Wie sich Jungen grandios inszenieren, um sich von ihren Ängsten zu befreien – Interview mit dem Psychoanalytiker Dr. Hans Hopf

Mit dem Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten Dr. Hans Hopf sprach Henning Noske.

Sie beschäftigen sich besonders mit dem Verhalten und Auffälligkeiten von Jungen. Lassen Sie uns über die wichtigsten psychoanalytischen Erklärungsansätze sprechen.

Beginnen wir mit den Störungsbildern: Es werden vom Kindesalter bis zum Jugendlichenalter etwa vier Mal so viele Jungen an Beratungsstellen oder bei Psychotherapeuten vorgestellt wie Mädchen.

Jungen zeigen eher nach außen gerichtete Störungen – wir nennen sie in der Psychoanalyse externalisierend. Zu diesen Störungen zählen Hyperaktivität, Unruhe, Aggressionen – das heißt, es sind viele Störungen im sozialen Bereich. Jungen zeigen aber beispielsweise auch viel häufiger Auffälligkeiten beim Sprachverhalten und im Bereich der Rechtschreibung.

Mädchen hingegen leiden eher an Angststörungen, an psychosomatischen Erkrankungen, wie etwa Essstörungen oder Depressionen. Wenn wir ein plakatives Bild finden wollen: Jungen machen den Schulhof zum Kampfplatz, Mädchen den eigenen Körper.

Eltern fragen sich: Was ist noch ein normal differierendes Verhalten – und was ist schon eine Störung?

Meine Antwort auf Ihre Frage fällt ganz pragmatisch aus: Eine Störung liegt dann vor, wenn eine Auffälligkeit oder ein extremes Verhalten einen Leidensdruck auf das Kind oder seine Umgebung ausübt.

Geschlechts-Unterschiede sind wichtig. Die gibt es, weil ein Geschlecht auf sich aufmerksam macht, beeindrucken will, angezogen wird. Geschlechtsunterschiede sind gut und richtig, wenn sie nicht störend wirken oder von außen zur Diskriminierung eingesetzt werden.

Was sind die Ursachen?

Es gibt genetisch bedingte, also angeborene Ursachen. Und es gibt umweltbedingte, erworbene. Über die genetischen Ursachen haben bei Ihnen bereits andere Wissenschaftler berichtet – also beispielsweise über das fehlende zweite X-Chromosom beim männlichen Geschlecht, die andere hormonelle Ausstattung, ein anderes Aggressions-Potenzial.

Wir können jedoch die genetischen Ursachen von den erworbenen, also den Einflüssen der Umwelt letztlich nicht trennen. Was in Beziehungen erlebt und empfunden wird, hat immer Folgen für die vorhandene genetische Ausstattung, diese ist keineswegs unveränderlich: Umwelteinflüsse werden bereits vor der Geburt wirksam.

Und Gene werden auch nach der Geburt durch Umwelteinflüsse aktiviert. Deshalb ist alles, was in der frühen Kindheit stattfindet, prägend dafür, was sich später einmal als psychischer Geschlechtsunterschied – oder vielleicht als psychische Auffälligkeit – manifestieren wird.

Was ist vor diesem Hintergrund Erziehung, was kann sie bewirken?

Erziehung ist zunächst einmal Beziehung. Das neugeborene Kind braucht eine Bezugsperson, seine Mutter. Es ist eine triviale Tatsache, dass sowohl ein Junge als auch ein Mädchen als erstes einer Frau begegnen. Für die Psychoanalyse ist es jedoch nicht trivial und keine Selbstverständlichkeit, denn dies sind unterschiedliche Beziehungserfahrungen. Aufgrund der geschlechtlichen Gleichheit können Mütter ihre Töchter als sich ähnlich erleben, als etwas Vertrautes, quasi als eine Verlängerung ihres eigenen Selbst. Aber auf der andere Seite auch als bekannt, vertraut und daher wenig aufregend.

Dagegen erleben die Mütter ihre Söhne schon früh von sich getrennt, fremd – aber andererseits verführerisch. Diese Tatsache kann auch Angst auslösen. Empirisch wie aus rückblickender Sicht der Psychoanalyse wurde festgestellt, dass Jungen früher aus der frühen Symbiose mit der Mutter entlassen werden – und früh zur Aktivität, zur Bewegung nach draußen ermuntert werden.

Und dies ist ein Verhalten, das sehr früh verstärkt wird. Von Jungen wird bewusst und unbewusst erwartet, dass sie aktiv sind und sich wegbewegen. Manche Mütter stellten schon früh fest, dass Jungen stärker auf Bewegung wie das Gewiegtwerden reagieren – und Mädchen mehr auf Geschmack und Berührung, beispielsweise über den Schnuller im Mund.

Daraus entsteht eine Lawine: Für den Jungen bekommt das Abreagieren von Spannungen über Bewegung mit der Zeit wesentlich größere Bedeutung als beim Mädchen. Jungen träumen übrigens sogar häufiger von Bewegung als Mädchen!

Aus dieser Not wird schließlich eine Tugend gemacht, Spannungen werden über Aktivitäten abgeführt. Die Jungen reagieren mit Unruhe, wenn sie – beispielsweise, getrennt von den Eltern - im Kindergarten Angst haben.

Über Größenphantasien und mit Aggressionen anderen gegenüber leben sie ihre Ängste oft aus. Dasselbe kann bei der Einschulung stattfinden. Auf diese Weise wird dann mancher unruhige Junge als Störenfried verkannt. Dabei tut er es letztlich, weil er Angst hat.

Angst – wovor?

Weil sich der Junge zu früh aus der primären Beziehung zu Mutter lösen musste, verlor er äußeren Halt und geriet in eine Selbständigkeit, der er längst noch nicht gewachsen war. Diese Entwicklung kann bei vielen Jungen verfolgt werden.

Der Junge kann darum von Gefühlen leicht überfordert werden und versucht das durch eine gewisse Grandiosität auszugleichen. Er bewältigt beispielsweise Ängste in der Weise, indem er sie nicht zur Kenntnis nimmt – oder über Bewegung auslebt.

Das Mädchen hat viel bessere Fähigkeiten entwickelt, Gefühle in sich wahrzunehmen, über Ängste zu reflektieren – und diese auch ernst zu nehmen.

Und dies alles wird von außen noch verstärkt?

Schon Säuglinge werden in stereotyper Weise wahrgenommen. Man hat Versuche mit Erwachsenen gemacht und hat sie einschätzen lassen: Die – angeblichen - Söhne wurden als aufmerksam, mutig und kräftiger beschrieben, obwohl es oft Töchter waren.

Solche Rollenzuweisungen, was weiblich und männlich ist, sind in uns fixiert – beispielsweise Erwartungen an Jungen, dass sie stark sind, nicht weinen, an Technik interessiert sind, rausgehen, aktiv sind. Von früh an wird also ein bestimmtes Verhalten ausgelöst – aber auch ein bestimmtes Verhalten erwartet.

Dann verdoppelt sich der Effekt?

Ja, beides verstärkt sich gegenseitig. Und so kommt es irgendwann so weit, dass die Jungen ihre Spannungen und Ängste auch eher über Bewegungs-Unruhe zu bewältigen versuchen.

Was ist also die entscheidende Rolle der Mutter für den Jungen – um dann in einer weiteren Frage auf den Vater zu kommen?

Am Anfang ist in der Regel die Mutter da, die das Kind versorgt und einfühlsam mit ihm umgeht. Sie erspürt bewusst und unbewusst seine Bedürfnisse und tritt mit ihm in einen zunächst nicht-verbalen und später verbalen Dialog. Der Vater ist ebenfalls von Anfang an als ein anderer dabei. Und das Kind nimmt es auch so wahr, dass der Vater anders als die Mutter ist.

Eine Beziehung beider Eltern erlebt das Kind etwa im 2. Lebensjahr. Jetzt kommt der Vater als ein Dritter hinzu. Vorher gab es eine Zweier-Beziehung zur Mutter oder eine Zweier-Beziehung zum Vater.

Den Vater jetzt als Dritten zu erleben, erleichtert es dem Kind unter anderem, sich von der Mutter zu lösen. Allerdings muss das Kind auch erkennen können, dass Mutter und Vater ein Paar sind.

Welche Rolle spielt der Vater als männliches Vorbild?

Erziehung ist, wie bereits erwähnt, Beziehung – aber auch Identifizierung. Vor allem ist für den Jungen die zuvor erwähnte Identifikation mit dem Vater als einem Dritten sehr wichtig.

Das Mädchen hat es da leichter, es konnte sich von Geburt an mit der Mutter identifizieren. Und jetzt sind wir bei einem gravierenden Problem: Fehlt der Vater – oder ist er nicht ausreichend psychisch präsent – dann hat der Junge keine ausreichende Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren.

Man muss nüchtern konstatieren: Viele Mütter sind heute alleinerziehend, viele Väter sind komplett verschwunden aus dem Einflussbereich des Kindes. Wir haben beobachtet, dass solche Jungen sehr aggressiv werden können.

Sie identifizieren sich nicht mit einem realen Vater, sondern haben illusionäre Phantasien von Männlichkeit und werden darum macho-haft und aggressiv.

Wohlgemerkt, dies ist eine Gefährdung, kein Selbstverständlichkeit, keinerlei Automatismus innerhalb der Entwicklung des Jungen. Aber es macht auch deutlich, wie wichtig eine Identifizierung mit normaler Männlichkeit, mit ihren Stärken und Schwächen, ist.

Lassen sich solche Defizite in einem Kindergarten oder in der Schule ausgleichen?

Das ist nicht ausgeschlossen. Allerdings treffen Jungen in Kindergarten und Grundschule heutzutage wieder nicht sehr oft auf Väterliches, mit dem sie sich identifizieren könnten.

Und leider wird eine Person, die mit Kindern zu tun hat, in unserer Gesellschaft nicht ausreichend gewürdigt, manchmal sogar noch immer diskriminiert. Dabei ist es dringend erforderlich, dass wieder mehr Männer in der Erziehung und in Grundschulen präsent sind.

Und das stellt ein gewisses Drama in der ganzen Geschichte dar. Jungen, die schon unruhig sind und ihre Affekte nicht im Griff haben, werden von Pädagoginnen manchmal nicht ausreichend verstanden. Möglicherweise wiederholt sich dann in der Beziehung, dass Jungen anders, ja fremd erlebt werden.

Das ist ein großes Problem, weil nicht selten die Leistungen solcher auffälligen Jungs abfallen und sie zunehmend drohen, Schulverlierer zu werden.

Welche Rolle spielt das Unterbewusstsein, das Unbewusste?

Was von mir gesagt wurde, ist vielleicht nicht leicht zu begreifen – warum beispielsweise eine Mutter vor einem kleinen männlichen Säugling Angst haben soll.

In Beziehungen spielen jedoch lebensgeschichtliche Ereignisse, unbewusste Konflikte und Haltungen immer eine große Rolle. Es kann also durchaus Ereignisse in der Vergangenheit geben, die eine solche kleine oder größere unbewusste Angst einer Mutter begründen.

So können aus ganz kleinen Dingen große erwachsen: Aus Beziehungsqualitäten, die von Anfang an wirken, können sich langfristig Verhaltensänderungen und Auffälligkeiten entwickeln.

Zum Glück läuft alles meist normal und unauffällig ab. Doch bei allen Jungen ist zumindest eine leise Tendenz festzustellen, sich gerne nach außen zu wenden, bewegungsfreudig und unruhig zu sein. Störende Geschlechtsunterschiede, Auffälligkeiten von Jungen sind dort am geringsten, wo Mutter und Vater sehr früh gemeinsame Verantwortung für ein Kind übernehmen und sich dabei partnerschaftlich austauschen.