Als ich im Mai 2019 das Helmstedter Roxy-Kino aufsuchte, um nach letzten Spuren des dort im Jahr 1975 gedrehten Wim-Wenders-Kultfilms „Im Lauf der Zeit“ zu suchen, marschierte ich als Teenager von damals und Redakteur von heute in den alten Vorführraum, in dem tatsächlich noch eine Leiter und ein Schachtisch herumstehen, die Wenders als Requisiten gedient hatten. 1975 besuchte ich die zehnte Klasse des Gymnasiums Julianum in Helmstedt, von den Dreharbeiten hatte ich allerdings nichts mitbekommen. „Im Lauf der Zeit“ besingt in elegischen Schwarz-Weiß-Bildern das entrückte Leben am Eisernen Vorhang – einem Ende der Welt.

Es war meine Welt. Aber was sie war, das habe ich erst als Erwachsener begriffen, als ich erstmals den Wenders-Film sah und die Schauspieler Rüdiger Vogler und Hanns Zischler auf ihrem schrägen Roadtrip entlang der innerdeutschen Grenze begleiten konnte. Ich verstand, dass Landschaften viel mehr sein können als das, was wir sehen. Und dass unser Leben mehr ist als Erinnerung.

Dass ich in dem kleinen Roxy-Kino, das – magisch genug – jenes Kinosterben überlebt hat, von dem der Wenders-Film 45 Jahre zuvor schon gekündet hatte, Sprünge zwischen Ort und Zeit vollführen konnte, war ein Erlebnis von erlösender Klarsicht. Ich entzifferte die bis dahin unleserliche Schatzkarte meiner Zuneigung zu einer außergewöhnlichen Region und ihren außergewöhnlichen Menschen. Einem verstaubten Vorführraum sei dank. Und Wenders auch.

2020 dann lief der Film im Roxy, zur Eröffnung der Helmstedter Universitätstage. Die nächste große Gelegenheit zur Spurensuche. Ich packte sie beim Schopfe und moderierte den Abend. Wim Wenders kam nicht, er war zu beschäftigt, dafür aber Hanns Zischler. Der Film mache deutlich, „wie unglaublich weit wir uns schon von dieser Zeit entfernt haben“, sagte der 73-Jährige nach der Vorführung. Doch ich spürte keine Entfernung, nur Nähe. Zu diesem Abend, zu allem davor, zu meinem Beruf.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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