Olhyne/Ukraine. Der Ukraine-Krieg wütet seit zwei Jahren, jetzt gewinnen die russischen Truppen an Boden. Die Ukrainer versuchen, durchzuhalten.

Die beiden Schwestern stehen mit Nikita vor einem Grab am Rande des kleinen Friedhofs, ein kalter Wind weht über die Steppe. Sie schaudern. Marharita Saltan legt die Hand auf das Kreuz, auf dem das Foto ihres Mannes befestigt ist. Volodymyr, der Seemann, der die große Welt erkundet hat, aber keinen Ort so schön fand wie das kleine Olhyne.

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Das Dorf, in dem er mit seiner Frau und seinem Jungen lebte. Das Dorf, in dem ihn russische Soldaten zu Tode prügelten. Marharita wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Ihre Schwester seufzt. „Wir beten zu Gott, dass der Krieg bald zu Ende geht. Damit es keine Trauer, keine Tränen, kein Leiden, keine Qual mehr gibt.“ Ein frommer Wunsch. Es spricht wenig dafür, dass er in Erfüllung geht. Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht absehbar.

Russland-Reportagen von Jan Jessen

Ukraine-Krieg: Russische Soldaten hinterlassen verwüstete Dörfer und Kleinstädte

Zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 erinnert eine Reise durch die Ukraine mancherorts an einen Endzeitfilm. Im Süden und im Osten wölbt sich der graue, bleiche Winterhimmel über weite, mit Bombentrichtern vernarbte Felder und vom Krieg gezeichnete Dörfer und Kleinstädte voller ausgebrannter und zertrümmerter Häuser, Kindergärten, Schulen und Fabriken. Viele dieser Ruinenansammlungen sind nahezu menschenleer. Manche sind völlig ausgelöscht. Awdijiwka, Bachmut und Marjinka in der Region Donezk existieren nur noch in der Erinnerung derjenigen, die einmal dort gelebt haben.

Marharita Saltan am Grab ihres Mannes Volodomyr. Er wurde von russischen Soldaten zu Tode geprügelt.
Marharita Saltan am Grab ihres Mannes Volodomyr. Er wurde von russischen Soldaten zu Tode geprügelt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Auch über Olhyne ist die Kriegswalze gerollt und hat zermalmt, was einmal Heimat für über 400 Menschen war. Das Dorf liegt in der Oblast Cherson, etwa 120 Kilometer nordöstlich der Großstadt, nach der die Region benannt ist. Eine kerzengerade Straße, einfache, kleine, eingeschossige Häuser mit großen Gärten, vor denen steinerne Bänke stehen. Ein Dorf wie tausend andere in der . Für Marharita Saltan, ihren Mann Volodomyr und ihren Sohn Nikita ist es das Zentrum der Welt. Im Frühjahr 2022 zerbricht diese Welt. Russische Truppen rücken am 13. März in das Dorf ein.

Russische Soldaten prügeln Seefahrer zu Tode

Manche fliehen sofort aus dem Dorf. Die Saltans bleiben und verbringen Tage und Nächte im kalten, feuchten Keller, weil Geschosse auf Olhyne herunterregnen. Schließlich kann Marharita nicht mehr. Am 18. April flieht sie mit ihrem Sohn und anderen Einwohnern. Mykola, der Mann ihrer Schwester Vitalina Schtopenko, ist Jäger. Er lotst sie und andere Dorfbewohner an den russischen Stellungen vorbei. Ihr Mann aber bleibt in Olhyne.

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    Volodymyr ist über siebzig, fast doppelt so alt wie seine Frau. Er ist stur und überzeugt davon, dass die ukrainischen Streitkräfte sein Dorf alsbald befreien werden. Erst am 18. Juli verlässt er das Dorf. Auf der Flucht läuft er einen Tag später zusammen mit seinem Neffen Serhii russischen Militärs in die Arme. Die Soldaten prügeln beide Männer zu Tode. Im Herbst ziehen sich die Russen aus der Umgebung von Olhyne zurück. Als Volodymyr Leiche am 28. September im Dreck gefunden wird, entdecken Pathologen, dass fast jeder seiner Knochen in seinem Körper gebrochen ist.

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    „Wir waren mental tot“

    Im Oktober kehren beide Schwestern wieder nach Olhyne zurück. Auch Vitalina Schtopenko ist jetzt Witwe. Ihr Mann Mykola, der Jäger, der so viele Dorfbewohner in Sicherheit gebracht hat, ist im Kampfgefallen. Die beiden Frauen finden eine Trümmerlandschaft vor. Keines der Häuser im Dorf ist unbeschädigt geblieben. Auch ihre Seelen sind kaputt. „Wir brauchten viel psychologische Hilfe. Wir waren mental tot“, erzählt Marharita Saltan. Jetzt leben die beiden wieder Olhyne, aber es ist ein Leben, das vom Schmerz über den Verlust und der Ungewissheit über die Zukunft geprägt ist.

    Ein Haus im lange von Russland besetzten Dorf Olhyne, Ende Januar 2024.
    Ein Haus im lange von Russland besetzten Dorf Olhyne, Ende Januar 2024. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

    Helfer haben manche der Häuser im Dorf mit einer neuen Fassade versehen, auch das von Marharita und Nikita Saltan. Cremefarben, die Fensterrahmen dunkelbraun abgesetzt, auf den Blick sieht es heimelig aus. Die Fassade ist aber aus Blechplatten zusammengesetzt und nur über die Wände gestülpt. Es ist wie eine Metapher für das Seelenleben der Saltans. Sie wirken gefasst, aber sie sind zerbrechlich. „Diese zwei Jahre sind einfach die Hölle, ich kann es nicht anders nennen“, sagt Marharita. Nikita ist jetzt zwölf. Der Krieg hat ihm seine Kindheit genommen.

    Die Ukraine ist von der russischen Invasion traumatisiert

    Zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion hat sich eine bleierne Müdigkeit über das Land gesenkt. Ein Viertel der Bevölkerung ist auf der Flucht. Tausende Zivilisten sind gewaltsam ums Leben gekommen. Die Gesellschaft ist traumatisiert. Die Kriegsverwüstungen sind verheerend. Bereits jetzt wird der Wiederaufbau nach aktuellen Schätzungen nahezu eine halbe Billion Euro kosten. Viele der Menschen, die man in diesen Tagen spricht, versuchen die Fassade des Widerstandsgeistes aufrechtzuerhalten. Dahinter ist aber die Unsicherheit und Verzweiflung zu spüren. Wie soll das alles enden? Niemand hat eine Antwort. Alle stellen sich auf einen langen Krieg ein.

     Über Olhyne ist die Kriegswalze gerollt.
     Über Olhyne ist die Kriegswalze gerollt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

    Auf den Friedhöfen im Land wehen Abertausende blau-gelbe Fahnen, jede markiert das Grab eines Gefallenen. In der Hauptstadt Kiew, in der die Menschen versuchen, den Krieg trotz der ständigen Luftangriffe zu verdrängen, in der die Bars und Restaurants gefüllt sind und ein normaler Alltag simuliert wird, da erinnern an einer Wand am St. Michaelskloster Tausende Porträts an die Toten des Krieges. Manchmal bleiben Passanten stehen. Es sind nicht viele.

    Ukraine-Krieg: Gewinnt Russland die Materialschlacht?

    An der Front sind die Soldaten ausgelaugt. Die russischen Streitkräfte werfen gewaltige Mengen Soldaten und Material in die Schlacht. An allen Frontabschnitten toben blutige Abwehrgefechte. „Viele sind müde, der Krieg ist sehr anstrengend“, sagt der Presseoffizier einer Brigade, die vergebens versucht hat, den russischen Vormarsch bei Awdijiwka aufzuhalten. Er glaubt, das ukrainische Volk sei trotz allem bereit, weiterzukämpfen. Aber dazu brauche es die Unterstützung der westlichen Partner. „Das Volk muss erkennen können, dass wir genügend Ressourcen haben, um unser Ziel zu erreichen.“

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    Längst stehen aber nicht mehr alle Ukrainer so vereint hinter der Regierung wie zu Kriegsbeginn. Die Frage der Mobilisierung sorgt für Diskussionen. Immer wieder decken ukrainische Journalisten Fälle von Korruption auf, die für Empörung sorgen. Der Wiederaufbau befreiter Dörfer geht nur langsam voran, zu langsam für manche. „Arbeiten werden begonnen, aber sie verzögern sich. Seit der Befreiung gibt es hier kaum Veränderungen“, klagt Oleh Dolgolutskyi aus Posad-Pokrowske, einem Dorf im Süden der Ukraine, das wir, die Funke-Reporter, seit November 2022 immer wieder besucht haben. „Ich verstehe nicht, was in unserem Land passiert“, sagt Oleh.

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    Vitalina Schtopenko aus Olhyne will jedoch nicht aufgeben. Sie gibt sich kämpferisch: „Wir danken Gott, dass wir am Leben geblieben sind. Wir fangen an, neu zu leben, zerzaust, zerrissen, aber wir leben. Die Hauptsache ist, dass wir nicht aufgeben dürfen. Das schulden wir unseren Kindern.“