Braunschweig. Ostfalia-Professor Jürgen Kuck kritisiert Deutschlands Energiepolitik. Es drohe eine gefährliche Strom-Unterversorgung.

Dem Strom gehört die Zukunft. Wenn es um Klimaschutz geht, setzen Politik und Wirtschaft auf Elektrifizierung. Zwei Beispiele aus unserer Region sind die Elektro-Mobilität und das Bestreben der Salzgitter AG, nahezu CO2-frei Stahl zu produzieren. Woher aber kommt der Strom, reicht er aus, und sind die Netze vorbereitet? Professor Jürgen Kuck, Energieexperte an der Ostfalia-Hochschule in Wolfenbüttel gibt Antworten.

Herr Professor Kuck, das Bundesverfassungsgericht hat ein Urteil gefällt, das Klimaschutz als Staatsziel aufwertet und die Bundesregierung zu schnellerem Handeln verpflichtet. Die hat reagiert, Deutschland soll nun 2045 klimaneutral werden statt 2050. Der Kohleausstieg ist in vollem Gange. Sind wir mit der Klimaschutzpolitik nun auf einem guten Weg?

Ich fürchte, wir tun gerade den zweiten Schritt vor dem ersten: Wir schalten bundesweit Kohlekraftwerke gegen Prämien ab, ohne dass es Ersatz gibt.

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Müsste der Ausbau von Wind- und Solarenergie beschleunigt werden? Ohnehin setzen Politik und Wirtschaft auf Elektrifizierung.

Dieser Weg ist auch richtig, denn Strom können wir aus regenerativen Energien oder Kernenergie CO2-frei herstellen. Aber Ausbau der regenerativen Stromerzeugung allein löst das Problem nicht. Wir brauchen zu jedem Zeitpunkt eine zuverlässige Stromversorgung. Photovoltaik und Wind können keine Versorgungssicherheit darstellen. Ganz einfach gesagt: Wenn nachts kein Wind weht, liefern beide Erzeugungsarten keinen Strom. Und manchmal haben wir im Winter mehrere trübe und windstille Tage nacheinander. Dann haben wir diese Situation – auch großräumig: Das sind die legendären Dunkelflauten, über die gelegentlich so diskutiert wird, als wären es seltene Katastrophen. Aber Dunkelflauten, auch längere, sind Normalität.

Professor Jürgen Kuck von Ostfalia-Hochschule warnt vor einem großflächigen Stromausfall.
Professor Jürgen Kuck von Ostfalia-Hochschule warnt vor einem großflächigen Stromausfall. © Rudolf Flentje (Archiv)

Was müssten wir tun, um die Stromversorgung jederzeit zu gewährleisten?

Wenn der Kernenergieausstieg durchgezogen werden soll und die stillgelegten Kohlekraftwerke auch nicht mehr betrieben werden sollen, müssten wir sofort anfangen, Erdgaskraftwerke bauen.

Aber dann ersetzen wir doch eine fossile Energie durch eine andere.

Ja. Natürlich soll die Zukunft anders aussehen, mit großen Gaskavernen für Wasserstoff in den Salzstöcken Norddeutschlands, riesigen Elektrolyseuren, die mit überschüssigem Wind- und Solarstrom Wasserstoff erzeugen, und mit Wasserstoff betriebenen Kraftwerken, die in den Dunkelflauten aus diesen Speichern den Wasserstoff entnehmen und Strom erzeugen.

Und warum bauen wir dann keine Wasserstoffkraftwerke?

Wir haben den Wasserstoff nicht, und es gibt solche Kraftwerke noch nicht. Sie können weltweit nirgends eine Gasturbine bestellen, die reinen Wasserstoff verbrennen kann. Maximal geht im Moment Erdgas mit 50 Prozent Wasserstoffbeimischung. Interessanterweise erwartet auch die Bundesregierung nicht, dass in absehbarer Zeit nennenswerte Strommengen aus Wasserstoff erzeugt werden. Auf eine Anfrage der FDP-Fraktion wird für 2030 eine verstromte Wasserstoffmenge zwischen 0 und 20 Terawattstunden genannt. Nach Verstromung mit 60 Prozent Kraftwerkswirkungsgrad – das ist aktuell der Bestwert – wären das also maximal 12 Terawattstunden Strom.

Also zu wenig?

Ja, denn gleichzeitig soll der Stromverbrauch unter anderem durch Wärmepumpen und Elektroautos bis 2030 um gut 10 Prozent auf rund 650 Terawattstunden steigen.

Deshalb plädieren Sie für den Bau der Erdgaskraftwerke?

Ja, gerne solche, die schon Wasserstoffbeimischung vertragen. Die baut aber keiner. Insgesamt werden durch die Stilllegung der Atom- und Kohlekraftwerke 54.000 Megawatt gesicherte elektrische Leistung vom Netz gehen, im Bau sind zurzeit aber nur 1200 Megawatt, zuzüglich einiger kleinerer Anlagen. Dazu gehört das Gas- und Dampfkraftwerk in Wolfsburg mit einer Leistung von zweimal 141 Megawatt.

Warum sind Betreiber so zögerlich beim Bau von Erdgaskraftwerken?

Nach der Erfahrung mit dem Kohleausstieg hat im Moment offenbar niemand mehr Lust, in Deutschland ein Kraftwerk zu bauen. Das hochmoderne Steinkohlekraftwerk Moorburg in Hamburg zum Beispiel ist nur sechs Jahre gelaufen. Vattenfall musste deshalb im vergangenen Jahr 1,2 Milliarden Euro abschreiben. Klar, dass sie keine große Lust mehr haben, in Deutschland Kraftwerke zu bauen, zumal die Umweltbewegung nun auch den Neubau von Erdgaskraftwerken ablehnt, weil das Methan als Hauptbestandteil des Erdgases – wenn es entweicht – einen wesentlich größeren Treibhauseffekt hat als CO2.

Also steuern wir auf eine Versorgungslücke zu?

Ja, natürlich. Ohne dass es die Öffentlichkeit bemerkt, hat sich ein fundamentaler Strategiewechsel vollzogen: Bislang war Deutschland immer in der Lage, die stets im Winter auftretende elektrische Lastspitze von rund 80.000 Megawatt mit eigenen Kraftwerken zu decken. Aber bis Ende 2022 gehen wegen der Stilllegung der Atom- und Kohlekraftwerke rund 20.000 Megawatt an gesicherter Leistung raus. Ab 2023 können wir absehbar die Spitzenlast in Deutschland nicht mehr mit eigenen Kraftwerken abdecken . Man kann eine ganz einfache Rechnung machen: Wenn man die stündliche Stromerzeugung aller Kraftwerke von 2019 nimmt, und dort die gesicherte Leistung abzieht, die bis Ende 2022 vom Netz gehen soll, dann haben wir bei Flaute in 2980 der 8760 Stunden eine Unterdeckung, selbst wenn wir annehmen, dass alle vorhandenen Erdgaskraftwerke mit Volllast betrieben werden

Woher soll der Strom in Engpass-Situationen kommen?

Er wird aus „stillgelegten“ Kohlekraftwerken kommen, die von der Bundesnetzagentur als Reserve definiert worden sind. Man will sich zudem mit Abschaltungen großer industrieller Verbraucher helfen, vor allem aber durch Import aus dem Ausland. Die Netzbetreiber weisen in ihrem „Bericht zur Leistungsbilanz“ für 2022 bereits einen Importbedarf von 7200 Megawatt für den Fall einer Engpass-Situation aus. So einfach ist das aber nicht. Frankreich zum Beispiel hat viele Elektroheizungen und braucht den Strom im Winter selbst. Dänemark hat viel Windenergie und wird bei Flaute genauso im Energiemangel sein wie Deutschland.

Ist ein Blackout, also ein großflächiger Stromausfall, wahrscheinlicher geworden?

Natürlich ist ein Blackout wahrscheinlicher geworden. Noch bis Ende der 1990er Jahre waren die Höchstspannungsnetze, also die sogenannten Übertragungsnetze, gewissermaßen die Stromautobahnen Deutschlands, kaum belastet. Dann kam ab 1998 der Stromhandel, seitdem kann quasi jeder bei jedem Kraftwerk bundesweit seinen Strom beziehen – natürlich erzeugt das zusätzliche Stromflüsse, die das Netz belasten. Hinzu kommt, dass manche Stromhändler durch ihre Handelspraxis für Ungleichgewichte bei der Strombilanz gesorgt haben, so zum Beispiel mehrfach im Juni 2019. Damals fehlten im Netz zeitweilig 6000 Megawatt – das entspricht etwa 10 Prozent.

Strom aus Sonne und Wind fließt zudem nicht gleichmäßig...

...ja, die schwankende Einspeisung regenerativer Energie hat stark zugenommen und belastet die Netze, ganz besonders die Windenergie, die vor allem im Norden erzeugt wird und in den industrialisierten Süden Deutschlands durchgeleitet werden muss. Und es gibt neue Bedrohungen, durch klimabedingte Wetterextreme und durch Hackerangriffe. In der Ukraine wurde schon zwei Mal durch Hacker der Strom abgeschaltet. Und es müssen nicht mal Hacker sein, schon ein Serverausfall an der Strombörse kann erhebliche Probleme im elektrischen Netz verursachen.

Das heißt, wir bräuchten ein Netz mit einer höheren Stabilität.

Ja, aber wir machen das Gegenteil.

Aber die Stromversorgung in Deutschland ist doch angeblich sehr sicher. Nach Angaben der Bundesnetzagentur gab es 2019 die niedrigsten Ausfallzeiten seit Beginn der Erhebungen.

Ja, das ist der sogenannte SAIDI-Wert. Der besagt in diesem Zusammenhang gar nichts, denn Gott sei Dank sind große Störungen im Übertragungsnetz extrem selten, die letzte gab es am 4. November 2006. Auch das war noch kein Blackout des Übertragungsnetzes, die Frequenz im Südwesten Europas war aber kurzzeitig auf 49 Hertz gefallen. Zur Erklärung: Die normale Frequenz liegt bei 50 Hertz, das ist die Frequenz des Wechselstroms in jeder Steckdose. Wird von diesem Wert durch eine Unterspeisung abgewichen, wird das irgendwann bedrohlich. Ab 47,5 Hertz schalten sich alle Kraftwerke ab. Um das zu vermeiden, wurden 2006 zehn Millionen Haushalte für bis ein bis zwei Stunden vom Netz getrennt. Der SAIDI-Wert macht nur eine Aussage über die Zuverlässigkeit der spannungsmäßig unter den Übertragungsnetzen liegenden Verteilnetze, wie sie zum Beispiel von Stadtwerken betrieben werden – und die sind tatsächlich zuverlässiger geworden. Aber im Übertragungsnetz, also eine Etage höher, haben sich teilweise recht dramatische Dinge abgespielt.

Zum Beispiel?

Am 8. Januar 2021 schaltete sich eine Netzkupplung – wenn Sie so wollen, ein großer Schalter – im Umspannwerk Ernestinovo in Kroatien ab. Das führte zu einer Kaskade von Überlastungen und automatischen Abschaltungen, so dass das europäische Netzgebiet in einen südöstlichen und einen nordwestlichen Teil zerfiel, zu dem Deutschland gehörte. In diesem Teil herrschte Strommangel, und die Frequenz fiel von 50 Hertz auf 49,74. Das bedeutet, die Störung konnte mit der verfügbaren Regelleistung – die Schwankungen im Netz ausgleichen soll – nicht mehr kompensiert werden, die reicht nur bis 49,8 Hertz.

Ein Blackout blieb dennoch aus?

Ja, man hat die Situation zum Glück relativ schnell wieder in den Griff bekommen, vor allem durch Abwurf von industriellen Verbrauchern in Frankreich und Italien. Wir haben als Verbraucher ahnungslos vor unseren Fernsehern gesessen und davon nichts bemerkt.

Also ist doch alles gut gegangen.

„Ett is noch immer jotjegange“, sagt man in Köln. Aber – wie oben beschrieben: Die Reserven werden immer kleiner.

Worauf wollen Sie hinaus? Sie haben doch selbst eine 100-prozentige regenerative Energieversorgung Deutschlands in Vorträgen propagiert.

Propagiert habe ich hoffentlich nichts. Ich habe in Vorträgen dargestellt, dass man Deutschland zu 100 Prozent regenerativ versorgen kann, wenn man alle Register zieht: Alle Häuser sind wärmegedämmt, alle Autos fahren elektrisch, die Industrie ist weitgehend auf Strom und nur, wo es nicht anders geht, auf Wasserstoff umgestellt. Eine regenerative Versorgung stellt unser Energiesystem auf den Kopf, das braucht Zeit, besonders für den Umbau der Energieverbrauchsstrukturen – weg von den Brennstoffen, hin zum elektrischen Strom.

Wie lange wird die Umstellung dauern?

Das entsprechende Gutachten für die niedersächsische Landesregierung hatte die Zeitperspektive 2050 – und wir haben darin ganz bestimmt nicht empfohlen, als erstes gesicherte Kraftwerksleistung ersatzlos abzuschalten.

Was schlagen Sie vor?

Die Braunkohlekraftwerke sollten raus, zweifellos, so schnell wie möglich. Aber ich würde keine Steinkohlekraftwerke stilllegen.

Weil die Braunkohlekraftwerke pro Kilowattstunde mehr CO2 emittieren als die Steinkohlekraftwerke?

Das stimmt, aber das ist nicht der Grund. Wenn man ein Braunkohlekraftwerk schließt, schließt man damit auch den entsprechenden Tagebau, denn Braunkohle wird fast ausschließlich vor Ort verstromt. Wenn wir ein Braunkohlekraftwerk stilllegen, sorgen wir also dafür, dass der fossile Kohlenstoff dort bleibt, wo er hingehört: im Boden. Dagegen importieren wir Steinkohle zu 100 Prozent vom Weltmarkt. Wenn wir sie nicht importieren, stehen diese Mengen dem Weltmarkt zur Verfügung, größeres Angebot senkt die Preise. Also bauen andere Kohlekraftwerke. In Asien sind zurzeit 147.000 Megawatt im Bau und weitere 193.000 Megawatt in Planung. Wenn wir die deutschen Braunkohlekraftwerke stilllegen, kann man also sagen, wir haben einen kleinen, aber sehr sinnvollen Beitrag zum Klimaschutz geleistet. Wenn wir Steinkohlekraftwerke stilllegen, gefährden wir nur die Versorgungssicherheit, und der Effekt für das Klima ist eher kontraproduktiv.

Das erinnert an Ihren Vorschlag „Kauft Kohlenstoff!“

An diesem Vorschlag hat es viel Kritik gegeben. Aber wie man es auch dreht und wendet: An einer ressourcenorientierte Klimaschutzpolitik führt kein Weg vorbei. Wir müssen langsam mal sagen, welcher fossile Brennstoff wo auf der Welt im Boden bleiben soll und wie wir die Eigentümer dieser Vorräte dazu bewegen wollen, ihn auch dort zu lassen - das bedeutet: Wie wir sie entschädigen wollen. Anders wird es nicht gehen. An den Einnahmen aus dem Ölverkauf hängen ganze Staatshaushalte, von Algerien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, in der Aufzählung sind auch Russland und Venezuela.

Sie haben ziemlich viel Mitgefühl mit den Ölscheichs.

Purer Realismus. Und das ausgegebene Geld ist ja nicht weg, wir können die früheren Eigentümer der fossilen Vorräte dazu verpflichten, es in regenerative Energieerzeugung zu investieren.

Wenn Sie in einem Satz die heutige Klimaschutzpolitik beschreiben sollten…

...wir gefährden unsere Versorgungssicherheit durch Maßnahmen, die dem Klimaschutz nichts bringen.