Braunschweig. Vor 50 Jahren erschüttert der Bundesliga-Skandal den deutschen Fußball. 16 Spieler von Eintracht Braunschweig werden bestraft.

Es hatten sich wohl alle eher auf eine gemütliche Grillparty im Garten eingestellt. Die Saison war gerade erst zu Ende gegangen, der Sommer hatte begonnen und zu diesem 50. Geburtstag waren zahlreiche Journalisten und Größen des deutschen Fußballs eingeladen, darunter der damalige Bundestrainer Helmut Schön. Leicht erhitzte Fachgespräche über den letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga waren wahrscheinlich das Aufregendste, mit dem die Gäste gerechnet hatten. Doch dann ließ der Gastgeber eine Bombe platzen, die allen die Sprache verschlug.

Genüsslich an einer Zigarette ziehend und an einem kleinen Tisch unter einem Sonnenschirm sitzend, spielte am 6. Juni 1971 Horst-Gregorio Canellas, Präsident von Kickers Offenbach, in seinem Garten im südhessischen Obertshausen ein Tonband ab, das für den größten Skandal in der deutschen Fußball-Geschichte sorgte. Auch 50 Jahre danach ist dieser Betrug allenfalls mit dem Wettskandal 2005 um den Schiedsrichter Robert Hoyzer vergleichbar.

Dietmar Erler ist geschockt – sein Name fällt

Die Mitschnitte von den Telefongesprächen, die Canellas präsentierte, bewiesen, dass in der Bundesliga mehrere Spiele gegen Bestechung verschoben worden waren – zum Leidwesen von Rot-Weiss Essen und seinen Kickers aus Offenbach. Beide Klubs mussten am Ende der Saison absteigen. Nicht dass Offenbach-Präsident Canellas unbedingt ein Unschuldslamm war. Nein, auch er hatte versucht, andere Teams zu bestechen – allerdings nur zum Schein und auch nur, um die Machenschaften aufzudecken, wie er hinterher beteuerte. Richtig aufgeklärt wurde das aber nie. Zunächst wurde Canellas vom DFB-Sportgericht wie viele andere lebenslang gesperrt, später wurde die Strafe aufgehoben. Die Konkurrenz aus Bielefeld und Oberhausen hatte jedenfalls mehr geboten. Canellas war stinksauer, ließ alles auffliegen und brachte einen Skandal ins Rollen, der schnell auch ein paar hundert Kilometer weiter nördlich ankam – bei Dietmar Erler in Braunschweig.

„Ich war richtig geschockt, als das Thema aufkam. Denn bei Canellas im Garten fiel ja auch mein Name. Der Erler, so hieß es, habe bei Braunschweig alles angezettelt“, erinnert sich der ehemalige Stürmer der Eintracht. Der heute 74-Jährige hatte gerade seine erste Saison im Trikot der Blau-Gelben absolviert und an der Seite des herausragenden Meisterspielers Lothar Ulsaß sieben Tore in 30 Punktspielen erzielt. Nun war er mit den Löwen in einen handfesten Skandal verwickelt. Die Braunschweiger hatten sich zwar nicht wie andere Mannschaften fürs Verlieren kaufen lassen. Diesen Tabubruch begingen die Spieler des FC Schalke 04, der damals hinter Borussia Mönchengladbach Zweiter geworden war. Sie verloren absichtlich gegen Bielefeld und hielten dafür die Hand auf. Bekannte Akteure wie die Nationalspieler Stan Libuda, Klaus Fichtel oder Fallrückzieher-Gott Klaus Fischer wurden teilweise für mehrere Jahre gesperrt.

„Das ist mir richtig in die Knochen gefahren“

Aber auch die Braunschweiger handelten nicht gerade wie aufrechte Sportsleute. Sie waren zwar nicht ganz so dreist, wie der Kölner Torwart Manfred Manglitz, der auf Canellas Tonbändern zu hören war, wie er sagte, dass er gegen Offenbachs Abstiegs-Konkurrenten Rot-Weiss Essen „einige Dinger durchlassen“ würde, wenn er nicht einen entsprechenden finanziellen Anreiz bekomme. Geld haben die Löwen dann aber doch auch angenommen. „Wir waren verdammt naiv und haben dieses Thema komplett unterschätzt“, sagt Erler heute. Das wirft er sich immer noch vor. „Das ist mir damals richtig in die Knochen gefahren und war mir für den Rest meines Lebens eine Lehre. Danach habe ich oft bewiesen, dass ich aufrichtig und ehrlich bin“, blickt Erler mit Reue auf den schwarzen Fleck in seiner ansonsten großen Fußball-Karriere zurück, in der er allein für Eintracht Braunschweig 261 Meisterschaftsspiele absolvierte.

Angefangen hatte für ihn alles mit einem Besuch bei seinen Eltern in Bielefeld. Da meldete sich Gerd Roggensack, sein ehemaliger Mitspieler von Arminia Bielefeld, der dort immer noch kickte und mit dem Klub in der Saison 1970/71 tief im Abstiegskampf steckte, bei Erler. Seine Botschaft war: Du, jemand von uns will mal mit dir reden. Es folgte der Auftritt von Rupert Schreiner, Arminia-Mäzen und Bau-Unternehmer. „Ein zwielichtiger Typ“, erinnert sich Erler. Allerdings nicht der einzige in diesem Skandal. „Als ich mich mit ihm getroffen habe, sagte er zu mir: Wir wollen, dass ihr am Samstag gegen Oberhausen gewinnt. Da habe ich geantwortet: Herr Schreiner, das wollen wir auch.“

Kapitän Ulsaß handelte die Zusatzprämie aus

Konkret wurde es anschließend laut Erler aber nicht. Er hätte den Bielefelder Bau-Unternehmer an seinen Kapitän Ulsaß verwiesen. „Ich war ja erst ein Jahr in Braunschweig und Lothar war bei uns der Chef, der hatte in der Mannschaft das Sagen“, erklärt Erler. Er habe zurück in der Löwenstadt dem Führungsspieler nur ausgerichtet, dass sich bald jemand bei ihm melden würde. Und so kam es auch. „Lothar hat für uns an dann eine Zusatzprämie von den Bielefeldern fürs Gewinnen ausgehandelt, nicht fürs Verlieren. Das hätten wir nicht gemacht“, beteuert Erler und will sich und seine Ex-Kollegen damit etwas abgegrenzt zu den Schalkern sehen, die absichtlich verloren haben.

Trotzdem war es natürlich alles andere als ehrenhaft wie sich die Braunschweiger verhielten. Und sie waren anscheinend auch nicht zimperlich im Verhandeln mit Bau-Unternehmer Schreiner. Erst war von 120.000 Mark für einen Sieg die Rede, dann von 170.000 Mark. Einen Teil der „Zusatzprämie“ wollten die Braunschweiger schon vor dem Anpfiff gegen Oberhausen sehen, mehrere zehntausend Mark wurden vorgestreckt und zur Sicherheit schon einmal in Empfang genommen.

Eintracht-Ikone spielte eine kleine Nebenrolle

Eine kleine Nebenrolle in dieser Geschichte hatte dabei vielleicht auch jemand, der heute noch im Kreis der Eintracht aktiv unterwegs ist: Jürgen „Jumbo“ Weisheit. Der 83-Jährige ist seit mehr als 50 Jahren in verschiedenen Funktionen bei den Löwen tätig, kümmert sich in der Gegenwart noch um die Belange der Jugend. Die enge Verbindung zu den Blau-Gelben entstand über jenen begnadeten Fußballer Lothar Ulsaß. Weisheit hatte diesem bei dessen Ankunft in Braunschweig ein Haus besorgt.

„Ja, da war ich wahrscheinlich dabei“, sagt Weisheit, als wir ihn telefonisch erreichen und nach den Ereignissen vor 50 Jahren befragen. „Ich wusste damals aber nicht, was genau Sache ist“, erzählt er. „Lothar hatte zu der Zeit gerade keinen Führerschein“, fährt er fort. Deshalb sei der Eintracht-Star vor dem Spiel gegen Oberhausen zu ihm gekommen und habe ihn gebeten, mit ihm mal wo hin zu fahren. „Wir haben uns dann mit meinem roten Opel Kadett zu einer Autobahn-Raststätte aufgemacht. Als wir da waren, sollte ich mit laufendem Motor warten, Lothar ist rausgesprungen und kam kurz darauf mit einem kleinen Päckchen unter dem Arm wieder“, berichtet Weisheit. Natürlich wusste er damals schon, dass da wohl irgendwas faul war, den Zusammenhang mit dem Bundesliga-Skandal vermutete er erst später. Aber was tut man nicht alles für einen guten Freund, der nebenbei auch noch der Star des Lieblingsklubs ist.

Bielefelds Mäzen haut mit dem Geld ab

Die Braunschweiger hatten ihren Vorschuss jedenfalls erhalten. Den Rest sollten sie bekommen, wenn das Spiel gegen Oberhausen gewonnen wurde. Doch es kam anders. Bielefelds Mäzen Schreiner saß am letzten Spieltag auf der Tribüne im Eintracht-Stadion, einen Koffer mit Geld zwischen den Beinen, neben sich einen Unterhändler der Löwen, Utz Lamers, ein weiterer Freund von Ulsaß. Aber die Braunschweiger schafften es nicht, zu gewinnen. Sie waren zwar in Führung gegangen, doch beim Schlusspfiff stand es 1:1. Da wollte Schreiner nur noch schnell das Stadion verlassen, angeblich aber nicht, ohne sich noch vorher mit etwas Nachdruck den Vorschuss zurückgeben zu lassen. Die Eintracht hatte den versprochenen Sieg ja auch gar nicht geliefert.

So billig wollte sich ein Braunschweiger allerdings nicht abspeisen lassen, immerhin hatte das Team mit vollem Einsatz für einen Erfolg gekämpft. Max Lorenz war außer sich und suchte die Tribüne mit den Augen ab. „Wo ist der Schreiner“, rief er in Richtung der Ersatzbank. Dort saß Erler, der sich zuvor im Training verletzt hatte. „Max war kurz nach dem Ausgleich von Oberhausen ausgewechselt worden und hatte so die Zuschauerplätze gut im Blick. Als Schreiner abhaute, ist er ihm schnell hinterher. Das war dann schon eine filmreife Szene“, sagt Erler.

Mit der Polizei zum Flughafen

Lorenz erwischte den Bielefelder, wie „Der Spiegel“ in seiner Aufarbeitung des Skandals 1972 berichtete, gerade noch rechtzeitig auf dem Braunschweiger Flugplatz, nachdem er sich von einem Polizeiwagen mit Tempo durch die Straßen der Löwenstadt habe fahren lassen – die Ordnungshüter waren doch auch Fans der Eintracht. Einen Sieg hatten er und seine Mitspieler zwar nicht abgeliefert, aber sie hatten alles versucht, und die Arminia war doch auch nicht abgestiegen. Folgender Satz von ihm in Richtung Schreiner wurde anschließend dokumentiert: „Geben Sie wenigstens 40.000 Mark. Die Jungs wollen doch alle in Urlaub.“

Viel Freude hatten die Braunschweiger anschließend aber nicht mit dem Geld, nachdem Canellas einen Tag später in seinem Garten die Bombe platzen ließ. DFB-Chefankläger Hans Kindermann führte die Ermittlungen und kannte auch mit den Eintracht-Spielern keine Gnade. 16 Akteure der Löwen wurden verurteilt – so viele wie bei keiner anderen Mannschaft. Die meisten, wie Dietmar Erler, kamen zwar mit einer Geldstrafe davon, doch Burkhardt Öller wurde drei Monate gesperrt, Max Lorenz 14 Monate und Lothar Ulsaß durfte sogar fast eineinhalb Jahre kein Fußball mehr in Deutschland spielen. Der Rekordtorschütze der Eintracht in der Bundesliga sah sich zu hart bestraft und zog sich verbittert nach Wien zurück, wo er seine Karriere beim Wiener SC fortsetzte. Er blieb in Österreich bis zu seinem Tod 1999.

1973 steigt Eintracht Braunschweig ab

Ohne ihn war die Eintracht-Elf längst nicht mehr so stark und der Skandal sorgte für zusätzliche Unruhe. 1971 hatten die Blau-Gelben die Saison noch auf dem vierten Tabellenplatz abgeschlossen. Ein Jahr später wurden sie nur noch Zwölfter, 1973 stiegen sie sogar als Tabellensiebzehnter zum ersten Mal aus der Bundesliga ab. „Das war sicherlich eine Spätfolge des Skandals. Die Sache ist an unserer Mannschaft nicht spurlos vorbeigegangen“, blickt Erler traurig zurück. Er blieb der Eintracht auch in der Zweitklassigkeit treu und schaffte mit dem Klub nach nur einem Jahr die Rückkehr in die Bundesliga. Es war der Auftakt zu einer erfolgreichen Phase der Löwen, mit dem dritten Platz 1977 als Höhepunkt und großen Auftritten im Europapokal. Erler war da immer noch dabei und konnte auf eine tolle Karriere zurückblicken, als er seine Profi-Karriere Anfang der 80er beendete – trotz des Makels vom Skandal 1971. „Ich stehe dazu, dass ich daran beteiligt war und kann nur sagen, dass mir das für mein späteres Leben eine Lehre war“, sagt der heutige Rentner.

Die Braunschweiger können von sich behaupten, dass sie nie absichtlich verloren haben wie die Schalker und deshalb auch nicht so hart bestraft worden sind. Die Klubs Offenbach und Bielefeld, die sich mit den Bestechungsgeldern den Klassenerhalt gesichert hatten, mussten sogar zwangsabsteigen. Doch Unschuldsknaben waren die Eintracht-Spieler damals auch nicht, wie Canellas bei seiner denkwürdigen Gartenparty aufdeckte.