Wolfsburg. . Nach dem BGH-Beschluss im VW-Skandal streiten Kläger-Anwälte und der Autobauer über die Folgen.

Auch in der Woche nach der ersten Stellungnahme des Bundesgerichtshofs (BGH) im VW-Abgas-Skandal ging der Kampf um die Deutungshoheit weiter. So pocht etwa die Kanzlei „Dr. Stoll & Sauer“, die in der Affäre zahlreiche Kunden vertritt, darauf, dass die Einschätzung der Richter sehr wohl auch die Chancen für Klagen gegen VW direkt erhöhten, nicht nur für Klagen gegen Händler.

Nachdem am BGH bereits der Verhandlungstermin im Januar für eine Abgas-Klage abgesagt worden war, wurde auch der Termin am Mittwoch zu einer anderen Klage abgeblasen. Längere Zeit hatte es so ausgesehen, als würde mehr als drei Jahre nach Bekanntwerden des Betrugs zum ersten Mal das oberste deutsche Zivilgericht darüber verhandeln. Doch der Kläger und VW einigten sich auf einen außergerichtlichen Vergleich. Allerdings veröffentlichte der BGH noch am selben Tag eine Pressemitteilung mit seiner vorläufigen Einschätzung in dem Fall. Zwei Kernbotschaften hatten die Richter: Bei einem Auto mit der Manipulations-Software dürfte ein Sachmangel vorliegen. Der Kläger hatte deshalb gegen den Händler geklagt und ein neues Auto gefordert. Laut BGH könnte es außerdem durchaus sein, dass VW einen Neuwagen als Ersatz liefern muss.

Nach Ansicht von VW lassen sich daraus keine Erfolgsaussichten für andere Klagen ableiten, die nicht sehr ähnlich gelagert sind – vor allem nicht für andere Klagen gegen den Autobauer direkt. Anwälte, die Geld mit Kunden-Klagen verdienen, sehen das naturgemäß anders. „VW versucht erneut, die Öffentlichkeit zu täuschen“, sagt etwa Ralf Stoll. So hätten sich die Chancen massiv erhöht, dass der Autobauer Schadenersatz zahlen muss. Die Feststellung eines Sachmangels spiele zum Beispiel auch beim Vermögensschaden oder bei der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung eine Rolle.

Für Letztere ist am BGH jedoch ein anderer Senat zuständig, wie dessen Sprecherin Dietlind Weinland gegenüber unserer Zeitung klarstellte. Es sei schwer zu sagen, inwiefern durch den Beschluss die Chancen für anders gelagerte Klagen steigen. Sie wollte dies weder bejahen noch verneinen. Ähnlich äußerte sich die Sprecherin des Oberlandesgerichts (OLG) Braunschweig, Andrea Tietze. Auch sie wies daraufhin, dass Klagen gegen Händler und gegen VW jeweils andere Rechtsvorschriften berühren: Klagen gegen den Autobauer das Deliktsrecht, Klagen gegen Händler auch das Kauf- und damit Gewährleistungsrecht.

Nach dem Gewährleistungsrecht können Verbraucher entweder eine Ersatzlieferung, den Rücktritt vom Kaufvertrag oder Schadenersatz fordern, wie die OLG-Sprecherin erklärte. Dafür müssten neben einem Sachmangel allerdings weitere Voraussetzungen erfüllt sein. Bei einem Schadenersatz wäre außerdem zu klären, ob die bisherige Nutzung angerechnet wird. Bei dem BGH-Hinweis handle es sich somit nur um einen Baustein für die Rechtsprechung.

Ein VW-Sprecher betonte gegenüber unserer Zeitung, ein Sachmangel begründe nicht automatisch einen Schaden. Im vorliegenden Fall sei das Vermögen von Klägern nicht gemindert: Die Fahrzeuge hätten durch das Bekanntwerden der Umschaltlogik, wie VW es nennt, nicht an Wert verloren. Den Käufern entstünden auch keine sonstigen finanziellen Nachteile.

Letztlich muss sich nun zeigen, wie die Land- und Oberlandesgerichte mit dem BGH-Beschluss umgehen. Auf jeden Fall erhöht haben sich die Chancen für ähnlich gelagerte Klagen. Allerdings richten sich laut VW nur 2000 der bisher rund 50.000 Klagen ausschließlich gegen einen Händler. Ein Neufahrzeug als Ersatz fordere dabei nur eine dreistellige Zahl. Wie viele Klagen sich sowohl gegen VW selbst als auch gegen einen Händler richten, will der Autobauer nicht verraten.

BGH sieht illegale Abschalteinrichtung

Inzwischen hat der BGH den gesamten Beschluss veröffentlicht, den die Richter an die beiden Parteien zur Vorbereitung auf die – nun entfallene – Verhandlung geschrieben hatten. Darin erläutert der Senat auch, dass es sich nach seiner vorläufigen Einschätzung um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt. VW hatte bisher argumentiert, dass es sich nicht um eine solche unzulässige Abschalteinrichtung handele, wie sie das Gesetz definiert. Diese Verteidigungsstrategie dürften die Wolfsburger nun überdenken – und womöglich ändern.

Die erste tatsächliche Verhandlung am BGH im Abgas-Skandal dürfte sich nun – frühestens im Herbst – um die erste Einzelklage des Rechtsdienstleisters My-Right drehen, der in der Affäre nach eigenen Angaben insgesamt rund 45.000 Kunden vertritt. Die Klage richtet sich direkt gegen VW. Trotzdem zeigte sich My-Right-Mitgründer Jan-Eike Andresen nun erst recht siegesgewiss: „Wir werden gewinnen“, sagte er unserer Zeitung. Die Richter seien offensichtlich zu rechtlichen Konsequenzen gewillt. Das OLG Braunschweig hatte die Schadenersatz-Forderung abgewiesen – allerdings die Revision am BGH zugelassen.

Wie dem BGH ist offenbar auch den Braunschweiger Richtern an einer höchstrichterlichen Klärung gelegen. Auch wenn an dem Braunschweiger Gericht bisher fast alle Verhandlungen zu Klagen im Abgas-Skandal abgesagt wurden. 450 der dort bisher 880 anhängigen Klagen haben sich erledigt; zu zweien wurde verhandelt, nur bei My-Right gab es ein Urteil. Offenbar hat sich VW in vielen Fällen außergerichtlich mit den Kunden geeinigt. Der Autobauer bestreitet jedoch, ein höchstrichterliches Urteil verhindern zu wollen.

Einen Vorteil hat dessen bisheriges Ausbleiben für die Wolfsburger schon einmal. Bei einem BGH-Urteil gegen VW hätten mit Sicherheit zahlreiche Kunden doch noch geklagt. Doch viele Juristen sind überzeugt, dass der Fall inzwischen verjährt ist, also keine neuen Klagen Erfolg haben werden.

Auch das sehen manche Kläger-Anwälte anders. „Dr. Stoll & Sauer“ zum Beispiel ruft dazu auf, jetzt noch zu klagen; dies sei noch bis Ende des Jahres möglich. Die Verjährungsfrist ist umstritten. Die Braunschweiger OLG-Sprecherin sagte, auch das müssten die Gerichte klären – im jeweiligen Einzelfall.