In einem Gastkommentar schreibt Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee über die Lehren der Geschichte an einem entsetzlichen Ort.

Es war eine denkwürdige Veranstaltung, die am 27. Januar 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, von Fernsehsendern aus aller Welt direkt übertragen wurde. Und es war ein zarter, alter Mann, der mit seiner Rede die Veranstaltung und die Schlagzeilen der Nachrichten prägte: „Seid nicht gleichgültig“, hatte Marian Turski, der 93-jährige polnisch-jüdische Auschwitz-Überlebende, als 11. Gebot formuliert.

Er skizzierte, wie „Auschwitz nicht vom Himmel gefallen“ sei, sondern sich schrittweise mit der Zerstörung der Demokratie in Deutschland und der Einengung der Bürgerrechte für jüdische Familien,für Sinti und Roma und für politisch Andersdenkende, mit Demütigung und Ausgrenzung bis hin zu den Gaskammern und Krematorien in Auschwitz realisiert habe. Und er fügte, zu den versammelten Staatsoberhäuptern und Regierungschefs aus vielen Ländern gewandt hinzu: „Das Wesen der Demokratie besteht darin, dass die Mehrheit regiert, aber die Demokratie besteht darin, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden.“

Unter den Politikern waren etliche, denen Turskis Worte schrill in den Ohren geklingelt haben müssen. Als eigentliche Adressaten seiner Worte aber hatte Marian Turski nicht die Politiker im Sinne, sondern seine Rede war vor allem an die jungen Menschen gerichtet, die – als Zeugen der Zeitzeugen – für die Zukunft Verantwortung tragen und von denen es abhängen wird, ob Deutschland und Europa das Erbe des Widerstandes – Demokratie, Toleranz und die Bewahrung der Erinnerung – beschützen und bewahren können.

So wie die jüdisch-ungarische Auschwitz-Überlebende Erszi Szemes jedes ihrer Gespräche mit jungen Menschen in vielen Ländern Europas mit dem Satz beendete: „Ihr müsst die Republik behüten!“

Zu denen, die Marian Turski, an diesem Tag in Auschwitz selbst zuhörten und mit ihm sprachen gehörten auch Auszubildende der Volkswagen-AG aus Braunschweig und Salzgitter sowie verschiedenen anderen Standorten in Deutschland. Es war ihre zweite Begegnung mit diesem Ort: Alle hatten im Jahr 2019 an zweiwöchigen Projektmaßnahmen ihres Arbeitgebers und des Internationalen Auschwitz-Komitees in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz teilgenommen: Sie hatten in den Archiven und Werkstätten der Gedenkstätte Schuhe der Ermordeten konserviert, bei der Sicherung und Restaurierung von Häftlingsbaracken in Birkenau geholfen und die Stacheldrahtzäune repariert, die das Vernichtungslager Birkenau fast endlos umschließen. Sie werden erhalten, weil sie – auf den ersten Blick – für die zwei Millionen Besucher aus aller Welt das sichtbarste und symbolischste Signal dafür sind, was an diesem Ort der Unfreiheit an weiteren Beweisen für den hier begangenen Völkermord zu finden sein wird. Nicht selten werden die jungen Leute aus Deutschland, die gemeinsam mit Altergenossen aus den polnischen VW-Werken und aus Partnerschulen arbeiten, von Besuchern der Gedenkstätte angesprochen: „Was macht Ihr hier?“ und „Warum seid Ihr gekommen?“

Sich erklären und sich begründen zu müssen – auch das ist für die Auszubildenden ein wesentlicher Teil dieses Projektes, der sich ihnen gerade in der emotionalen und intellektuellen Begegnung und Auseinandersetzung mit den Überlebenden des Lagers und bei Führungen in der Gedenkstätte erschließt. Für die Überlebenden von Auschwitz gehören die Begegnungen mit ihnen zu den prägendsten und berührendsten Erfahrungen ihrer letzten Lebensjahre: Die Jugendlichen machen ihnen Mut, dass ihr pädagogisches und aufklärerisches Engagement der vergangenen Jahrzehnte nicht vergebens gewesen ist. Diesmal werden die Demokratie und die Republik sich in Zeiten der Krise auf junge Demokraten verlassen können, denen die Lehren aus der Geschichte deutlich vor Augen stehen, weil sie einen der entsetzlichsten Orte dieser Geschichte mit eigenen Augen gesehen haben.

Fast will es scheinen, als lägen dieser Gedenktag und diese Veranstaltung Lichtjahre zurück. Zu sehr überlagert die Corona-Realität die Nachrichten von gestern und vorgestern: Halle und Hanau betrafen uns nur indirekt, gemeint und betroffen -das waren andere. Jetzt aber kommen wir alle ins Rutschen - mit unseren Emotionen und unseren Ängsten. Trotzdem tun wir gut daran, auch in diesen Tagen nicht zu vergessen, wie systematisch Hetzer und rechte Strategen an den Grundpfeilern unserer Demokratien in Europa zu rütteln versuchen und immer wieder an die niederen Instinkte der Menschen appellieren und deren Ängste durch Botschaften oder Fakenews zu instrumentalisieren versuchen. Die Schäbigkeit ihrer Botschaften, aber auch ihre Omnipräsenz in den sozialen Medien dokumentieren immer wieder Tweets voller Hass und Menschenverachtung. Das hätten sie gern, die elitären Volksverächter von rechts: Homo homini lupus. Der Mensch des Menschen Wolf. Gerade in diesen Tagen der Unterbrechungen und Stornierungen von Veranstaltungen und Projekten motiviert der Blick auf das Engagement der jungen Menschen von Volkswagen besonders: Wer -wie sie- realisiert hat, wie schnell die Zivilisation unter die Räder kommen kann, der steht mit seinen Gedanken und seinem Verhalten für die Menschlichkeit und für die Toleranz ein. Das berührt nicht nur mich in diesen Tagen ungemein.

Christoph Heubner ist Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees.