Drohobytsch. Zweimal sind unsere Reporter einem jungen Richtschützen im Ukraine-Krieg begegnet. Doch der Ort des dritten Treffens ist Olehs Grab.

Auf dem Friedhof von Drohobytsch haben sie ein neues Gräberfeld angelegt. Ukrainische Fahnen wehen im Wind. Ganz hinten, in der vorletzten Reihe, haben sie Oleh Hilzhynskyi zur letzten Ruhe gebettet. Grauer Kies umrahmt sein Grab, in die dunkle Erde sind Chrysanthemen und Mittagsblumen gepflanzt. Auch über seinem Grab flattern die Fahnen in Blau und Gelb.

Auf dem schlichten Holzkreuz ist ein Foto befestigt. Es zeigt einen jungen Mann, mit ernstem Blick und dunklem Vollbart, er trägt Helm und Uniform und eine Waffe in der Hand. 30. März 1998 bis 27. Februar 2024. Nicht mal 26 Jahre. So wenig Leben war Oleh vergönnt. Es schmerzt, vor seinem Grab zu stehen. Ausgerechnet Oleh.

Die erste Geschichte über Oleh: 47. Brigade: Zu Besuch bei Selenskyjs härtesten Kämpfern

In der Ukraine werden wir, die Funke-Reporter, immer wieder mit menschlichem Leid, mit Trauer, mit Tod konfrontiert. Es ist die grausame, unerbittliche Natur des Krieges. Wir versuchen die professionelle Distanz zu wahren. Manchmal aber kollabiert der Versuch, Abstand zu halten. Der Krieg kann persönlich werden. Am 1. März landet eine Mail eines Offiziers der 47. Brigade in meinem Postfach. Ein kurzer, knapper Hinweis. Oleh ist tot. Gefallen bei Berdytschi, Raum Awdijiwka.

Ukraine: Bei zweitem Besuch wirkt Oleh um Jahre gealtert

An einem warmen Septembertag im vergangenen Jahr haben wir Oleh kennengelernt. Er und andere Soldaten seiner Einheit ruhten sich in einem lichtdurchfluteten Waldstück an der Saporischschja-Front im Süden von den Kämpfen aus. Ein junger, schmaler Mann, nachdenklich, nüchtern. Er erzählte uns, dass er sich freiwillig gemeldet habe, von seinem Training in Deutschland, den Einsätzen als Richtschütze eines Bradley-Schützenpanzers.

Oleh Hilzhynskyi schien bei unserer zweiten Begegnung um Jahre gealtert zu sein.
Oleh Hilzhynskyi schien bei unserer zweiten Begegnung um Jahre gealtert zu sein. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Zwei Monate zuvor war sein Fahrer bei einem Raketeneinschlag gestorben. Oleh sprach offen davon, wie schwer es ihm gefallen sei, wieder in den Panzer zu steigen, und wie er und die anderen den Tod von Kameraden verarbeiteten. Damals entsteht das Foto, das jetzt an dem Holzkreuz in Drohobytsch befestigt ist. Im Januar trafen wir Oleh wieder, diesmal an der Front bei Awdijiwka im Osten. Sein Gesicht wirkte wie versteinert, er war um Jahre gealtert.

Er habe psychische Probleme, sagte er, weil er zu oft den Funk der Infanterie abgehört habe, die er mit seinem Panzer ins Gemetzel fahren musste. Er könne nicht mehr. In seinen Augen lag unendliche Müdigkeit. Ich fragte ihn, warum er weitermache. Er sagte, es sei ja niemand da, der ihn ersetzen könne. Oleh heftete sich wieder das Abzeichen an, das ihn als „Mastergunner“ auswies, als Richtschütze mit der Kompetenz, andere auszubilden. Oleh war stolz darauf.

Einwohner in Olehs Heimatdorf knien vor dem Leichenwagen

Als Oleh Hilzhynskyi Anfang März nach Hause kommt, erweisen ihm die Menschen in Drohobytsch im Westen der Ukraine die letzte Ehre. Er ist hier in der Sambirska-Straße aufgewachsen. Als der Leichenwagen am zentralen Platz der Kleinstadt ankommt, knien die Einwohner. Seine Kameraden tragen das Bild aus dem September. Auf den Fotos von der Trauerfeier sind seine Mutter und seine Großeltern zu sehen. Und eine junge Frau. In ihr Gesicht haben sich ohnmächtiger Schmerz und Traurigkeit eingegraben. Es ist seine Freundin. Sie ist Sanitäterin bei der 47. Brigade.

Die zweite Begegnung mit Oleh: Was über den Funk reinkommt, hat Oleh krank gemacht

Wenige Wochen später meldet sich die junge Frau. Kateryna Trapeznikova hat unsere Berichte über Oleh gelesen. Er habe trotz all der Verluste und der Schrecken des Krieges weitergemacht und seine Aufgabe so gut wie möglich erfüllt. „Weder seine Waffenfreunde noch seine Verwandten noch ich wollen, dass man ihn als gebrochen in Erinnerung behält“, schreibt sie. Sie will über ihren toten Freund reden. Im April treffen wir Kateryna in Pokrowsk, einer Kleinstadt in der Region Donezk, auf die die Kriegswalze zurollt. Die Front ist nicht mehr weit entfernt.

Kateryna Trapeznikova will über ihren toten Freund sprechen. Es fällt ihr im Gespräch mit unserem Reporter Jan Jessen schwer, die Fassung zu bewahren.
Kateryna Trapeznikova will über ihren toten Freund sprechen. Es fällt ihr im Gespräch mit unserem Reporter Jan Jessen schwer, die Fassung zu bewahren. © FUNKE Foto Services

Der Abend dämmert, als Kateryna aus dem Auto steigt, sie trägt Uniform, unter ihren Augen ist tiefes Schwarz. „Es wäre schön, wenn nicht ich, sondern er hier wäre“, sagt sie, als wir uns gegenübersitzen. Sie berichtet von dem verhängnisvollen 27. Februar. Oleh muss an diesem Tag wieder mit seinem Bradley an die Front, der Panzer wird in einer Senke bei Berdytschi getroffen. Oleh und sein Fahrer ziehen sich zu Fuß in ein Gebäude zurück, in dem schon andere Soldaten Deckung gesucht haben. Ein Artilleriegeschoss schlägt ein, zwei Männer werden verwundet, einer schwer.

Oleh starb bei dem Versuch, einen Kameraden zu retten

Oleh beschließt, den Schwerverletzten mit einem anderen Schützenpanzer in Sicherheit zu bringen. Bei dem Versuch trifft ihn ein Schrapnell im Nacken. „Ich habe das über Funk gehört. Sein Fahrer sagte, er sähe aus, als sei er tot“, erzählt Kateryna, es fällt ihr schwer, die Fassung zu bewahren. Als sie vor Ort ankommt, sieht sie, wie sie die Leiche ihres Freundes bergen. Gestorben bei dem Versuch, einen anderen Menschen zu retten. „Er war der einzige Richtschütze, der uns Sanitätern immer wieder geholfen hat, Verletzte herauszuholen.“

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Kateryna versinkt in Erinnerungen an ihren Freund. Vor neun Jahren hatten sie sich in Kiew kennengelernt, wo sie beide am polytechnischen Institut studierten. Oleh lebt damals nahe der Hauptstadt in Butscha. Das Haus, in dem er wohnte, war baufällig, er reparierte viel selbst. In seinem Garten standen Kirsch- und Apfelbäume. Er liebte es, am Lagerfeuer zu sitzen und in die Flammen zu schauen. „Er mochte ruhige Plätze.“

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Wenn sie abends aus waren, bestand Oleh immer darauf, Kateryna nach Hause zu bringen. Sie lächelt traurig. „Zwischen uns war eine tiefe Freundschaft.“ Ein Paar wurden sie viel später, sie näherten sich langsam und behutsam an. Als er sich freiwillig meldet, um seine Heimat zu verteidigen, folgt ihm Kateryna. Im Grauen des Krieges geben sie sich gegenseitig Halt.

„Er war jedes Mal erleichtert, wenn er zurückgekommen ist“

Jedes Mal, wenn er Verletzte von der Front brachte, hatten sie einige wenige Minuten miteinander, sie umarmten sich, küssten sich. „Er war jedes Mal erleichtert, wenn er wieder zurückgekommen ist.“ Manchmal haben sie länger Zeit miteinander, dann reden sie. Sie spürt seine Zweifel. Einmal sagt er nach einer besonders schlimmen Mission, er wünschte sich, ein Bein zu verlieren, um dem Grauen zu entgehen. Sie versucht ihn vergeblich zu überzeugen, in ihre Einheit zu kommen. „Er konnte sehr dickköpfig sein“, sagt sie.

Kateryna Trapeznikova ist Sanitäterin und musste zusehen, wie ihr Freund tot geborgen wurde.
Kateryna Trapeznikova ist Sanitäterin und musste zusehen, wie ihr Freund tot geborgen wurde. © FUNKE Foto Services

Am Tag vor seinem Tod rettet Oleh die Besatzung eines Abrams-Kampfpanzers, der Kommandant hat beide Beine verloren. „Oleh hat das immer sehr persönlich genommen. Er hat sich immer erkundigt, was aus den Leuten geworden ist, die er herausgeholt hat.“ Am nächsten Tag haben die beiden wieder ein kurzes Fragment der Zeit miteinander, so nennt es Kateryna.

„Ich liebe dich“, sagt er zum Abschied. Wenig später erhält sie den Funkspruch. Seitdem, sagt sie, steht für sie die Zeit still. „Es gibt diese Menschen, die es schaffen, das Gute in einem hervorzubringen. Er war diese Person für mich.“ Damals in Kiew haben sie oft davon geträumt, ein gemeinsames Haus zu haben, mit einem großen Feuerplatz. „Er hat das Leben erwartet. Nicht den Krieg.“

Russland-Reportagen von Jan Jessen