Lebenstedt. Der Fredenberg – was ist das eigentlich für ein Quartier? Jener Ort, an dem im Juni die 15-jährige Anastasia tot in einem Gebüsch gefunden wurde

Der Fredenberg gilt in Salzgitter als Brennpunkt. Bundesweit geriet das Quartier in die Schlagzeilen, als dort im Juni die 15-jährige Anastasia tot in einem Gebüsch gefunden wurde. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig Anklage erhoben gegen einen der beiden mutmaßlichen Mörder der Jugendlichen.

Wir hatten uns vor einigen Tagen umgeschaut in jenem Quartier in Lebenstedt. In einer Reportage schildern wir, wie die Menschen, die dort leben, ihr Quartier sehen. Fühlen sie sich sicher? Leben Sie gerne hier? Hier lesen Sie die ganze Reportage.

Die junge Frau kauert auf einem Stein vor dem Supermarkt am Markt im Fredenberg. Es ist erstaunlich ruhig an diesem Nachmittag. Der Himmel ist grau, es regnet. Und trotzdem: Wir wollen dieses Quartier erkunden, wollen mit Menschen sprechen, die hier unterwegs sind. Wie lebt und arbeitet es sich im „Brennpunkt“ Fredenberg? Wie ist das Miteinander? Wie gehen die Menschen mit den Problemen um? Stehen sie zu ihrem Stadtteil? Was macht dieses Quartier aus?

Was macht den Fredenberg aus? Wie sehen die Bewohner ihr Viertel? Ein Besuch im Quartier

Ein erster Streifzug. Mehrfamilienhäuser reihen sich aneinander. Manche mehr, manche weniger gepflegt. Rollatoren und Räder vor und neben den Eingängen. Schulen mitten im Quartier. Was auffällt: Es ist erstaunlich grün. Und hier und da gibt es jemanden, der sich liebevoll um ein kleines Fleckchen Garten kümmert. Kinder spielen auf dem Bürgersteig. Der Sprachenmix fällt auf. Aber: Die Kinder in ihrem Spiel verstehen sich, auch ohne die Sprache des anderen zu kennen. Um hier mitzumischen, braucht es keine türkischen oder arabischen Sprachkenntnisse. Spielende Kinder brauchen keine Sprache. Und diese hier sind versunken in ihrem Spiel. Was sie spielen? Klar: Fußball.

Weiter geht es in Richtung der Ladenzeile mit dem Parkplatz in der Mitte. An der Kurt-Schumacher-Straße vorbei an der BLSK. Vor der Bank: ein Container mit einem Geldautomaten. Die Bank selbst: verrammelt. Vor einigen Wochen war hier zum zweiten Mal ein Geldautomat gesprengt worden. Die Fenster an der Seite der Bank in Richtung Ladenzeile sind von der Detonation aus dem Mauerwerk gedrückt worden. Es duftet nach Döner. Links lässt sich ein Blick in die Küche erhaschen. Zwei Frauen sind dort bei der Arbeit.

Das Zentrum im Fredenberg: In der Mitte ein Parkplatz, drumherum Läden, eine Kirche, das Stadtteilzentrum, Awista und ein Supermarkt. Dieser Platz ist der Treffpunkt des Viertels.
Das Zentrum im Fredenberg: In der Mitte ein Parkplatz, drumherum Läden, eine Kirche, das Stadtteilzentrum, Awista und ein Supermarkt. Dieser Platz ist der Treffpunkt des Viertels. © Rudolf Karliczek

Das erste Gespräch: Zwei Brüder, die aus dem Rewe kommen. Sie sind zu Besuch in der alten Heimat. Der Anlass: traurig. Ihr Vater ist gestorben. Trotzdem nehmen sie sich einen Moment Zeit: „Klar erkennen wir die Stadt wieder. Aber es hat sich viel verändert“, erzählt einer der Brüder. Besonders falle ihm auf, „dass der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund sehr zugenommen hat“. Einst habe sehr viel leer gestanden, das habe sich offensichtlich geändert. „Wir sind früher viel nach Braunschweig gefahren“, erinnert sich der andere Mann. Aber: „Der Salzgittersee ist schön. Und Salzgitter ist eigentlich keine Stadt, sondern besteht aus vielen Orten, von denen viele sehr schön sind.“ Weiter geht es. Zurück in Richtung Parkplatz und Ladenzeile. Ein wenig im Slalom, denn es liegen Unrat und die Hinterlassenschaften von Mensch und Hund herum. Ein junger Mann huscht vorbei, das Handy in der Hand. Und was auffällt auf: Jogginghosen sind offensichtlich DAS Kleidungsstück. Turnschuhe dazu, eine Handtasche – auch für Männer – fertig ist das perfekte Freizeit-Outfit der jüngeren Generation.

Zwei Frauen mit Kinderwagen plaudern vor dem Gemüseladen, eine andere Frau wartet – an eine Laterne gelehnt. Sie steht schon eine ganze Weile dort. Zwei junge Frauen kommen, schwer mit Einkaufstüten beladen, vorbei. „Ja, wir wohnen hier“, erzählen sie. Eine der beiden noch nicht sehr lange. „Wir fühlen uns wohl“, sagen beide. „Freunde haben uns bei der Suche nach einer Wohnung geholfen. Die Wohnung ist gut, das Umfeld nicht“, gesteht die 23-Jährige. Und trotzdem: „Die Wohnung ist eben bezahlbar. Und wir haben hier alles, was wir brauchen.“ Sie bleibt also? „Klar. Warum auch nicht? Probleme gibt es überall.“ Die beiden machen sich auf den Weg nach Hause.

Beim Obsthändler wird die Ware sortiert, zwei kleinere Kinder fahren auf einem E-Scooter vorbei. Das scheint niemanden zu kümmern. Und dann: wieder Döner-Duft. Es gibt hier einige Imbisse. Also: Pause beim Dönerladen. Wir kommen ins Gespräch. Die direkte Frage: Wie ist es hier – mitten im Fredenberg? „Meine Meinung: Zu viel von allem. Zu viele verschiedene Kulturen auf einem Haufen. Früher wusstest du, wer hier unterwegs ist. Jetzt gibt es Probleme – Kriminalität und Schmutz.“ Deutliche Worte. „Die Arbeit ist gut, manchmal gibt es Probleme mit der Verständigung. Aber wir sprechen hier immerhin Deutsch, Türkisch, Arabisch und Englisch.“

Ein junger Deutscher mit türkischen Wurzeln sagt: „Es sind einfach zu viele Kulturen hier“

Der junge Mann ist im Fredenberg aufgewachsen, im Imbiss arbeitet die Familie mit. Dass er den Fredenberg verlässt – „das war nie ein Thema“. Obwohl: „Die Gegend hier ist eine Katastrophe.“ Er selber wohne zwar auch im Fredenberg – aber in einem anderen Teil. „Da ist es sauberer als hier.“ Bis 22 Uhr hat der Döner-Laden jeden Tag geöffnet, Ärger gebe es schon ab und an. „Besonders am Wochenende, wenn Cliquen und Alkohol im Spiel sind. Es ist wirklich schlimm geworden“, sagt der junge Deutsche mit türkischen Wurzeln. „Kinder bringen Kinder um...“ Und wie ließe sich die Situation entschärfen oder verbessern? „Da kann man nichts ändern. Es sind einfach zu viele Kulturen hier. Soll die Politik sich doch etwas überlegen“, fordert er. Multikulti funktioniert also nicht? „Nee.“ Ein hartes, klares Urteil. Und trotzdem bleibt er…

Zwei Jugendliche kommen in den Laden. Man kennt sich. Und wie sehen sie ihre Stadt? „Salzgitter ist eine schöne Stadt. Klar gibt es hier Leute, die Ärger machen. Aber die gibt es überall“, erklärt einer von ihnen. „Wir gehen hier auf eine super Schule, haben super Lehrer“, macht der andere dem Fredenberg-Gymnasium ein riesiges Kompliment. Multikulti, finden die beiden, funktioniere hier super.

Weiter geht es. In einen Zeitschriften- und Tabakladen. Die Frau hinter dem Tresen: Eine Salzgitteranerin. Aus Salzgitter-Bad kam sie der Liebe wegen nach Fredenberg. „Ich wollte hier nie her“, lacht die freundliche Frau. „Wir haben in Bad immer gesagt bekommen: da sind die Fredenberger, diese Gangs… Ich habe das ganz anders erfahren.“ Längst hätten sie und ihr Mann Eigentum im Malerviertel. „Wenn man hier angekommen ist, fühlt man sich wohl.“ Aber: „Vor ein paar Jahren war es hier noch deutlich attraktiver. Es gab einen Schlachter, einen Schreibwarenladen und einen Bücherladen.“ Insgesamt aber habe sie „hier noch keine negativen Erfahrungen gemacht“. Ihr Tipp: „Es ist immer auch eine Sache der eigenen Haltung.“

Diese Gespräche machen nachdenklich. Es geht zurück in Richtung Supermarkt. Dort hockt noch immer die junge Frau auf dem Stein. Mühsam steht sie auf, geht in Richtung Parkplatz, schaut in den Mülleimer und fischt eine Pfandflasche heraus, die kurz zuvor ein Mann hineingeworfen hatte.

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