Volkswagen-Betriebsratschefin Daniela Cavallo erwartet eine starke Politisierung sämtlicher Lebensbereiche – wie einst in den 1960er- und 1970er-Jahren. „Der eigene Arbeitsplatz und das eigene Arbeitsumfeld werden bereits in naher Zukunft so politisch sein wie noch nie – und umso wichtiger wird dabei die integrative Kraft der betrieblichen Mitbestimmung“ , sagte die Wolfsburgerin in ihrer Lübecker Rede zum Gedenken an den früheren SPD-Kanzler Willy Brandt, der für den gesellschaftlichen Aufbruch vor 50 Jahren stand. Gut versteckt in ihrer langen Rede stellte sie auch die Frage, ob „fette Managerboni“ angesichts derkünftig noch bei VW gezahlt werden könnten. Hört sich so an, als wehe vor den Tarifverhandlungen ein nach Klassenkampf riechender Herbststurm durchs VW-Reich.

Mehr Friday for Future wagen

Unter dem Kanzler Brandt entwickelte sich auch die qualifizierte Mitbestimmung zu jenem Instrument der Arbeitnehmervertretungen, das heute vor allem bei Volkswagen zur vollen Reife gelangt ist. Doch damit ist es nach in einer Welt voller Konflikte und Verteilungskämpfe nicht getan. „Mitbestimmung bleibt nur dann attraktiv und gesellschaftlich relevant– also fit für die Zukunft – wenn sie anschlussfähig und durchlässig ist. Die Mitbestimmung muss ein beliebter Aufzug sein, ein gefragter Katalysator und begehrter Nährboden für relevante Themen. Bewegungen wie Fridays for Future oder Me too müssen auch direkt aus der Gewerkschaftsbewegung kommen – oder aber zumindest mit ihr wachsen und an Bedeutung gewinnen können. Durchaus auch global“, sagte Cavallo in Lübeck.

Klassenunterschiede zwischen Management und Tarifbeschäftigten

Dann wurde sie deutlicher. Der Arbeitsplatz und der Betrieb seien keine politikfreien Räume. Im Gegenteil, so Cavallo. Auch dort würden die existenziellen Fragen sich nicht verdrängen lassen. Es gehe um Wirtschaft, Ethik und Moral, um Fragen von Krieg und Frieden, um die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, um Equal Pay, um die Diversity-Dimensionen wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Gesundheit und soziale Herkunft. Cavallo: „Oder denken Sie auch nur an die Frage der , zum Beispiel bei der betrieblichen Altersvorsorge oder bei der Lebensarbeitszeit und beim Renteneintrittsalter. Oder auch nur daran, ob wir in den nächsten Monaten noch die bekannten fetten Boni an Manager zahlen, nicht mehr wissen, wie sie mit ihren Lebenshaltungskosten klarkommen sollen.“ Die Rhetorik ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass Volkswagen und die IG Metall vor schwierigen Tarifverhandlungen stehen.

„Es kommt entscheidend auf die Mitbestimmung an“

Die bundesdeutsche Gesellschaft ist 54 Jahre nach der Eruption der Studentenunruhen in Europa erneut von deutlichen Spaltungstendenzen geprägt. Der Krieg in der Ukraine, die Krise der Energieversorgung, aber auch die immer spürbarer werdenden und anderen Transformationsbrüchen auf das Arbeitsleben sorgen für Unsicherheit. Dies konstatierte auch die Betriebsratsvorsitzende: „Meine These betrifft aber vor allem auch die Binnensicht von Gewerkschaften. Den eigenen Habitus, den Tellerrand. Gewerkschaften haben aus meiner Sicht heute eine größere Verantwortung als je zuvor. Wir erleben ein Auseinanderdriften von Gesellschaft. Wir erleben unterschiedliche Geschwindigkeiten und wir innerhalb der Bevölkerung. Hier müssen die Gewerkschaften zukünftig noch viel engagierter öffentlich und gemeinsam auftreten. In Zeiten mit enormen Fliehkräften – und genau dort steuern wir hinein – stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Kitt immer stärker. Mitbestimmung muss dazuzählen. Sie muss das leisten. Es kommt entscheidend auf sie an.“

Die Betriebsverfassung ist nicht mehr auf dem neuesten Stand

Am Beispiel der Autoindustrie nannte Cavallo den „Klimarucksack“, den diese Branche zu schultern habe. Das Problem müsse aber gesellschaftlich betrachtet werden. Schließlich trügen auch die Konsumgewohnheiten der Menschen zum Klimawandel bei. „Welche demokratischen Standards stecken hinter all diesem Konsum? Keine Frage: Eine Mitbestimmung, die hier nicht wie ein Seismograf handelt und wo nötig mit vorausgeht, wird an Relevanz einbüßen“, glaubt die Betriebsratsvorsitzende. Welche Schlussfolgerungen zieht ? Sie sieht vor allem Konsequenzen für das Gelingen des Wirtschaftsumbaus, der unter dem Begriff Transformation in vollem Gange ist. „Ohne mehr Macht für die betriebliche Mitbestimmung und ohne eine gestärkte, modernere Betriebsverfassung scheitert die Transformation. Wir haben bei Volkswagen vor wenigen Monaten Betriebsratswahl gehabt. Auf einem unserer Wahlplakate stand: Vorstände kommen und gehen. IG Metall bleibt. Aber um kämpfen und bleiben zu können, dafür braucht es schon die nötige Unterstützung. Heute dreht sich unsere Arbeit um Schlagworte wie Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Internationalisierung und um geradezu historische Herausforderungen wie die ganzer Wirtschaftszweige mit Hunderttausenden Beschäftigten und deren Familien. Und da müssen wir leider feststellen: Unsere 50 Jahre alte Betriebsverfassung ist längst an zu vielen Stellen hinter die gesellschaftliche und technologische Entwicklung zurückgefallen. Dringend muss daher eine Modernisierung her“, fordert die Wolfsburgerin.

„Produkte werden grundsätzlich infrage gestellt“

Der Wandel in Arbeitsleben und Wirtschaft erleichtere durchaus nicht die Situation aller Beschäftigten. Die viel gepriesene Freiheit und Flexibilität könne sich auch ins Gegenteil kehren. „Die Wahrheit aber ist: Es geht um die maximale Freiheit und Flexibilität der Arbeitgeberseite auf Kosten der abhängig Beschäftigten. Produkte, die sicherten, werden grundsätzlich infrage gestellt. Unsere Abhängigkeiten in den globalen Lieferketten und den internationalen Produktionsstrukturen sind so störungsanfällig wie wohl niemals zuvor. Und immer seltener trägt unsere Kolleginnen und Kollegen eine Ausbildung oder ein Studium bis ans Ende des Berufslebens“, sagte Cavallo in Lübeck. Die Lösung sei „ein deutliches Plus an Mitbestimmung“. Betriebsräte müssten die Transformation noch wirksamer mitgestalten können. Cavallo ist sich sicher: „Sie müssen vor allem Qualifizierung und Beschäftigungssicherung maßgeblich beeinflussen. Ihre Informations- und Beteiligungsrechte müssen, gerade auch mit Blick auf das Tempo der Digitalisierung, gestärkt werden.“

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