Berlin. Nach der Wahlniederlage von Kemal Kilicdaroglu brechen für die türkische Opposition düstere Zeiten an. Diese könnten 20 Jahre dauern.

Er hat bis zum Umfallen gekämpft, geackert und zum Schluss sogar den Erlass aller Kreditkartenschulden für private Haushalte versprochen: Es hat nichts genutzt. Kemal Kilicdaroglu, der Oppositionskandidat in der türkischen Präsidentschaftswahl, ist gescheitert. Er bekam zwar in der Stichwahl beachtliche 48 Prozent gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan. Aber es reichte nicht für den ersehnten Machtwechsel.

Der 74-Jährige deutete am Sonntagabend zwar an, weitermachen zu wollen. Doch dürfte er als CHP-Vorsitzender kaum zu halten sein. Der größten Oppositionspartei stehen nun quälende interne Debatten bevor. Sie braucht personell und inhaltlich einen Neubeginn.

Türkei: Die Anti-Erdogan-Allianz droht zu zerbrechen

Kilicdaroglu war es immerhin gelungen, ein fragiles Bündnis aus sechs Parteien zu schmieden. Das Spektrum reichte von religiös-konservativ, nationalistisch bis säkular-links. Der kleinste gemeinsame Nenner war die Forderung: „Tayyip Erdogan muss weg.“ Nach der Wahlniederlage ist es wahrscheinlich, dass die Anti-Erdogan-Allianz zerbricht. Das spielt dem wiedergewählten Präsidenten in die Karten.

Bis zum Schluss gekämpft, aber gescheitert: Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu (M.)
Bis zum Schluss gekämpft, aber gescheitert: Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu (M.) © dpa | Ugur Yildirim

Im Oppositionslager ist Ernüchterung eingekehrt. „Wir dachten, dass die Inflation und die Erdbebenschäden, die die Korruption der Regierung offenlegten, die Haltung der Menschen ändern würde. Nun müssen wir erkennen, was für ein gewichtiger Faktor der Personenkult in der Politik im 21. Jahrhundert tatsächlich ist“, sagte die regierungskritische türkische Schriftstellerin Ece Temelkuran dem „Spiegel“.

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Türkei: „Für Demokraten ein weiter Weg zur Macht“

Der Populismus habe eine große Rolle gespielt. „Erdogans Propaganda macht den Menschen glaubhaft, dass sie Opfer sind, und dass er der starke Mann ist, der sie aufwertet“, so Temelkuran. „Wir glauben immer noch, dass Fakten alles sind, dass Fakten alles verändern. Aber Männer wie Erdogan, Putin oder Bolsonaro verstehen es meisterlich, mit Emotionen Politik zu machen.“

Temelkuran prophezeit der Opposition in ihrem Land eine düstere Zukunft. „Vielleicht brauchen wir aber noch weitere 20 Jahre, um uns aus der Herrschaft der islamistischen Kulte und der extremen Rechten zu befreien. Für die Demokraten in der Türkei wie in vielen anderen Ländern Europas ist es ein weiter Weg zurück an die Macht.“

Oberbürgermeister von Istanbul ist beliebt, wird aber ausgebremst

Hoffnungsträger für einen neuen Anlauf gegen Erdogan sind nicht in Sicht. Am ehesten dürften sich populäre Kommunalpolitiker eignen – Oberbürgermeister wie Ekrem Imamoglu in Istanbul oder Mansur Yavas in Ankara. Beide gehören der CHP an. Beiden gelang bei den Kommunalwahlen 2019 ein Sieg gegen die Kandidaten von Erdogans radikalislamischer AKP.

Imamoglu ist in der Bevölkerung sehr beliebt. Ihm wird eine erfolgreiche Sozialpolitik zugeschrieben. Doch er hat zwei Hindernisse, die ihn bremsen. Im Stadtrat von Istanbul muss er gegen eine Mehrheit der AKP anrennen, die ihm bei allen Projekten den Finanzhahn zudrehen kann.

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Darüber hinaus schwebt über Imamoglu ein juristisches Damoklesschwert. Mitte Dezember 2022 wurde er von einem türkischen Gericht „wegen Beleidigung der Wahlkommission“ mit einem Politikverbot belegt. Beobachter halten dies für politisch motiviert. Die erstinstanzliche Entscheidung wurde jedoch zunächst nicht wirksam. Aber sie kann Imamoglu jederzeit treffen.