Nie werde ich ihn vergessen, diesen Nachmittag an der Oker in Wolfenbüttel. Diese grausamen Stunden am Ufer des angeschwollenen Flusses. Mitten im Sommer 2017, als das Hochwasser die Lessingstadt und die Region in Atem hält. 120 Minuten zwischen Hoffen und Bangen, die mich nicht nur als Journalistin, sondern vor allem als mitfühlender Mensch in Sichtweite meiner Grenzen gebracht hat. 120 Minuten, in denen ich Angst hatte, dass die Wassermassen eine Kinderleiche ans Ufer spülen.

Die Feuerwehrleute sind von ihrem letzten Hochwasser-Einsatz schon auf dem Weg nach Hause, als gegen 16.50 Uhr eine schreckliche Nachricht die Einsatzkräfte erreicht: Ein Kinderfahrrad ist in den Wallanlagen an der Oker gefunden worden. Den Maßen nach handelt es sich um das Rad eines fünf- oder sechsjährigen Kindes. Von dem fehlt jede Spur – nur seine Mütze hängt noch am Lenker. Ein Anwohner hat das Rad gefunden und die Polizei alarmiert.

Zu diesem Zeitpunkt kann niemand ausschließen, dass der junge Besitzer des Rades in den Hochwasser führenden Fluss gestürzt ist. Sofort wird eine großangelegte Suchaktion gestartet. Mehrere Schlauchboote sind im Einsatz. Außerdem kreist der Rettungshubschrauber Christoph 30 über dem Gebiet am Herzogtor in Wolfenbüttel. Spät kommt ein Polizeihubschrauber aus Hannover hinzu. Mit einer Wärmebildkamera wird der Uferbereich abgesucht. Taucher durchkämmen den Fluss.

Neben mir stehen mittlerweile auch andere Journalistinnen und Journalisten an der Unglücksstelle. Ein Fernseh-Team ist dabei. Mikros und Kameras im Anschlag starren alle auf die Wassermassen. Nie habe ich mir mehr gewünscht, dass wir alle umsonst dort sind, dass es keine Story gibt und alles ein einziges großes Missverständnis ist.

Um 18.50 Uhr dann die unglaubliche gute Nachricht – das Kind ist gefunden und wohlauf. Ein Feuerwehrmann berichtet, dass sich der Vater mit dem Kind bei der Polizei gemeldet hätte – und alles ein Missverständnis sei. Das Fahrrad hätten sie stehengelassen, weil es einen Platten hatte. Endlich kann die Feuerwehr abrücken – die vergangenen Stunden haben an ihren Kräften gezehrt. Wie in Trance steige ich ins Auto. Und dann können sie endlich fließen, die Tränen der Erleichterung.