Plötzlich kam der letzte Russen-Jeep, es war 11.43 Uhr am 30. März 1994, die Soldaten mit den Fellmützen blickten schüchtern durch beschlagene Scheiben, der Fahrer hupte dreimal kurz.“ So begann ich meinen Bericht vom Abzug der Russen vom Brocken im Harz. 80 Brockenbahn-Passagiere winkten ihnen freundlich hinterher. Dann war die Besatzungsmacht weg, der höchste Harzgipfel endgültig frei. Zum ersten Mal seit dem Kriegsende 1945 ohne Soldaten. Aber war das wirklich erst Ende März 1994?

Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Aber so war es: Noch bis zum Sommer 1994 war die einstige Rote Armee, die nach dem Zerfall der Sowjetunion jetzt „Westgruppe der Truppen“ hieß und Russland zugeordnet wurde, noch im wiedervereinigten Deutschland präsent. Woran man heute erinnern muss: Auch der friedlich verlaufene Abzug von 350.000 russischen Militärangehörigen samt ihrer Familien aus mehr als 600 Militärbasen in Ostdeutschland gehört zu dem ganz großen Glück in unserer jüngsten Geschichte.

Die da jetzt vom Brocken abzogen, so schrieb ich, kamen sich wohl vor wie die Kosmonauten von der Raumstation Mir, denen im Weltraum das Vaterland auf der Erde da unten abhanden gekommen war. Auch die Brockenwanderer spürten, dass da jetzt Häme und Triumph am wenigsten angebracht waren, eher Hilfe, Menschlichkeit und Anteilnahme. Die Bundesrepublik zahlte mehr als 12 Milliarden D-Mark für den Abzug, die Menschen auf dem Brocken steckten den armen Teufeln, die in zugigen Baracken die Stellung hielten, Früchte und Schokolade zu. Es waren blutjunge Kerle, die nicht wirklich verstanden, in welche Welt sie hier geraten waren.

Um 11.43 Uhr am 30. März 1994 hatte ich Reporterglück. Als sich das schwere Tor auf der Brockenkuppe geöffnet hatte und der letzte Militärkonvoi vorbeibrauste, stürmten ungefähr zehn Leute aufs Kasernengelände. Ich mit, dabei auch mein Freund, der Clausthaler Harz- und Brocken-Fotograf Hansjörg Hörseljau. Hinter uns riegelte der Wach- und Schließdienst aus Wernigerode das Gelände ab.

Wir stromern in einer Zwischenzeit durch eine Zwischenwelt. Ich stoße die Tür zur Waffenkammer auf, sie ist natürlich leer, aber der Alarm geht noch los. Hier löst das keine Krise mehr aus. Horchkuppeln, die eben noch Abhörtechnik beherbergten, leer, gespenstisch wabert das Echo in ihnen umher. Dann sehe ich ihn im rußverschmierten Schnee, den Gaußschen Punkt, den historischen Hügel aus Granitquadern: „1142 M“. Ein Glücksmoment. Seitdem jedes Mal wieder oben auf dem Brocken.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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