Neulich hat mich eine Einladung erreicht: Das Braunschweiger Opferhilfebüro der Stiftung Opferhilfe Niedersachsen feiere sein 20. Jubiläum. Ob ich nicht etwas darüber schreiben möchte?

Nun bin ich schon ziemlich lange Lokalredakteurin in Braunschweig. Und weil ich finde, dass es ein wichtiges Thema ist, Kriminalitätsopfern zur Seite zu stehen, habe ich schon über die Gründung der Opferhilfe berichtet und später über ihr zehnjähriges Bestehen. Die Überschrift lautete: „Nach dem Handtaschenraub traut sich das Opfer kaum noch auf die Straße/ Interview zum zehnjährigen Bestehen des Opferhilfe-Büros – Mit kreativen Ideen helfen.“

Ich zitiere das nicht, weil ich auf die Überschrift besonders stolz wäre. Bei näherer Betrachtung gehört sie eher nicht zu den journalistischen Glanzstücken. Aber sie hat etwas ausgelöst, an das mich die neuerliche Einladung erinnert hat – und das mich bis heute berührt: das „Wunder von Braunschweig“, jenes „Spendenmärchen“, das um die Welt ging und den Wiener Schriftsteller Daniel Glattauer („Gut gegen Nordwind“) am Ende sogar zu seinem Roman „Geschenkt“ inspirierte.

Der erste Anruf erreichte mich Anfang November 2011. Am anderen Ende eine aufgeregte Mitarbeiterin der Opferhilfe. In ihrem Briefkasten habe heute ein schlichter brauner Umschlag mit 10.000 Euro, gestückelt in 500-Euro-Scheinen, gesteckt. Der einzige Hinweis: Bei dem Unbekannten müsse es sich um einen Leser unserer Zeitung handeln. Dem Geld beigelegt war mein kurz zuvor erschienener Artikel. Neben die Überschrift hatte der anonyme Spender ein Kreuzchen gemacht.

Auch andere Berichte in unserer Zeitung etwa über die Braunschweiger Tafel, das Hospiz, eine Kirchengemeinde, Schule oder Kindergarten veranlassten den anonymen Spender, Gutes zu tun, ohne sich dabei zu erkennen zu geben. Heimlich steckte der Wohltäter oder die Wohltäterin dicke Packen mit 500-Euro-Scheinen in Briefkästen, legte sie unter Fußmatten, klemmte sie in einer Kirche zwischen Gesang- und Gebetbücher. Mehr als 200.000 Euro kamen da schnell zusammen. Die Opferhilfe erhielt noch zwei weitere Umschläge mit je 10.000 Euro.

Und unserer Redaktion? War so etwas wie eine Drehscheibe. Der Wohltäter legte, quasi als Verwendungszweck, unsere Artikel über engagierte Menschen, Hilfsorganisationen oder soziale Einrichtungen bei, aus der Zeitung erfuhr er wiederum, dass das Geld auch ankam. Denn natürlich berichteten wir über jede Spende – und mit jeder Spende wuchs die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Fernsehsender aus aller Welt belagerten die Redaktion, wollten von unserem Braunschweiger Redaktionsleiter Henning Noske jedes Detail über das „Wunder von Braunschweig“ erfahren.

Die rührendste Geschichte: Im fernen Argentinien erfuhr der elfjährige Pablo in einer Fernsehreportage vom Spenden-Märchen. Er und seine arbeitslose Mutter waren in Buenos Aires von Obdachlosigkeit bedroht, weil das Geld für die Miete fehlte. Auf der Internetseite unserer Zeitung bat er den anonymen Spender um Hilfe. Und bekam sie. 2000 Euro für Pablo!

Wer der oder die Unbekannte war, ist ein Geheimnis geblieben. Die wunderbare Spenden-Flut verebbte nach 2013, doch in der Region und bundesweit mehrten sich weiterhin anonyme Spenden. 370.000 Euro verschenkte ein Unbekannter zwischen 2017 und 2019 in „Wundertüten“ an gemeinnützige Organisationen in unserer Region – auch das via Zeitung. Das Geld übergab er vertrauensvoll an unser Redaktionsteam. Im Oktober 2020 erhielt die Braunschweiger Tafel abermals 20.000 Euro. Das Märchen geht weiter.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

Alle Texte zu unserem Schwerpunkt finden Sie unter https://www.braunschweiger-zeitung.de/75jahre/