Braunschweig. Sänger Norbert Leisegang blick auf 40 Jahre Bandgeschichte zurück. Vor der Westand-Show erzählt er über die DDR, Konflikte, Fans, Bescheidenheit.

Die Brandenburger Band Keimzeit brachte schon zu DDR-Zeiten ostdeutsche Gaststätten zum Tanzen. Mit dem Debütalbum „Irrenhaus“ und dem Hit „Kling Klang“ wurde sie Anfang der 90er Jahre bundesweit bekannt. Seit gut 40 Jahren veröffentlicht die Gruppe kontinuierlich Alben mit poetischen, klug arrangierten, organischen Rocksongs und bringt in ihren Texten oft das Unspektakuläre, wenig Beachtete zum Leuchten. Am Freitag, 28. April, tritt Keimzeit im Braunschweiger Westand auf. Wir sprachen vorab mit Frontmann und Songschreiber Norbert Leisegang (62).

Die Anfänge von Keimzeit liegen in den frühen 80er Jahren im brandenburgischen Bad Belzig. Wie ging das damals los mit der Band?

Wir waren drei Brüder und eine Schwester in der Familie Leisegang, allesamt nicht umwerfend sportlich, aber dennoch voller jugendlicher Energie. Die musste freigesetzt werden, also haben wir eine Band gegründet. In der Schule hatten wir ganz ordentlichen Instrumentalunterricht, so dass es eigentlich ganz gut losging – erst recht, als wir den Kreis erweitert haben und Ulrich Sende als Gitarrist dazukam.

Wart ihr zunächst vor allem regional bekannt oder ging das bald darüber hinaus?

In den ersten Jahren waren es sogenannte Jugend-Tanzveranstaltungen im örtlichen Umkreis. Das erweiterte sich allerdings recht schnell. Nach zwei, drei Jahren waren wir in der gesamten Ostrepublik unterwegs. Wir haben zum großen Teil in Gaststätten gespielt, im Sommer auch auf Open Airs, die Leute veranstaltet und uns eingeladen haben. Die Konzerte haben nicht selten drei bis vier Stunden gedauert.

„Wir waren Hippies“

Habt ihr euch vor allem als Unterhaltungsmusiker gesehen oder hattet ihr einen gesellschaftspolitischen Anspruch?

Ersteres. Wir waren zwar Hippies, sehr friedlich und liberal eingestellt. Aber in erster Linie wollten wir Party machen, wie viele Bands in diesem Alter. Wir haben uns um Politik kaum bis gar nicht geschert. Wir haben zunächst vor allem gecovert, von Simon & Garfunkel bis zu Balkan-Musik. Mit der Zeit kamen ein paar eigene Songs dazu, und als wir merkten, dass das Publikum die mochte, haben wir das immer weiter ausgebaut. Wir waren damals auch begeistert von der Neuen Deutschen Welle. Man musste kein Spitzenmusiker sein, um einen guten Song zu schreiben. Wir haben uns dann ganz allmählich weiterentwickelt.

Ihr habt Ende vergangenen Jahres das Doppelalbum „Von Singapur bis Feuerland“ rausgebracht, mit Songs aus vier Jahrzehnten Keimzeit. Die ersten Titel stammen vom Album „Irrenhaus“, das 1990 erschienen ist, fast zehn Jahre nach der Bandgründung. Warum gibt’s keine früheren Aufnahmen?

Es gibt frühere Aufnahmen, von Konzertbesuchern, die Kassetten mitgebracht und bei unserem Techniker am Mischpult abgegeben haben, wo immer ein Kassettenrekorder stand. Die wurden dann vervielfältigt und rumgereicht. Das gab es in den 80ern ganz viel, nicht nur bei uns, denn die amtliche DDR-Plattenfirma Amiga war nicht willens, von jeder Band Platten pressen zu lassen. Im Studio konnten wir erst ab 1988/89 professionell arbeiten.

Die DDR der 80er: bleiern und statisch

Keimzeit bei einem Konzert in Schöningen im Januar 2020.
Keimzeit bei einem Konzert in Schöningen im Januar 2020. © Melanie Specht | Melanie Specht

Mit „Irrenhaus“ seid ihr auch im Westen bekannt geworden. Die Anspielung auf die untergehende DDR ist deutlich. Aber die Texte sind nicht wütend, eher poetisch und nachdenklich. Statt von Tätern singst du von „Verrückten“ oder „Komödianten und Entzückten – die haben den Schritt in die Realität verpasst“. Warum diese Milde?

In dem Moment, als die Mauer fiel, wussten alle: Das System DDR war am Ende. Bis ins Jahr 1989 hinein war es aber niemandem klar, dass die Mauer so schnell fallen würde. Als ich diese Songs geschrieben habe, hatte ich nicht die Erwartung, dass die DDR in zwei, drei Jahren Geschichte ist. In den 80ern war das Klima so bleiern und statisch, dass ich dachte, die bleibt bis in alle Ewigkeit.

Trotzdem handeln viele Songs zumindest atmosphärisch davon, dass etwas falsch läuft und sich ändern muss.

Ja, unbedingt, aber latent. Weißt du, auch diese Demokratie jetzt, diese Marktwirtschaft verändert sich laufend. Und genau wie in den 80ern kaum jemand glaubte, dass 1989 die Mauer fällt, glaubt jetzt kaum jemand, dass die demokratischen System im westlichen Europa zusammenbrechen könnten. Aber Künstler, die das irgendwie im Hinterkopf haben, können Texte verfassen, dass vielleicht nicht alles so ist, wie man denkt – und in dem Moment, wo es dann zusammenklappt, sagen alle: Oha, die haben es vorhergesehen.

Wie ein Album die Fans verschreckte

Zurück zur Wende – hat sich euer Publikum damals verändert?

Wir konnten „Irrenhaus“ bei der Hansa veröffentlichen, einer Westberliner Plattenfirma. Und das erste Album hat doch einen ordentlichen Schwung zusätzliches Publikum in unsere Konzerte gespült, vor allem im Osten. Im Westen waren die Veranstalter zunächst zurückhaltend. Für uns war neu, dass wir die Leute nicht mehr über drei, vier Stunden unterhalten sollten. Man hatte ein Konzert zu geben über anderthalb, maximal zwei Stunden – und dann ging’s runter von der Bühne. An diese Komprimierung mussten wir uns in den 90ern erstmal gewöhnen.

Im Jahr 1997 habt ihr auch einen stilistischen Wechsel vollzogen, vom „Müsli-Chanson-Rock“, wie du mal gesagt hast, zu einem cooleren, moderneren Sound. Das fand nicht jeder Fan gut.

Überhaupt nicht. Wir haben damals Franz Plasa als Produzent gewonnen, den wir immer noch sehr schätzen. Er hat uns mit Peter Schmitz, seinem Assistenten, nach Brüssel geholt, und da haben wir dann das Album „Im elektromagnetische Feld“ aufgenommen. Da waren eine ganze Menge Computer am Start, es gab einige Veränderungen an unserem Sound, die wir selber toll fanden – ein Teil der Band zumindest. Aber unser Publikum nur selten.

Konflikte in der Band

Keimzeit um 2017.
Keimzeit um 2017. © Bernd Brundert | BERND BRUNDERT

Hat das geschmerzt? Hat es euch überrascht?

Einerseits war es eine Befreiung. Aber weh getan hat die Art der Kritik, die auf uns einprasselte: Das seid doch nicht mehr ihr. Ihr habt versucht, mit einem Hamburger Produzenten ein ultrakommerzielles Album zu machen: Hahaha, das ist euch nicht gelungen! Über dieses Missverständnis waren wir doch sehr enttäuscht. Andererseits gab es Sender wie Radio 1 in Berlin, die das Album wirklich oft gespielt haben. Es hat also sehr polarisiert, was in der Nachbetrachtung aber eigentlich ganz normal ist.

Du hast angedeutet, dass es im Lauf der Jahre so einige Meinungsverschieden und Besetzungswechsel gab.

Klar, es gab eine Menge an Konflikten und Krisen. Jeder, der schon mal länger im Team oder auch in einer Band gearbeitet hat, wird mir beipflichten, dass das kaum zu verhindern ist. Man muss es einfach annehmen und damit umgehen. Ende der 90er, Anfang der Nullerjahre hat es bei Keimzeit zum ersten Mal sehr gekriselt. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass der ein oder andere sagte, er mag die Songs nicht mehr oder die Produzenten. Manche wollten weniger Konzerte geben, weil sie Familien gründeten, andere wieder mehr. Wenn dann Gräben entstehen, wie reagiert man als Teams darauf? Heute sagt man, nehmt euch einen Supervisor. Damals wussten wir das nicht, und dann haben wir uns gegenseitig verletzt und teils auch übelst betragen, so dass der eine oder andere sich wütend entfernte von der Band. Die Nullerjahre waren krisenhaft. Hin und wieder ist dabei auch tolle Musik entstanden, nicht immer. Ich bin froh, dass viele Fans das als organische Entwicklung betrachtet haben und nicht gleich vom Glauben abgefallen ist.

Was aus den anderen Leisegangs wurde

Das könnte Sie auch interessieren:

Pop meets Classic- Donnernde Begeisterung zum Jubiläum

Künstler werben mit Straßenmusik für Wolters-Applaus-Garten

„All Shook Up“ im Westand Braunschweig- Elvis-Musical begeistert

Da liegt eine Frage zu den Leisegangs nahe. Die Band hat mit vier Geschwistern angefangen. Heute ist neben dir nur noch Hartmut als Bassist dabei. Wann und warum sind die anderen ausgestiegen?

Marion ist schon Ende der 80er ausgestiegen, weil sie eine Familie gegründet hat und Kita-Chefin wurde. Später hat sie selbst nochmal eine Band gegründet. Mein jüngerer Bruder Roland ist vor zehn Jahren ausgestiegen, um Kommunalpolitik in Bad Belzig zu machen. Er ist dort 2016 Bürgermeister geworden, als Parteiloser. Ende vergangenen Jahres wurde er allerdings vorzeitig wieder abgewählt. So richtig erfolgreich war er nicht in seinem Amt.

Musikalisch gab es in der Bandgeschichte durchaus Stilwechsel. In deinen Texten bist du aber deiner leisen Poesie treu geblieben. Du nimmst oft die Haltung von melancholischen oder sehnsüchtigen Randfiguren ein – wie im Song „Leute“: „Leute wie ich / Erscheinen selten auf der Leinwand / Wir schauen lieber zu /Und winken unseren Helden Glück“. Ist das dein Lebensgefühl?

Das ist meine Prägung. Ich entstamme einer Landfamilie. Da hieß es immer, sei nicht so offensiv, sei bescheiden und achte die Arbeit eines jeden. Diese Haltung hat sich von meinen Großeltern und Eltern auf mich übertragen. Dass ich hin und wieder versuche, das auch in Poesie auszudrücken, liegt aber auch daran, dass mich Leute, die weniger Glück haben, mehr interessieren als Gewinner. Hinzu kommt die Band. Die Leute, die bei Keimzeit zusammenkommen, sind keine Poser oder super eitlen Musiker, sondern Menschen, denen seit 10, 15 Jahren sehr bewusst ist, welches Glück wir erfahren, dass wir immer noch auf Bühnen gehen können und uns zugehört wird. Das ist der Hintergrund für unsere Texte und unsere Musik.

Die goldenen Zwanzigerjahre

Du bist ungebrochen kreativ. In einem Interview hast du allerdings mal gesagt, dass man die stärksten Songs oft in seinen Anfangsjahren als Musiker schreibt. Warum glaubst du, dass das so ist?

Ich glaube das nicht. Ich kann es sehen, bei mir und bei anderen Musikern. Das ist aber nicht ungewöhnlich. In der Wissenschaft ist es ähnlich: Die meisten großen Entdeckungen machen Leute in ihren Zwanzigern. In diesem Alter hat man einfach eine Menge an Energie, die man freisetzen kann. Ich merke natürlich auch auch an den Reaktionen des Publikums, dass viele Fans vor allem die Songs unserer ersten drei Alben lieben. Da muss man von seiner Eitelkeit ein bisschen runterkommen und das anerkennen, auch wenn es ein Stück weh tut. Aber dagegen anzukämpfen ist Unsinn, denn ich weiß es ja selbst: Du hörst Musik, und dein Herz reagiert darauf – oder eben nicht.