Göttingen. 700 Bewohner dürfen einen Wohnkomplex nicht verlassen – das ganze Gebäude steht unter Corona-Quarantäne. Am Samstag eskalierte die Situation.

Bei Ausschreitungen an einem unter Quarantäne stehenden Wohnkomplex in Göttingen sind acht Polizeibeamte verletzt worden. Die Einsatzkräfte seien mit Flaschen, Steinen, Metallstangen, Haushaltsgegenständen und Pyrotechnik beworfen worden, sagte Göttingens Polizeipräsident Uwe Lührig am Sonntag.

Drei verletzte Beamte seien vorerst nicht dienstfähig. Bereits seit Donnerstag dürfen die rund 700 Bewohner die Gebäude nicht mehr verlassen. Zuvor waren rund 120 von ihnen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Nach Angaben der Stadt leben die Menschen unter prekären Verhältnissen, die Wohnungen sind nur 19 bis 39 Quadratmeter groß – teilweise sind hier Familien mit vier Kindern untergebracht.

Polizisten beworfen und verletzt

Laut Polizei hatten sich am Samstagnachmittag etwa 80 bis 100 Bewohner an der Absperrung des Gebäudekomplexes versammelt. Mit „massivem Einsatz von Pfefferspray“ hätten die Beamten verhindert, dass die Absperrung durchbrochen wurde, sagte Einsatzleiter Rainer Nolte.

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    Es seien auch Kinder aktiv daran beteiligt gewesen, es sei aber nicht bewusst auf Kinder gesprüht worden, sagte Nolte auf Nachfrage. „Kenntnisse über Verletzungen der Bewohner liegen mir nicht vor.“

    Nun werde unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt, er erwarte eine große Anzahl an Straftaten. Polizisten wurden aus Braunschweig und Einbeck hinzugezogen, in der Spitze waren rund 300 Einsatzkräfte vor Ort. Nach etwa einer Stunde beruhigte sich die Lage.

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    Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil verurteilte die Angriffe. „Natürlich ist es in beengten Wohnverhältnissen schwieriger, das Weiterverbreiten von Corona-Infektionen zu verhindern“, sagte der SPD-Politiker. „Und eine Quarantäne ist bei wenig Platz und vielen Menschen auf engem Raum auch schwerer zu ertragen.“

    Jedoch müssten die Infektionsschutz-Regeln vom Staat durchgesetzt werden. „Dagegen gerichtete Handlungen, erst recht in Form von Gewalt gegen Polizeibeamte, sind unverantwortlich und in keiner Weise akzeptabel“, betonte Weil.

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    Demonstration in der Nähe des Gebäudes

    Vor dem Wohnkomplex, der als sozialer Brennpunkt gilt, hatte am Samstag die Gruppe „Basisdemokratische Linke“ gegen zu hohe Mieten demonstriert. Sie forderte, die nicht infizierten Bewohner in Hotels unterzubringen. Eine Evakuierung sei geprüft, aber aus mehreren Gründen verworfen worden, sagte die Leiterin des Göttinger Krisenstabs, Petra Broistedt.

    Einsatzkräfte der Polizei stehen vor einem unter Quarantäne gestellten Wohngebäude. Nach Ausschreitungen am 20.06.2020 hat sich die Lage vor Ort entspannt. Die Stadtverwaltung hatte den ganzen Wohnkomplex an der Groner Landstraße zur Eindämmung des Coronavirus unter Quarantäne gestellt.
    Einsatzkräfte der Polizei stehen vor einem unter Quarantäne gestellten Wohngebäude. Nach Ausschreitungen am 20.06.2020 hat sich die Lage vor Ort entspannt. Die Stadtverwaltung hatte den ganzen Wohnkomplex an der Groner Landstraße zur Eindämmung des Coronavirus unter Quarantäne gestellt. © dpa | Swen Pförtner

    Man wolle keine Familien trennen, zudem hätten sich keine Hotels zur Aufnahme bereiterklärt. Die Bewohner würden von der Stadt mit Care-Paketen mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Medikamenten versorgt. Es gebe zwei Mahlzeiten täglich. Außerdem seien Ärzte und Dolmetscher vor Ort. Bewohner würden per SMS auf Deutsch und Rumänisch sowie mit Sprachnachrichten informiert. In dem Komplex leben mehr als 200 Kinder und Jugendliche.

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    Menschen leben zum Teil in prekären Verhältnissen

    Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler sprach am Samstag mit zwei Männern aus dem Haus am Zaun und erläuterte ihnen das Vorgehen der Behörden. Der SPD-Politiker sagte: „Die Corona-Pandemie hat eine soziale Dimension erreicht.“ Vor allem Menschen in prekären Lebensverhältnissen seien dem Virus ausgesetzt. Der Gesetzgeber sei gefordert, etwas gegen Profitgier und Preistreiberei von privaten Vermietern zu tun. Die Mieten in dem betroffenen Komplex seien genauso hoch wie in besseren Wohnungen. Die Stadt Göttingen vermittelte keine auf Transferleistungen angewiesene Menschen in diesen Wohnkomplex, betonte er.

    "Solidarität mit den Bewohner*innen der Groner Landstraße 9 a/b" steht auf einem Plakat vor einem unter Quarantäne gestelltem Wohngebäude. Die Stadtverwaltung hatte einen ganzen Wohnkomplex an der Groner Landstraße zur Eindämmung des Coronavirus unter Quarantäne gestellt. © dpa | Swen Pförtner

    Am Sonntag wurden die Testungen der Bewohner fortgesetzt, laut Stadt verlief dies ohne Zwischenfälle. Ergebnisse werden am Montagabend erwartet. Wer zwei Mal negativ auf das Coronavirus getestet sei, könne dann unter Auflagen wie An- und Abmeldung das Grundstück verlassen, kündigte Köhler an.

    Erst im Mai war es im 18-geschossigen Iduna-Zentrum am nördlichen Rand der Göttinger Innenstadt zu einem Corona-Ausbruch gekommen. Nach Behördenangaben hatten dort Mitglieder mehrerer Familien bei privaten Feiern die Hygiene- und Abstandsregeln verletzt. Schulen wurden für zwei Wochen geschlossen und öffneten erst am Montag wieder. dpa