Durch lange Gänge und Treppen ging es in kleinen Gruppen hinab in ein gewaltiges Gewölbe. Graubraun verwitterte Backsteinmauern verloren sich in undurchdringlicher Höhe. Die riesigen Räume waren einst als Eiskeller einer Brauerei genutzt worden. Sie hatten die Aura eines Verlieses. Kein Sonnenstrahl war je hineingedrungen.

Als das Auge sich ans Dämmerlicht gewöhnt hatte, der Schock: Man stand plötzlich einer jungen afrikanischen Frau gegenüber, die auf einem Sockel in einer Art Käfig stand, bekleidet nur mit hochhackigen Schuhen und Schmuck. Sie stand dort ruhig, schön und unergründlich.

Es war beim Festival „Theaterformen“ im Jahr 2010. Der südafrikanische Künstler Brett Bailey hatte die Installation „Exhibit A“ eingerichtet. Eine Art künstlerische Rekonstruktion jener vermeintlich völkerkundlichen Schauen, bei denen Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa tatsächlich aus den Kolonien verschleppte Menschen wie Zootiere im „exotischen“ Ambiente zur Schau gestellt wurden. Dies war just zu der Zeit, als deutsche Herrenmenschen in Südwest-Afrika den ersten Völkermord des Jahrhunderts begingen.

Ein anderes „lebendes Bild“ blieb mir bis heute verstörend im Kopf: Eine halbnackte afrikanische Frau, die dem Betrachter den Rücken zuwandte, die Handgelenke und den Hals in Ketten. Hinter ihr lag im Sand ein deutscher Karabiner.

Du hast nach über 30 Jahren als Kulturredakteur unheimlich viel Kulturkram erlebt – das meiste irgendwie mittelmäßig, manches auch grottig oder gar ärgerlich – es ist nicht so, dass der Job ein einziges Zuckerschlecken wäre. Wenn man ehrlich ist, hat Vieles auch mit der Verschwendung von Lebenszeit zu tun.

Aber es gibt das Grandiose. Selten. Aber dann haut es dich um – im Theater, im Kino, in Konzerten, in Ausstellungen, in der Lektüre. Es verändert dein Gefühl für die Welt, deine Sicht auf die Dinge, im besten Falle sogar dich selbst. Diese Kraft hat die Kultur. Selten. Aber immerhin.

Als ich mich jetzt aus gegebenem Anlass fragte, was das wohl einschneidendste Kultur-Erlebnis all der Jahre gewesen sei, kam mir sofort „Exhibit A“ zwingend vors innere Auge. Die schaurige Atmosphäre im Eiskeller. Die lebendigen Menschen mit ihrer unabweisbaren historischen Analogie. Ihre ruhig atmende, überhaupt nicht aggressive, einfach nur für sich stehende Präsenz in furchtbarer Demütigung und zu Tränen rührender Erhabenheit zugleich. Man war beschämt und gerührt und tief erschüttert. Es war mehr, aber besser kann ich es nicht sagen.

Was uns Brett Bailey da in ungeheurer sinnlicher Authentizität zugemutet hat, macht dich fürs Leben immun für jegliche Art von Rassismus. Es hat viele Debatten vorweggenommen, die heute mit aller notwendigen Dringlichkeit auf uns Europäer einprasseln.

Allerdings wäre eine solche Installation heute wohl kaum mehr vorstellbar. Denn auch die angeprangerte Diskriminierung ist ja aus der Sicht vieler heutiger Anti-Rassismus-Aktivisten immer noch Diskriminierung. Anders gesagt: Uns Weißen steht es nicht zu, schwarze Menschen in Ausstellungen anzustarren in wie kritischer Sicht auch immer.

Für mich aber war „Exhibit A“ das am schwersten erträgliche kulturelle Erlebnis überhaupt. Ich bin sehr dankbar dafür.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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