Ankara. Nach Erdogans Wiederwahl als Staatschef droht dem Land ein Braindrain. Warum fast zwei Drittel jungen Menschen auswandern wollen.

„Ich habe jede Hoffnung verloren“, sagt Ayse C. Für die 22-Jährige war die Wiederwahl des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan vor wenigen Wochen „die größte Enttäuschung meines Lebens“. Ihren vollen Namen will sie nicht nennen, aus Angst vor Repressionen. Die junge Frau arbeitet in einem kleinen IT-Unternehmen in der westtürkischen Hafenstadt Izmir, entwirft Internetportale für mittelständische Firmen.

Das weltoffene Izmir ist traditionell eine Hochburg der sozialdemokratischen CHP. Ihr Kandidat Kemal Kilicdaroglu bekam hier bei der Stichwahl am 28. Mai 67 Prozent der Stimmen. Aber landesweit behauptete sich Erdogan mit 52,2 Prozent. „Ich hatte fest an einen Sieg der Opposition geglaubt“, so Ayse. Umso größer ist nun die Ernüchterung. „Ich will weg aus der Türkei, so schnell wie möglich“, sagt die junge Frau.

Türkei: Erdogan will eine „fromme Generation“ heranziehen

Ayse ist eine typische Vertreterin der „Generation Z“, der heute 13- bis 28-Jährigen. Sie ist nicht die Einzige, die sich in ihrer Heimat Türkei nicht mehr wohlfühlt. Eine „fromme Generation“ will Erdogan heranziehen, so kündigt er immer wieder an. Aber viele junge Menschen wollen sich nicht in das Korsett eines immer mehr religiös geprägten Bildungssystems und eines vom Staat diktierten islamischen Lebensstils mit Konzert- und Alkoholverboten zwängen lassen. Experten rechnen nach Erdogans Wahlsieg mit einer neuen Auswanderungswelle.

Während es in den 1960er und 70er Jahren vor allem ungelernte Arbeitskräfte aus dem anatolischen Kernland waren, die aus wirtschaftlichen Gründen die Türkei verließen und Jobs in Europa suchten, kehren jetzt immer mehr hochqualifizierte Fachkräfte und Hochschulabsolventen aus den Städten der Westtürkei ihrem Land den Rücken.

Erdogans Türkei ist dabei, ihre besten Talente zu verlieren

„Akademiker mit den besten Abschlüssen und hervorragenden Leistungsnachweisen verlassen nach und nach die Türkei – das Land erlebt einen Braindrain“, berichtet der in Deutschland geborene Ökonom Ufuk Akcigit, Professor an der Universität Chicago und Autor einer Studie zum Thema Migration. Nach einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Metropoll wünschen sich 47 Prozent der befragten Türkinnen und Türken, im Ausland zu studieren oder zu arbeiten, wenn sie es denn könnten. Erdogans Türkei ist dabei, ihre besten Talente zu verlieren.

Auch interessant:Erdogans Wahlsieg: Der Tod der türkischen Opposition

Nach der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan haben viele jung Türkinnen und Türken die Hoffnung verloren.
Nach der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan haben viele jung Türkinnen und Türken die Hoffnung verloren. © dpa | Nedim Enginsoy

Das Phänomen zieht sich wie ein roter Faden durch die Ära Erdogan. Der Trend verstärkt sich aber, seit Erdogan die landesweiten Massenproteste im Frühsommer 2013 brutal niederschlagen ließ. Ein weiterer Wendepunkt war der Putschversuch vom Juli 2016. Damals verloren Tausende regierungskritische Akademiker ihre Jobs.

Diese Auswanderungswelle ist politisch motiviert

Die staatliche türkische Statistikbehörde Türkstat hat seit drei Jahren keine Daten zur Auswanderung veröffentlicht. Die letzte Statistik aus dem Jahr 2019 weist 84.900 Auswanderer aus, überwiegend im Alter zwischen 25 und 29. Neuere Zahlen nennt Türkstat nicht, aber Fachleute vermuten, dass sie in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen sind.

WahlTürkei-Wahl 2023
(Stichwahl)
DatumSonntag (28. Mai 2023)
OrtTürkei
Gewählt wirdPräsident
Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

Der Braindrain sei in der Türkei kein neues Phänomen, schreibt Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsunternehmen Konda. Neu sei aber, dass die Auswanderung jetzt vor allem politisch motiviert ist: Vor allem junge Menschen „verlieren das Vertrauen in die Zukunft des Landes und sehen für sich selbst keine Entwicklungsmöglichkeiten“, schreibt Agirdir.

Umfrage: 70 Prozent der jungen Menschen sind mit Erdogan unzufrieden

Den Trend bestätigt die vor einigen Tagen veröffentlichte „Türkische Jugendstudie 2023“ der Konrad-Adenauer-Stiftung (KA). Forscher der Hacettepe-Universität befragten im Dezember 2022 und Januar 2023 für die Studie 2140 repräsentativ ausgewählte junge Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. 70 Prozent erklärten, dass sie mit der Erdogan-Regierung unzufrieden sind. 63 Prozent der Befragten sagten, sie würden gerne auswandern, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

Die 22-jährige Ayse ist in einer vergleichsweise glücklichen Lage. Sie hat in Istanbul das österreichische St. Georgs-Kolleg besucht und spricht fließend Deutsch. Als Tochter aus einer österreichisch-türkischen Ehe hat sie außerdem den österreichischen Pass. Damit steht einer Auswanderung nichts im Wege. Noch im Juni will sie nach Wien fliegen, um auf Jobsuche zu gehen.

Lesen Sie auch:Dieser Mann soll für Erdogan die Wirtschaft retten