Berlin war seit einigen Monaten wieder die deutsche Hauptstadt. Aber der Bundestag tagte noch immer in Bonn, wo auch viele Ministerien ansässig waren, am 30. November 1991. Ein denkwürdiger Tag in meiner Karriere als Sportredakteur. Unvergessen bis heute, vielleicht der beeindruckendste Tag in meinem Arbeitsleben, in dem ich schon so viele Triumphe und Misserfolge miterlebt habe, begleiten und darüber berichten musste und durfte.

An jenem Samstag wurde die Braunschweiger Standard-Formation des BTSC zum ersten Mal Weltmeister – in der alt ehrwürdigen Deutschlandhalle, die seit 1935 großartigen Sport geboten hatte und Jahre später für immer verschwand. Nichts an diesem Sieg der Braunschweiger Tänzerinnen und Tänzer war normal. Mit diesem Erfolg veränderte der BTSC eine ganze Sportart für immer.

Genau genommen war es nicht der Verein, sondern ein Mann: Rüdiger Knaack. Der Cheftrainer, der heute noch beim gleichen Klub in dieser Funktion tätig ist – inzwischen seit 32 (!) Jahren. Seit 1989 ist Knaack verantwortlich für 18 deutsche Titel des BTSC, 9 Europameisterschafts-Siege und 11 erste Plätze bei Weltmeisterschaften. Knaacks Lebenswerk. Aber das ist eine andere Geschichte.

Am 30. November 1991 also traten die Braunschweiger an, um Weltmeister zu werden, wieder einmal, mehrfach waren sie an diesem Ziel zuvor knapp gescheitert. Mit Knaack sollte alles anders werden. Der ehemalige 10-Tänze-Profi musste zwei Jahre zuvor aber erst überzeugt werden, überhaupt die sportliche Leitung einer Formation zu übernehmen. Denn sein Urteil über diesen Sport im Allgemeinen fiel vernichtend aus: Das ist kein Tanzen, sondern marschieren. Das ist kein Sport, lautete Knaacks Credo.

Die Lösung lag auf der Hand: Knaack musste das Standard-Formationstanzen nur neu erfinden, um Gefallen daran zu finden. Und was wie Fantasterei klingt, machte der Hamburger einfach. Aus den 16 „Marschierern“ von einst formte der Trainer eine Einheit aus acht Tanzpaaren, die vornehmlich wirklich tanzten. Doch dazu musste zu allererst eine völlig neuartige Musik her. Quasi als Schrittvorlage. Knaack war fasziniert von der Idee, ein Musical-Thema für die Choreographie zu verarbeiten. Und so wurde mit dem „Phantom der Oper“ erstmals im Standard-Formationstanzen eine Geschichte erzählt – in den gut sechs Minuten Präsentationszeit.

Doch Knaack wusste, dass er sich mit dieser Neuheit vielleicht nicht nur Freunde gemacht haben würde. Er glaubte fest daran, vertrauend auf das Können seiner Protagonisten, dass es nur zwei Ergebnisse für „sein“ Phantom der Oper bei der WM in Berlin geben könnte: Das Vorrunden-Aus, weil das ganze Projekt durchfällt. Oder der Sieg. Es wurde Letzteres im Sturm der Begeisterung der Massen am 30. November 1991 in der Berliner Deutschlandhalle. Und kein Auge blieb im Moment des Triumphes trocken: beim Trainer, bei den Tänzern, bei den Fans. Und auch der Berichterstatter hatte einen fetten Kloß der Rührung im Hals.

Fortan wurde von allen ernsthaften Konkurrenten die Idee mehr oder weniger gut kopiert. Und in den folgenden Jahren kreierten in- und ausländische Formationen Choreographien zu allen möglichen Musicals. Da hatte Knaack aber längst eine neue Idee, die er mit ähnlich bahnbrechendem Erfolg umsetzte: Choreographien mit Musik nur eines einzelnen Künstlers. Und so wurden Zarah Leander, Eros Ramazzotti und Celine Dion auch noch Weltmeister mit dem BTSC. Und Knaack.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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