Berlin. Robert Habeck soll Einwände beim Abschalten der Kraftwerke ignoriert haben. Haben sich die Grünen den Atom-Ausstieg zurechtgebogen?

Die Enthüllung wurde groß angekündigt. Das Magazin „Cicero“ hatte auf eine Herausgabe von Unterlagen aus dem Wirtschaftsministerium geklagt, Recht bekommen und dann die entsprechenden Papiere durchforstet. Bereits Tage vor der Veröffentlichung hatte die Redaktion signalisiert: Da kommt etwas Großes. Und das Ergebnis der Recherche klingt tatsächlich nach einem Skandal. „Wie die Grünen beim Atomausstieg getäuscht haben“, schreibt das Magazin in einer Onlineüberschrift zu dem entsprechenden Artikel.

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Die Folge in diesen Tagen ist ein riesiger medialer Rummel. Die „Bild“-Zeitung berichtete am Donnerstag groß, plötzlich geisterten nach der Veröffentlichung Gerüchte durch Berlin: Haben sich die Grünen den Ausstieg aus der Kernkraft politisch zurechtgebogen? Hätten die Kernkraftwerke länger laufen können – vielleicht sogar müssen? Und vor allem: Was wusste Wirtschaftsminister Robert Habeck?

Hätten die Strompreise sinken können, wären die AKWs weitergelaufen?

Wie groß die Folgen der Enthüllung sind, ist noch nicht sicher. Es ist ein politischer Kampf um die Deutungshoheit aus den enthüllten Papieren entbrannt. Das Wirtschaftsministerium beschwichtigt. Unionspolitiker üben scharfe Kritik und wollen jetzt erste Schritte im Parlament zur genaueren Untersuchung einleiten.

Wer die politische Aufregung verstehen will, muss die Vorwürfe genauer betrachten. Ein zentraler Punkt in den vom „Cicero“ enthüllten Papieren ist ein Vermerk vom 3. März 2022. Darin heißt es, dass unter bestimmten Umständen eine begrenzte Laufzeitverlängerung bis in das folgende Frühjahr möglich sein könnte. Dadurch könnten „die Strompreise in vielen Stunden sinken“, soll es laut „Bild“ in dem Papier heißen.

Dadurch war jedoch in dem Papier, das am Ende vorgestellt, wurde nichts zu lesen. Ebenfalls habe es in einem internen Papier geheißen, wenn die Kernkraftwerke weiterliefen, müsse weniger Strom ins Ausland verschenkt werden. Auch davon war im finalen Statement aus dem Wirtschaftsministerium und aus dem Umweltministerium nichts mehr zu lesen.

Wirtschaftsministerium verteidigt sich – Minister Habeck habe den Vermerk selbst nicht gelesen

Das Ministerium von Habeck verteidigt sich. Zum einen hätten die jetzt enthüllten Dokumente teilweise nur dem mittlerweile zurückgetretenen Staatssekretär Patrick Graichen vorgelegen – und hätten Habeck selbst gar nicht erreicht. Zum anderen seien die Inhalte des Papiers sehr wohl aufgenommen worden in einen später veröffentlichten Prüfvermerk von Wirtschafts- und Umweltministerium.

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Dort wurde sich jedoch gegen eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen unter Verweis auf die „sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken“, wie es in einer Pressemitteilung hieß. Im Klartext: Der Wirtschaftsminister hat nichts vertuscht, die Entscheidung wurde wohlüberlegt getroffen, ohne irgendetwas an Einwänden zu ignorieren.

Kretschmer: Energiewende muss ideologiefrei neu aufgesetzt werden

In der Union sind viele entrüstet. Der sächsische CDU-Ministerpräsident Kretschmer sagt unserer Redaktion: „Die Diskussion zum Atom-Ausstieg kann keinen überraschen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung wusste ganz Deutschland, dass es allein die grüne Ideologie ist, die die Abschaltung erzwingt. Die Grünen haben sich mit dieser Entscheidung selbst geschadet. Den Deutschen war danach klar, dass die Grünen von Ideologie geleitet sind.“ Kretschmer setzt hinzu: „Die Energiewende muss ideologiefrei neu aufgesetzt werden.“

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Auf Antrag der Unionsfraktion findet am Freitag eine Sondersitzung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie statt. Wirtschaftsminister Habeck ist dazu geladen, ob er kommt, ist noch nicht sicher. Das Wirtschaftsministerium verschickte am Donnerstagabend aber bereits die Meldung, dass eine für Freitag um 8 Uhr angesetzte Pressekonferenz sich auf den Nachmittag verschiebt. Geht es nach der Union, soll es auch eine Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses geben.

„Und der Minister erzählt von seinem Frühstück“, kritisiert die Union

Die beiden Vize-Fraktionschefs Steffen Bilger und Jens Spahn haben bereits einen Brief an Wirtschaftsminister Habeck und Umweltministerin Lemke geschickt. Darin heißt es unter anderen, die enthüllten Papiere seien dazu geeignet, „grundsätzlich das Vertrauen in staatlichen Institutionen massiv zu beschädigen“.

Und Wirtschaftsminister Habeck? Am späten Donnerstagnachmittag startet er einen Livestream auf der Videoplattform TikTok. Habeck sprach dabei über Kernfusion und einen typischen Tagesablauf. Die Chefin des CDU-Wirtschaftsflügels, Gitta Connemann, sagte dazu unserer Redaktion: „Anstatt in seinem Ministerium aufzuräumen und das Atom-Gemauschel aufzuklären, sitzt der Wirtschaftsminister der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt seelenruhig bei TikTok. Und sinniert minutenlang über sein Leben als Minister. Erzählt von seinem Frühstück. Und Deutschland schaut in die Röhre – und wartet auf weiter Aufklärung.“