Braunschweig. Der Autobauer verklagte eine Ex-Führungskraft und Software-Expertin auf 33 Milliarden Euro Schadenersatz im Dieselskandal.

Sie selbst war gar nicht da, als der Vorsitzende Richter Ingo Hundt am Donnerstag das Urteil verkündete. Er erklärte eine fristlose und fristgerechte Kündigung gegen die ehemalige VW-Führungskraft und Software-Entwicklerin J. für unwirksam. Die Widerklage, die der Wolfsburger Autobauer als Reaktion auf die Kündigungsschutzklage einreichte, wies die achte Kammer des Arbeitsgerichts Braunschweig ebenfalls als unbegründet zurück. Dabei ging es um Schadenersatzforderungen in Höhe von 33 Milliarden Euro – die Kosten für den Abgas-Skandal. Insgesamt sind in der achten Kammer sechs Kündigungsschutzklagen von VW-Managern anhängig, denen wie J. alle im August 2018 gekündigt wurde, unter ihnen als ranghöchster auch der frühere VW-Entwicklungsvorstand Heinz-Jakob Neußer.

Volkswagen müsse sich eine grob fahrlässige Unkenntnis ihres damaligen Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn anlasten lassen, führte Richter Hundt aus. Bereits 2014 habe eine Studie der US-amerikanischen Forschungsorganisation ICCT gezeigt, dass VW-Diesel auf der Straße ein Vielfaches mehr Stickoxid ausstießen als erlaubt. Kurz danach hätten schon die US-Umweltbehörden EPA und Carb Ermittlungen angestellt. In diesem Zusammenhang habe Winterkorn „unstreitig“ die berüchtigte Wochenend-Post vom 14. November 2014 erhalten. Die Nicht-Beachtung der darin geschilderten Probleme wertete das Gericht als „grob fahrlässig“. Denn Winterkorn hätte daraufhin Maßnahmen ergreifen müssen. Die Schuld der Vorstandsebene überwiege, hieß es in der Urteilsbegründung, und werde mit 100 Prozent berücksichtigt. Demnach sei das Verschulden der ehemaligen Hauptabteilungsleiterin auf Null zu setzen.

Die fristlose Entlassung von J. sei zudem nicht rechtens, weil Volkswagen damit die geltende Zwei-Wochen-Frist nicht eingehalten habe. Der Wolfsburger Autobauer kündigte seiner Hauptabteilungsleiterin drei Jahre nach Bekanntwerden des Abgas-Skandals – nachdem er Einsicht in die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Braunschweig erhalten hatte. Doch bereits im Dezember 2015 habe man sich in Vorstandssitzungen mit der Frage beschäftigt, ob der Ingenieurin wegen ihrer Verfehlungen zu kündigen sei. Das habe VW jedoch aus taktischen Gründen unterlassen, um besser mit der US-Justiz kooperieren zu können. „Für den Arbeitgeber ist es zumutbar, abzuwarten, was die staatsanwaltlichen Ermittlungen ergeben“, sagte Hundt. Die Klägerin gehört zu den 39 Beschuldigten, gegen die die Staatsanwaltschaft im Abgas-Skandal ermittelt. Gegen Winterkorn und vier weitere VW-Manager wurde bereits Anklage erhoben.

J. ist die einzige der Gekündigten, die nicht schon von VW freigestellt worden war. Im Gegenteil: Sie wurde im April 2017 sogar von einer Abteilungs- zur Hauptabteilungsleiterin befördert. VW wertet dies nur als „Versetzung“. Laut Kammer habe die Klägerin J. wegen der Beförderung aber darauf vertrauen dürfen, „dass da nichts mehr kommt“, erklärte Hundt. Außerdem habe die Ingenieurin bei der Aufklärung des Betrugs kooperiert, sei mehrfach vernommen worden, und habe „sich offenbart“. Die fristgerechte Kündigung sei damit verwirkt.

Volkswagen warf J. vor, an der Manipulation der Abgas-Software mitgewirkt, den Betrug nicht an die Compliance-Abteilung oder den Ombudsrat gemeldet und außerdem im September 2015 Daten gelöscht zu haben. Letzteres, argumentierte ihr Anwalt, sei auf Anweisung des VW-Syndikus geschehen. J. machte zudem geltend, dass sie lediglich mit der Erstellung einer neutralen Software befasst gewesen sei und nicht über deren Verwendung zu bestimmen gehabt hätte. Ihr Anwalt erklärte in einer Verhandlung im Juni, seine Mandantin sei im Konzern eine Art Dienstleisterin gewesen. „Wenn da von oben eine Order kommt, hinterfragt man die nicht, sondern führt sie aus“, erklärte er.

J. ist unter den Gekündigten ein vergleichsweise kleines „Kaliber“: In der Zeit zwischen 2006 und 2015, in der sie laut VW Pflichtverletzungen begangen haben soll, war sie Abteilungsleiterin. Darüber stehen noch Hauptabteilungs- und Bereichsleiter, Marken- und Konzernvorstände. Ihr Anwalt argumentierte, dass Personen mit deutlich mehr Verantwortung noch immer bei Volkswagen tätig seien. Auch Winterkorn erhält von den Wolfsburgern noch eine Betriebsrente von 3100 Euro – pro Tag.