Berlin. Saudi-Arabien verändert sich radikal. Aber wird das Land auch demokratischer? Ein Blick ins Innere der Monarchie am Persischen Golf.

Von der Supermarktkasse bis zu Posten in Ministerien: Frauen sind heute überall präsent im öffentlichen und gesellschaftlichen Raum Saudi-Arabiens. Kinos haben eröffnet, Männer und Frauen können gemeinsam Rockkonzerte besuchen. Seit König Salman 2017 seinen Sohn Mohammed Ben Salman, kurz MBS, zum Kronprinzen ernannt hat, krempelt dieser die Monarchie am Golf mit zahlreichen Reformen um. Die Verfolgung von Regimegegnern geht währeddessen mit voller Härte weiter.

Den Mord am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi 2018, der überhaupt zum Ende der deutschen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien geführt hatte, bezeichnete MBS 2019 in einem Fernsehinterview mit dem US-Sender CBS als Fehler, leugnete aber, ihn selbst angeordnet zu haben. Zugleich bleibt die Menschenrechtslage kritisch. Handelt es sich um tiefgreifenden Wandel oder doch nur um ein aufpoliertes Image?

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Die Bundesregierung hat offenbar ihre Antwort gefunden. Saudi-Arabien sei nun ein „Stabilitätsanker“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) jüngst im Zuge seiner Nahost-Tour. Die Bundesregierung schätze die „konstruktive Haltung“ der Monarchie gegenüber Israel. Damit meint sie, dass Saudi-Arabien Raketen der Huthis in Richtung Israel abfange. Zum ersten Mal seit 2018 genehmigte Deutschland Waffenexporte an Saudi-Arabien. Es geht dabei um 150 Raketen, in Großbritannien mit deutschen Bauteilen montierte Eurofighter könnten folgen.

Saudi-Arabien: Wandel bei Digitalisierung oder Nahverkehr

Tatsächlich habe sich Saudi-Arabien „dramatisch“ verändert, so Ulrike Freitag vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) Berlin. Wirtschaft und Gesellschaft wandelten sich rasant, beobachtet die Historikerin, die erst Ende vergangenen Jahres vier Wochen in Saudi-Arabien verbracht hat. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, die Digitalisierung der Verwaltung sowie gut genutzte Zugstrecken nach Mekka und Medina seien positive Entwicklungen.

Herrscht seit 2017 in Saudi-Arabien. Kronprinz Mohammed bin Salman.
Herrscht seit 2017 in Saudi-Arabien. Kronprinz Mohammed bin Salman. © DPA Images | dpa

„Redet man mit jungen Menschen, ist die Akzeptanz des Regimes sehr hoch“, sagt Freitag. Optimismus erfasse eine junge Generation von Saudis. Die profitiere zwar nicht mehr von Steuerfreiheit, vollständiger Finanzierung des Studiums und einem kostenlosen Gesundheitssystem, wie Islamwissenschaftler Sebastian Sons vom Forschungsinstitut CARPO erklärt. Dafür könnten sie aber als erste Generation eine Fülle an Freizeitangeboten wahrnehmen. Tatsächlich baut Saudi-Arabien ganze Städte mit Themenparks, Sportanlagen und Achterbahnen. Das zehn Milliarden Dollar-Projekt „Qiddiya Entertainment City“ bei Riad soll bis 2030 fertig sein. Am Bau beteiligt ist die französische Firma Bouyges.

Doch nicht nur die Unterhaltungsbranche wird ausgebaut: Um unabhängiger vom Erdöl zu werden, investiere das Königreich in erneuerbare Energien – der Grund für Habecks Besuch – und Tourismus. „In abgelegenen Gegenden werden große Museen gebaut“, sagt Ulrike Freitag. Außerdem werden, betont Islamwissenschaftler Sebastian Sons, Frauen verstärkt in den Unternehmen integriert. Der Süden des Landes an der Küste zum Roten Meer soll ein Touristenmagnet werden, Milliardeninvestitionen nahe der jemenitischen Grenze seien geplant. Bis zum Jahr 2030 sollen so jährlich 100 Millionen Besucher ins Land gelockt werden.

Arbeitsmigranten gelten immer noch als „moderne Sklaven“

Trotz des Ölreichtums ist die Schere zwischen Arm und Reich groß. Viele Menschen hätten Zweitjobs, Polizisten führen nebenher Uber, um sich die teuren neuen Freizeitaktivitäten leisten zu können, berichtet Freitag. Auch Arbeitsmigranten und -migrantinnen seien weiterhin „von struktureller Ausbeutung und Benachteiligungen betroffen“, sagt Sons. Häufig arbeiteten sie auf Baustellen, im Service-Bereich oder als Hausangestellte.

Trotz Reformen sei das an moderne Sklaverei grenzende Kafala-System weiterhin präsent. Zudem wolle die saudische Führung seit Jahrzehnten den Arbeitsmarkt „saudisieren“, wie Sons erklärt, und zwar als Mittel gegen Jugendarbeitslosigkeit. „Die Folge sind Abschiebungen und Internierungslager für Migranten und Migrantinnen.“

Sport und Freizeit gehören in Saudi-Arabien zum Alltag junger Menschen.
Sport und Freizeit gehören in Saudi-Arabien zum Alltag junger Menschen. © Getty Images | Sean Gallup

Erst 2023 legte Human Rights Watch Analysen offen, nach denen saudische Sicherheitskräfte über einen längeren Zeitraum hunderte äthiopische Migrantinnen und Migranten an der saudisch-jemenitischen Grenze töteten. Erste Hinweise auf diese Praktik lieferte ein UN-Bericht aus dem Jahr 2022. Kritiker warfen der Bundesregierung vor, das Vorgehen womöglich indirekt zu unterstützen, da die Bundespolizei an der Ausbildung des saudischen Grenzschutzes beteiligt seien.

Im Jemen-Krieg setzt Saudi-Arabien stärker auf Deeskalation

Ein rotes Tuch waren Waffenlieferungen an Saudi-Arabien vor allem wegen dessen Beteiligung im Jemen-Krieg seit 2015. Bis heute sieht der Koalitionsvertrag der Ampel ein Verbot von Waffenlieferungen an die Kriegsparteien vor, es können jedoch Ausnahmen gemacht werden. Menschenrechtsorganisationen werfen der von Saudi-Arabien geführten Koalition gegen die Huthi-Rebellen Kriegsverbrechen vor, auch ein UN-Bericht legt dies nahe. Schon damals waren Waffen aus europäischer Produktion im Einsatz.

„Saudi-Arabiens Rolle im Jemen-Krieg hat sich jedoch in den vergangenen ein bis zwei Jahren verändert“, sagt Sons. Im April 2023 begaben sich die Huthis und Saudi-Arabien in Verhandlungen, um den Konflikt beizulegen. Das Königreich versuche in eine Phase des Konfliktmanagements überzugehen und den Krieg nicht mehr eskalieren zu lassen, das liege nicht mehr in seinem Interesse. Daher beteilige sich Saudi-Arabien auch bei der US-geführten Allianz gegen die Huthis nicht, die als Antwort auf die Angriffe auf Handelsschiffe Stellungen der Huthis bombardiert.

Nicht nur die Deeskalation im Jemen-Krieg macht Saudi-Arabien für die Bundesregierung als Partner interessant. Sondern auch die Annäherung an Israel: Vor drei Jahren unterzeichneten die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Sudan und Marokko unter Donald Trumps Vermittlung die sogenannten Abraham-Abkommen mit Israel. Saudi-Arabien hätte das nächste arabische Land sein können, das ein solches Abkommen unterzeichnet – wenngleich die Bevölkerung die Hinwendung zu Israel kritisch sehe, so Freitag.

Saudi-Arabien: Massive Repression und Gewalt nach innen

Vielmehr machten das Erdöl, die geografische Lage und die Sicherung der Seewege Saudi-Arabien zu einem „Partner der Notwendigkeit“ für Deutschland, an dem man nicht vorbeikomme, so Sons. Zugleich könnte der Konflikt im Jemen jederzeit wieder aufflammen. „Die Frage ist, wie Saudi-Arabien sich dann verhält“.

Saudi-Arabien setzt auch auf den Tourismus.
Saudi-Arabien setzt auch auf den Tourismus. © Getty Images | Sean Gallup

Trotz aller wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Öffnung und außenpolitischer Mäßigung ist Saudi-Arabien jedoch nicht demokratischer geworden, so die Historikerin Freitag. Der zunehmenden Präsenz von Frauen stehen drakonische Strafen für Feministinnen gegenüber, die sich kritisch über das Regime äußern. Erst im Januar 2023 wurde die Doktorandin der University of Leeds und Mutter von zwei Kindern, Salma Al-Schihab wegen eines Tweets zu 27 Jahren Haft verurteilt. 170 Menschen wurden 2023 hingerichtet.

„Blickt man auf die Zahlen, hat sich die Menschenrechtssituation verschlechtert“, sagt Sons. Innenpolitisch hat mit MBS eine Zentralisierung der Macht stattgefunden. „Vorher war durch die Verteilung bestimmter Ressorts eine gewisse Machtdiffusion in der Königsfamilie vorhanden“, so Freitag. Nun sei alles auf den Kronprinzen zugeschnitten.

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