Salzgitter. Queer in der Kirche: Als sich Marlen Below aus Salzgitter-Bad mit 61 Jahren outete, hatte ihr Versteckspiel ein Ende. Einfach aber auch jetzt nicht.

Wie lange kann ein Mensch ein Geheimnis in sich tragen, wie lange eine Rolle spielen, die gar nicht zu ihm passt? Wie lange kann man anderen etwas vormachen, bis es schmerzt – ohne daran zu zerbrechen? Vor allem, wenn dabei auch noch die Kirche eine Rolle spielt. Und ein Thema wie Transgender eine Rolle spielt, das in der Gesellschaft für teils menschenunwürdige Stimmen sorgt.

Ulf Below ist 61 Jahre alt, als er beschließt: So geht es nicht mehr weiter. Es ist ein Morgen im September, am Nachmittag sollen die Kinder und Verwandte zu einem Familienfest kommen.

Quuer sein in der Kirche: Marlen Below fand erst mit 61 Jahren den Mut, sich zu outen

Seine Frau Andrea sagt: Irgendetwas ist mit Dir. Willst Du mir nicht sagen, was es ist? Doch es ist nichts, was man einfach so erzählt zwischen Kuchenbacken und Tischdecken. Nichts, was sich in einen Satz pressen lässt, in ein paar Worte, die man so dahin wirft. Erst am Abend findet Ulf Brelow, zu diesem Zeitpunkt als Pfarrer in Salzgitter-Band tätig, die Zeit, sich endlich zu öffnen: Ich bin nicht der, den Du meinst, vor Dir zu sehen. Ich lebe in einem falschen Körper. Das Versteckspiel hat ein Ende. Der Mann aus der Kirche packt das Thema Transgender auf den Tisch. Und aus Ulf wird Marlen.

In den Räumen der Gemeinde Heilige Dreifaltigkeit in Salzgitter Bad ist es kühl an diesem Vormittag, die Schritte hallen in dem großen Kirchenraum. Schräg fällt die Sonne durch das bunte Fensterglas, auf dem Altar der Kirche steht ein schlichtes Kreuz aus Stein. Transsexualität, transgender, queer sein – das bringt nicht jeder direkt in Zusammenhang mit der Kirche, das passt irgendwie nicht sofort zusmamen. Doch es geht.

Thema Transgender in der Kirche: Glaube gibt Below großen Halt beim Outing

Marlen Below, 63, trägt Ohrringe, Jeansjacke, Jeansrock, einen rosa Schal und schwarze Stiefeletten mit Absätzen, die auf dem Parkettboden klackern. Sie geht den Gang entlang, führt durch die Kirche, in der sie schon seit fast 20 Jahren als Pfarrer gepredigt hat. Sagt, wie sie irgendwann den Mut fand, sich zu outen, wie sie den Schritt in ein neues, freies Leben wagte. „Mein Glaube hat mir dabei großen Halt gegeben – die Gewissheit: Es gibt einen Gott, der mich nicht abweist“, so Below zum Thema Transgender.

Marlen Below hat vor ihrem Outing schon fast 20 Jahre als Pfarrer in Salzgitter gepredigt. „Mein Glaube hat mir dabei großen Halt gegeben – die Gewissheit: Es gibt einen Gott, der mich nicht abweist“, sagt sie.
Marlen Below hat vor ihrem Outing schon fast 20 Jahre als Pfarrer in Salzgitter gepredigt. „Mein Glaube hat mir dabei großen Halt gegeben – die Gewissheit: Es gibt einen Gott, der mich nicht abweist“, sagt sie. © Florian Kleinschmidt | Florian Kleinschmidt

Marlen Below hat ihre Geschichte, wie sie zum Thema Transgender steht und es lebt, viele Male erzählt. Als Pfarrerin steht sie ohnehin in der Öffentlichkeit. Sie geht offen mit ihrem Outing um. Da ist zum Beispiel der fünfjährige Junge, der den grünen Lodenrock seiner Mutter anzieht und zunächst gar nicht versteht, was das in ihm auslöst. „Ich fühlte mich wie elektrisiert, konnte es überhaupt nicht einordnen“, so Below.

Noch vorm Dasein als Transgender-Pfarrerin: Während des Studiums sammelt Ulf Below Kleider und Röcke

Seine Eltern erwischen ihn, weisen ihn zurecht: Das macht man nicht. Das ist falsch. Verdorben. Doch die Sehnsucht, der Drang nach Mädchen- und Frauenkleidern und damit auch die Themen Transgender und Transsexualität bleiben. Auch später, als der Berufsweg Below in die Kirche führt. „So bin ich mit dem Gefühl des Verbotenen aufgewachsen“, blickt Marlen Below zurück. Und auch mit dem Gefühl, einen Fehler in sich zu tragen. Transgender – ein Fehler, den man ausradieren muss, so der Gedanke, der sich lange hält..

Da ist der Zehnjährige, der dreimal in der Woche laufen geht, als wolle er vor etwas flüchten. Der junge Mann, der sich einen Bart wachsen lässt, Kraftsport macht, um sich Muskeln anzutrainieren. Ich muss stark sein, sagt sich Below gefangen in den Gefühlen zwischen Mannsein und Transgender. Er fährt Motorrad. Er will alles zu 150 Prozent machen, um keinen Makel zu zeigen, alles unter Kontrolle haben, beweisen, dass er „ein ganzer Kerl“ ist.

Transgender-Pfarrerin aus Salzgitter - Endlich im richtigen Körper

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    Doch es gibt da eben auch die weibliche Seite: Sie fühlt sich viel besser, viel richtiger an. Während des Studiums sammelt Ulf Below im Kleiderschrank Kleider und Röcke, zieht sie heimlich an. Ein Versteckspiel, auch der Gefühle. Gleichzeitig quält ihn ein schlechtes Gewissen, weil er Menschen, die er liebt, nicht die Wahrheit erzählt.

    Da hieß Marlen noch Ulf Below. Das Foto entstand bei einem Besuch des Bundestags in Berlin.
    Da hieß Marlen noch Ulf Below. Das Foto entstand bei einem Besuch des Bundestags in Berlin. © Privat | Privat

    Sich nicht bekennen können, das Thema Transgender totschweigen – eine Überforderung, die krank macht. Irgendwann erreicht er den Punkt, an dem er spürt: Wenn es nicht aufhört, kann ich nicht mehr, mag ich nicht mehr. Er bekommt Magen- und Rückenprobleme als Folge eines drohenden Burnouts, einen Tinnitus – bis heute ist der hochfrequente Dauerton, dieses Fiepen im Ohr ein ständiger Begleiter.

    Transsexualität: In einer psychosomatischen Klinik erzählt Below alles einem Therapeuten

    2017 kommt er in eine psychosomatische Klinik in den Odenwald. Ein Therapeut ahnt, dass hinter den Gesundheitsproblemen etwas Tiefergehendes steckt. Das erste Mal vertraut sich Ulf Below einem anderen Menschen an, spricht über Gefühle, queer sein, das Thema Transgender.

    Obwohl er sich vornimmt, mit seiner Frau darüber zu sprechen, wird es noch einmal drei Jahre dauern. Immer wieder kommen Zweifel, überwiegt die Angst, Menschen, die er liebt zu verlieren. Wie nehmen seine Frau, die Kinder es auf, dass er jahrzehntelang in einem fremden Körper lebte?

    Transgender-Pfarrerin aus Salzgitter: Wie erlebte die Ehefrau das Outing?

    Das Pfarrhaus liegt direkt gegenüber der Kirche. Ein grauer Bungalow, der von einem großen Garten umrahmt wird. Wer aus der Terrassentür nach draußen blickt, sieht den Glockenturm der Kirche in den Himmel ragen. Andrea Below öffnet die Tür. Die 59-Jährige trägt ein schwarzes T-Shirt mit bunten Farbtupfern, darüber ein offenes Leinenhemd. Ihre Augen hinter der randlosen Brille blicken freundlich auf den Besuch. Sie bittet ins Wohnzimmer. An der Wand hinter dem Esstisch hängen Bilder von der Familie, von ihrem gemeinsamen Leben, Fotos mit den drei Kindern.

    „Ich hatte gemerkt, dass etwas im Raum steht, das Gefühl, dass wir uns auseinanderleben und Marlen nicht glücklich ist“, sagt sie. „Und ich hatte es auf mich bezogen.“ Nach dem Outing an jenem Abend im September 2020 fühlt sie sich erstmal erleichtert: Es lag nicht an ihr. Gleichzeitig schießen ihr im Zusammenhang mit dem Outing und Transgendersein viele Fragen durch den Kopf: Warum hat Marlen ihr Geheimnis 20 Jahre lang mit sich herumgetragen, sich ihr gegenüber nicht geöffnet? Wie geht es jetzt weiter? Was bleibt in der Ehe, was geht und was verändert sich?

    Marlen Below mit ihrer Frau Andrea im Garten des Pfarrhauses in Salzgitter-Bad.
    Marlen Below mit ihrer Frau Andrea im Garten des Pfarrhauses in Salzgitter-Bad. © Katrin Schiebold | Schiebold, Katrin

    Seit 21 Jahren sind die Belows verheiratet. Das Fundament ihrer Beziehung ist so stark, dass es hält. Gemeinsam erzählen sie es den Kindern, der Familie, gemeinsam fahren sie zum Landesbischof, thematisieren Transsexualität auch im Kreise der Vertreter der Kirche. Alle sagen dem Paar ihre Unterstützung zu. Andrea Below arbeitet als Schulpfarrerin in Salzgitter-Bad und ist ebenfalls Mitglied der Landeskirche Braunschweig. Wie steht ihr Arbeitgeber zu Transsexualität beziehungsweise -identität? Wie stark ist in der Gemeinde noch das traditionelle Bild von Ehe und Familie verankert?

    Queer sein und Transexualität: Evangelische Kirche bezieht sich auf Vielfalt, in der Gott uns geschaffen hat

    Transpersonen, die als Pfarrer oder Pfarrerin arbeiten, gibt es mehrere in Deutschland. 2018 hat die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau eine Broschüre zur Transsexualität vorgestellt und sich darin klar positioniert. „Wahrnehmung geschlechtlicher Vielfalt verlangt, den Horizont zu öffnen. Es ist nötig, eigene Denkmuster zu überprüfen“, heißt es darin. Es gelte, die Vielfalt, in der Gott uns geschaffen habe, zu bejahen und Diskriminierung zu beenden.

    „Mit Blick auf existentielle Herausforderungen können sich alle Personen der seelsorgerlichen Begleitung durch die Kirche gewiss sein“, sagt auch der Sprecher der Braunschweigischen Landeskirche, Michael Strauß, ohne auf konkrete Beispiele eingehen zu dürfen. „Nach ihrer Überzeugung sind alle Menschen von Gott gleichermaßen geliebt, egal, welche geschlechtliche Identität sie haben.“

    Transgender-Pfarrerin Marlen Below setzt auf maximale Transparenz und schreibt der Gemeinde

    Ermutigt durch die ersten positiven Reaktionen auf ihr Outing schreibt Marlen Below den Konfirmanden-Familien, dann den Kita-Eltern und schließlich in einem Brief an die komplette Gemeinde. Sie entscheidet sich beim Thema Transsexualität für die maximale Transparenz, macht sich dadurch aber auch verletzbar. Ihr Schreiben verbreitet sich rasant im Internet und erreicht sogar ehemalige Konfirmanden in Süddeutschland.

    Die Reaktionen sind überwältigend: Alle stützen Marlen Below in ihrer Entscheidung, immer wieder findet die Familie vor ihrer Haustür Blumen und Karten mit Glückwünschen. Das Paar ist erleichtert, unendlich dankbar. Für Andrea Below geht es trotzdem viel zu schnell. „Ich brauchte Zeit, um meinem alten Leben, meinem alten Partner nachzutrauern“, sagt sie. Sie hatte einen Mann geheiratet – was sich in einer Ehe mit einer Partnerin ändert, darauf konnte sie sich nicht vorbereiten. Ostern 2021 geht sie in Therapie, in der sie ihre Trauer, ihre Gedanken zu verarbeiten lernt. Sie lernt auch zu akzeptieren: Es ist egal, ob sie mit einem Mann oder einer Frau zusammenlebt. Es ist der Mensch, den sie liebt.

    Transsexualität: Die Frage der geschlechtlichen und sexuellen Identität ist komplex

    Was bedeutet eigentlich Frausein? Mannsein? Tatsächlich ist die Frage nach der geschlechtlichen und sexuellen Identität komplex. Zwischen 60.000 und 100.000 Deutsche sind in einer ähnlichen Situation wie Marlen Below. Die Zahlen sind eine grobe Schätzung der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität. Sie sind deshalb so ungenau, weil immer wieder um Definitionen gerungen wird. Der Oberbegriff Trans* bezeichnet Menschen, die sich nicht oder nicht nur mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Welches Bild wird von der Gesellschaft geprägt?

    Menschen lassen sich nicht in Schubladen stecken, es gibt viele Schattierungen bei der Frage der geschlechtlichen Identität. Was es aber auch gibt, sind Vorurteile – trotz einer zunehmenden Offenheit in der Gesellschaft, wenn es um Theman wie Transsexualität geht.Nach einem Bericht der EU-Agentur für Grundrechte von 2020 erleben Trans*menschen in Europa immer noch Diskriminierung im Alltag, zehn Prozent der Befragten gaben an, in den letzten zwölf Monaten Belästigungen oder Gewalt erfahren zu haben. Jeder fünfte wurde sogar angegriffen.

    Die Namensänderung war kompliziert

    „Ich hatte viel Glück“, sagt Marlen Below mit Blick auf die positiven Rückmeldungen nach ihrem Outing. Sie fühlt sich befreit, locker, leicht. „Ich bin unendlich froh, dass ich nun sagen kann: So bin ich – nehmt mich an, als Mensch, der ich bin.“ Gleichwohl weiß sie, dass sie noch einen Weg mit vielen Hürden vor sich hat. Schon die Namensänderung ist kompliziert – „sonst bekommt man einen Namen, mit dem man leben muss, jetzt musste ich mir einen aussuchen“. Mit ihrer Familie kommt sie auf das Lied „Lilli Marleen“ von Lale Andersen. Marlene Dietrich singt es in ihrer Interpretation mit einer schönen, tiefen Stimme. Das zweite „E“ im Namen Marleen lässt Marlen Below einfach weg – wegen der individuellen Note.

    Um ihren Namen zu ändern, benötigt sie zwei unabhängige psychologische Gutachten und muss die sogenannte Personenstandsänderung bei Gericht beantragen. Der Akt vor dem Amtsgericht im vorigen Sommer ist nach wenigen Minuten erledigt. Die körperliche Transition dauert dagegen wesentlich länger. Marlen Below lässt sich Kopfhaare transplantieren und in einer schmerzhaften Behandlung die bis zu 30.000 Barthaare entfernen. Schon jetzt muss man sehr genau hinsehen, um noch einen Schatten unter ihrem Make-up zu entdecken, doch auch die wenigen Stoppeln sind ihr noch zu viel.

    Frausein statt Mannsein: Auf Transgender-Pfarrerin Below wartet geschlechtsumwandelnde Operation

    Ihr Leben lang wird sie Hormone schlucken müssen. In diesem Sommer steht zudem die geschlechtsumwandelnde Operation in Magdeburg an. Sie sehnt dem Eingriff entgegen, weil ihr körperliches Geschlecht dann endlich auch zu ihrer geschlechtlichen Identität passt. Und dann? „Wir stehen kurz vor einem Tor, das sich öffnet“, sagt Andrea Below. Marlen Below nickt. Für beide ist es die letzte große Hürde.

    Sieht sie sich als Vorbild für andere, die sich aus Rollenbildern und einer Gender-Norm befreien wollen? Marlen Below überlegt kurz: „Vielleicht in dem Sinne, dass ich anderen Mut machen kann: Leute, traut euch, öffnet euch. Man zerbricht nicht daran, sondern entdeckt neue Dimensionen im Leben“, sagt sie. Und: „Am Ende wird Gott nicht fragen, wie viele Häuser Du gebaut hast, sondern: Wann bist Du Du selbst gewesen?“ Wer eine Antwort darauf hat, wird seine Erfüllung finden. In welcher Form auch immer.