Berlin. Von 2001 bis 2015 war Kai Diekmann Chefredakteur der “Bild“-Zeitung. In seinem Buch “Ich war Bild“ wagt der 58-Jährige einen Rückblick.

Er hat uns alle vor dem Untergang bewahrt, damals in der Finanzkrise. "Denn wir wissen: Wenn wir diese Schlagzeile drucken, brechen alle Dämme, dann würden alle versuchen, ihr Geld zu retten, der große Run auf die Geldautomaten einsetzen. Das deutsche Bankensystem würde zusammenbrechen, wir alle pleitegehen." So geht es über 500 Seiten. Diekmann rettet die Welt durch Schlagzeilenverzicht. Diekmann steht auf der richtigen Seite. Kai Diekmann durchschaut die Mächtigen. Und: Kai Diekmann zweifelt, bisweilen sogar an sich, nur in der Causa Wulff nicht. Ein klarer Fall von Kai-Washing, aber höchst unterhaltsam.

"Ich war Bild" heißt die Selektivbiografie des Mannes, der von 2001 bis 2015 Chefredakteur war, so lange wie kein anderer. Mit einer Akribie, wie sie nur Messis oder Selbstverliebte aufbringen, hat Diekmann all die Jahre offenbar jeden Schnipsel gesammelt, jedes vertrauliche Wort notiert. Dank des Autoren Zeigestolz werden vielfältige Einblicke hinter den Vorhang der Macht gewährt, wenn auch oft verklebt mit triefendem Schmalz oder aufgepumpt mit boulevard-typischem Größenwahn. "Ich war Junkie, 'Bild' meine Droge", gesteht der natural born Alpha. Der Entzug dauert offenbar an, so grimmig wie Diekmann vom Cover guckt.

Hajo Schumacher.
Hajo Schumacher. © Maurizio Gambarini/Funke Foto Services

Kai Diekmann: "Ich war Junkie, 'Bild' meine Droge"

Der Autor widmet sich kaum der Leserschaft, dem "Mann auf der Straße", sondern feiert die historische Momente seiner Regentschaft: die Versöhnung mit "Bild"-Kritiker Günther Wallraff, das listige Charmieren der taz, die Erfindung der deutsch-türkischen Zeitungsfreundschaft, der Flüchtlingswinter 2015/16 mit der kurzen Phase von "refugees welcome" und natürlich die Freundschaft zu Helmut Kohl, an dessen Totenbett er wachte. Alle US-Präsidenten seit Bush senior treten auf, Päpste und Dalai Lama, halb Hollywood, die Silicon-Valley-Boys und parallel dazu Diekmanns wechselnde Stile zwischen Hippie-Mähne, Ölmatte und Talibanbart

Wer allerdings eine Fortsetzung der Stuckrad-Reichelt-Döpfner-Festspiele erwartet, wird enttäuscht. Der Vielmeiner Diekmann ignoriert die aktuellen Geschehnisse absichtsvoll, so wie er sich Talkshows und anderen Glam verkniff – nie ins eigene Nest. "Ich war Bild" heißt eben auch: "Ich war die gute alte Zeit". Wobei "Achtung, Diekmann!" auch ein hübscher Titel gewesen wäre. Denn Achtung im Sinne von Ansehen war durchweg seine Triebfeder, zum wachsenden Verdruss von Springer-Chef Döpfner, der befand: "Kai hat Bild aus Sehnsucht nach bürgerlicher Anerkennung zu politisch korrekt gemacht."

Der Fall Wulff: Diekmann missachtete journalistische Standards

Diese Sehnsucht war stets stärker als journalistische Standards, das berufsständische Korsett für Diekmann zu eng. Die in jedem Journalistikseminar inbrünstig zitierte TV-Ikone Hans-Joachim Friedrichs, wonach ein Journalist sich nicht gemein mache, auch nicht mit einer guten Sache, hält Diekmann für Theorie. "Alles ist falsch an diesem Satz." Er war nie distanzierter Beschreiber, sondern stets Aktivist, der Geschichten machte, um Geschichte zu machen.

So springt das Kaimäleon Diekmann in jedem Kapitel in eine andere Rolle, mal Freund, mal Feind, mal Berater, mal Bewahrer, mal Erlöser, mal Pressesprecher. Sein inneres Geländer ist ein Gummiband, ganz wie beim Blatt, wo die Ethik täglich der Schlagzeile angepasst wird. Diese Methode wird besonders eindrucksvoll beim Fall des Bundespräsidenten Wulff illustriert.

Am 11. Mai 2023 erscheint Diekmanns Buch
Am 11. Mai 2023 erscheint Diekmanns Buch "Ich war Bild". © -/Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH/dpa

Während Diekmann seinem Freund Kohl das beharrliche Verschweigen von Parteispendern nachsieht, dreht er Wulff aus dem Verschweigen eines Privatkredits den Strick. Weil dieser Vorgang als Rücktrittsgrund nicht reicht, verwendet Diekmann auffallend viel Mühe darauf, das damalige Staatsoberhaupt mit Hilfe sehr privater Szenen als überforderten Emporkömmling darzustellen. Psychologen könnten hier die Projektion eines unstudierten Bielefelders vermuten. Dass Diekmann damals eine aggressive, aber vertrauliche Sprachnachricht ("Ich muss zum Emir") veröffentlicht, die Wulffs Ansehen final beschädigt, relativiert die unlängst empört geführte Debatte über den Umgang mit vertraulichen SMS des Springer-CEO´s Döpfner, der für sich Eile, Erregung und Ironie reklamierte. Das hätte Wulff mal wagen sollen.

Und wo es schon um die Ethik des Rücktritts geht: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit ließ Diekmann ein grobkörniges Bild drucken, das Jürgen Trittin 1994 auf einer Demo zeigte, angeblich mit Bolzenschneider und Schlagstock in den Händen. Die Waffen entpuppten sich als Seil und Handschuh. Gemessen am strengen Wertekanon, der für Wulff galt, hätte der neue Chef angesichts dieser grandiosen Fehlleistung gleich wieder zurücktreten müssen.

Diekmann im direkten Vergleich zu Julian Reichelt

Diekmann kann von Glück reden, dass sein Nachfolger und Schüler sich als Straßenköter des Boulevards entpuppte, der in der Danksagung des Buches nicht mal auftaucht. Dank des unschönen Trubels um den geschassten "Bild"-Chef Reichelt wirkt Diekmann heute wie der gute, alte Königspudel der Revolverpresse, der halt gern der Macht nah war und Staatsmännchen machte.

Wenn Diekmann ein Geländer hat, dann am ehesten Katja Kessler, die das Werk des Gatten als eine Art Cheflektorin offenbar von jeglichem toxischen Macker-Sound befreit hat, der eine kulturelle Brücke zur Reichelt-Bild hätte bedeuten können. Ohne "Frau Dr.", wie er die promovierte Zahnärztin mit spöttischer Ehrfurcht nennt, ist Diekmann nicht zu verstehen. Die beiden haben das soziale Kunststück vollbracht, eine Familie mit vier Kindern zusammenzuhalten, trotz der kulturellen Kluft zwischen dem sehr bürgerlichem Potsdam und Papas mäßig beleumundeten Job im bösen Berlin. Im heimischen Garten floß der Honig aus den eigenen Bienenstöcken, im Büro tropfte Bild-Blut.

Journalismus: Diekmann offenbart schräge Vorstellung

Für Feinschmecker bietet "Ich war Bild" ein reichhaltiges Buffet an Details aus der Welt der Großen, aber auch reichlich Spottstoff. Dem eigenen Anspruch, "Journalismus zu erklären, wie er in der wirklichen Welt ist", genügt das Werk allerdings nicht. Diekmann erklärt nicht "den", sondern "seinen" Journalismus. So ist Vorsicht geboten bei den courths-mahler-haft ausgebreiteten Emotionen, die dem Werk etwas Aufrichtig-Ehrliches verleihen sollen. "Bild" war immer auch Pose und das Instrumentalisieren von Gefühligem Diekmanns Kernkompetenz.

Vor dem Anhang, der einer Doktorarbeit würdig ist, kündigt der Autor schon "das nächste Buch" an. Klar, die Biografien von Weltmännern sind mehrbändig. Da wird dann hoffentlich die düstere Seite der 16 Jahre dargelegt, all die Presseratsrügen, der Fall der Auflage von über vier auf unter zwei Millionen, die Freundschaft zu und die Berichterstattung über den Freiherrn zu Guttenberg, die Grenzüberschreitungen von Kekili bis Kachelmann. Mit einer Tischtennispartie bei Günther Wallraff und der Entschuldigung bei Jürgen Trittin ist es noch nicht getan.