Taipeh. Im konfuzianisch geprägten Taiwan ist Bildung besonders wichtig. Ein Kindergarten trieb wohl die strenge Erziehung auf die Spitze.

In New Taipei ist es diese Tage etwas lauter gewesen als sonst. Das liegt weniger am röhrenden Verkehr als an all den Eltern junger Kinder, die ihrer Wut Ausdruck verleihen. Zu Hunderten sind sie auf die Straßen gegangen, um zu protestieren. Und es geht nicht etwa, wie man es hier erwarten könnte, um Elterngeld oder Kindergartengebühren. Dieser Tage fehlt den Eltern etwas viel Grundsätzlicheres: Das Gefühl, dass ihre Kinder in guten Händen sind, wenn sie diese in einer Betreuungsstätte abgeben.

Seit Mitte Mai werden schwere Vorwürfe erhoben: In einem Kindergarten in der Metropole New Taipei, die sich um die taiwanische Hauptstadt Taipeh herum gebildet hat, sollen Kinder mit Beruhigungsmitteln ruhiggestellt worden sein. Laut der taiwanischen Nachrichtenagentur CNA informierten damals drei Eltern die Polizei darüber, dass ihre Kinder durch hohe Reizbarkeit auffielen. Sie hätten berichtet, dass ihnen von Kindergärtnerinnen Präparate verabreicht worden seien. Tests ergaben Spuren zweier Beruhigungsmittel.

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Taiwan: Gute Bildung ist teuer

Seither haben Dutzende Eltern Ähnliches berichtet, woraufhin die Lokalregierung angeboten hat, die Kinder testen zu lassen. Daraufhin gibt es zwar eine erste Entwarnung: Lin Ching-feng, Direktor der behördlichen Gesundheitsmanagementagentur, verkündete laut dem US-amerikanische Sender CNN, dass von 29 Tests bislang 28 negativ waren, während ein weiteres Ergebnis noch ausstehe. Aber die Aufregung im Land ist auch deshalb groß, da es offenbar mehrere Wochen gedauert hat, bis die Regierung begann, das Thema ernst zu nehmen.

In Bezug auf den Umgang mit Kindern trifft das einen wunden Punkt in Taiwan. Seit langem klagt man im ostasiatischen 23-Millionen-Einwohner-Staat darüber, dass die Gesellschaft kaum kinderfreundlich sei. Im konfuzianisch geprägten Land, wo Bildung ein hoher Wert ist, geben die meisten Eltern vor allem für Kindergarten, Schule, Nachhilfeunterricht und Universitätsausbildung hohe Summen aus, während der Staat kaum Unterstützung leistet. So bleiben viele Menschen kinderlos, weil die Erziehung zu teuer ist.

Das zeigt sich längst in Statistiken. Eine Studie von Cheng Yen-hsin, einer Wissenschaftlerin des führenden Forschungsinstituts Academia Sinica in Taipeh, ergab im Jahr 2021, dass Familien mit einem Durchschnittseinkommen von 50.000 Neuen Taiwan-Dollar (rund 1470 Euro) ein Viertel ihrer Einkünfte für kinderbezogene Ausgaben verwenden. Damit werde ein Kind praktisch zum Luxusgut, das sich nicht jeder leisten kann. Seit Jahren ist deshalb auch die Geburtenrate niedrig. Im Jahr 2022 lag sie in Taiwan bei 0,87 pro Frau, womit die Bevölkerung Taiwans schrumpft.

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Kindergarten-Affäre könnte Regierungswechsel entscheiden

Für Kinder interessiert sich die Politik nicht, wird oft geklagt. So hat die Affäre um den Kindergarten längst die nationale Politik erreicht. So trat etwa Ko Wen-je vor die Presse, Vorsitzender der oppositionellen taiwanischen Volkspartei und bis 2022 Bürgermeister von Taipeh: „Ehrlicherweise finde ich, dieser Fall dauert zu lang. Was wurde den Kindern zugeführt? Wie lang schon? Mit welcher Dosis? Und am wichtigsten: Wo kommt die Medizin her?“ Wenn man die Kindergärtner nur mal ernsthaft befragen würde, ließe sich die Angelegenheit doch in 30 Minuten klären, sagte Ko.

Mit dieser Beschwerde hat der Politiker zumindest etwas angesprochen, was derzeit viele Menschen in Taiwan empfinden: Die Lokalregierung gehe der Sache nicht mit der nötigen Eile nach. Dabei könnte neben gesundheitlichen Gefahren für die Kinder auch erheblicher politischer Schaden entstehen. Die in New Taipei regierende Partei Kuomintang will sich eigentlich in Stellung für die nationale Präsidentschaftswahl im Januar 2024 bringen, wo sie derzeit in der Opposition ist.

Nun wird bereits spekuliert, dass sie sich durch die Kindergartenaffäre einiges verbaut hat. Bürgermeister Hou Yu-ih von der Kuomintang hat öffentlich um Verzeihung gebeten. Außerdem wurde die Schließung des Kindergartens veranlasst, sowie eine Strafzahlung von 150.000 Neuen Taiwan-Dollar (rund 4.400 Euro). Aber für Ruhe dürfte das allein kaum sorgen. Die Eltern der betroffenen Kinder – und vermutlich alle Eltern im Land – wollen Aufklärung.