Mich hat er immer schon fasziniert, dieser Dom, dessen Bau Heinrich der Löwe nach der Rückkehr von seiner Pilgerreise 1173 in Auftrag gab.

Gottesdienst-Besucher war ich nie. Aber Städte ohne Kirchen kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie trostlos wäre Braunschweig ohne den Dom, Katharinen und Martini, ohne Andreas, Ägidien und Petri, ohne Michaelis, Magni oder Brüdern. Sie erscheinen mir wie nahe Verwandte. Vertraut, unveränderlich. Die mittelalterlichen Kirchen sind christliche Symbole, haben kunsthistorischen Rang, aber sie gliedern auch das Häuser-Sammelsurium rundum. Und sie sind Orte des Nachsinnens, des Innehaltens, der Stille. Wer die steinernen Portale durchschreitet, entrückt der eigenen Unrast.

Ein Streifzug durch die Stadt. Vorbei an Schaufensterschildern wie „Geschlossen“, „Nur mit Maske“ oder auch „Gegen unsere Entmündigung“. Die City scheint zu schlafen. Doch merkwürdig: Auf dem Burgplatz wird mir bewusst, wie sehr diese Leere dem Dom wohltut; denn ohne Menschengewusel und Hast bleibt plötzlich der Blick haften auf diesem bedeutendsten Bauwerk unserer Stadt, deren 1000-jährige Geschichte hier ihren geistigen und historischen Mittelpunkt hat.

Mich hat er immer schon fasziniert, dieser Dom, dessen Bau Heinrich der Löwe nach der Rückkehr von seiner Pilgerreise ins Heilige Land 1173 in Auftrag gab. Er, einer der mächtigsten Fürsten Europas und „die“ Symbolfigur unserer Stadt. Noch heute künden, so scheint es mir, die trutzigen Türme aus rotbraunen Rogensteinen von Macht, Stolz und Kühnheit des Sachsenherzogs.

Es lohnt sich, am Dom oder im Dom zu verharren. Da ist zunächst der Respekt vor der gigantischen Bauleistung. Wie konnten vor 800 Jahren diese riesigen Türme überhaupt so solide errichtet werden, dass sie heute noch jedem Sturm trotzen? Wie war es möglich, in jahrelanger Mühe ohne Autos und motorisierte Kräne, zehntausende Steine aus dem Nußberg oder Elm heran zu karren und aufeinander zu schichten? Wie viele Menschen mögen da geschuftet haben?

Oft bin ich im Dom gewesen. Als interessierter Besucher. Geführt von Joachim Hempel oder Armin Kraft. Denn der Dom steckt ja immer noch voller Geschichten, die noch nicht erzählt sind, und voller Geschichte, die noch nicht erforscht ist. Der siebenarmige Leuchter, das Imervard-Kreuz, der Marienaltar: Kostbarkeiten, die Heinrich der Löwe schon gekannt hat. Auch die Secco-Wand- und Deckenmalereien sind grandios. Sie sollen – so Hempel – schon zu Heinrichs Zeit begonnen worden sein. Und dessen Sohn Otto IV., ein gebürtiger Braunschweiger und römisch-deutscher Kaiser, hat sie vollenden lassen. Auch bei der Öffnung des Welfengrabstätte (1998) war ich dabei, die Türme habe ich bestiegen, die 12 Glocken bewundert und ebenso die Reste eines uralten Holzkrans, der vom Bau der Türme (innen drin!) übriggeblieben ist.

Ist es nicht so? Es wehen Bilder heran, wenn man sich an Orte erinnert. Mein jüngstes Dom-Bild entstand im März 2020, als der erste Lockdown den Alltag lähmte. Ich wanderte durch die City und sah am Portal von St. Blasii (so der offizielle Name) die Dompredigerin Cornelia Götz. Sie stand dort stundenlang und betreute jeden Besucher einzeln; denn es durften ja immer nur wenige in den Dom hinein. Das war ein starker, selbstbewusster Götz-Auftritt! Hilfreich für viele (besonders ältere Menschen), die von der Corona-Wucht in Angst und Einsamkeit getrieben wurden. Kurz darauf wurden auf bischöflichen Befehl alle Kirchen geschlossen. Das gab es nicht mal im Krieg 1944/45 oder in der Pest-Zeit des Mittelalters! Ein schmählicher Vorgang! Auch diese Lockdown-Passivität schürte – neben der Empörung über katholischen Kindesmissbrauch – die Flut der Kirchenaustritte.

Auch mein ältester Eindruck vom Dom ist noch lebendig. Damals, zwischen August 1944 und Ende 1945, wohnte ich in unmittelbarer Nähe. In der Hofapotheke. Sozusagen im Schutz der Domtürme, die aus unserem Küchenfenster zu sehen waren. Und ich weiß, dass der Anblick dieser Türme den Menschen offenbar Trost gab, wenn sie nach einem Bombenangriff aus dem Bunker in die Trümmerwüste taumelten und stammelten: „Gottseidank. Wenigstens der Dom steht noch.“ So, als sei das ein Zeichen des Himmels. An einem Frühlingstag 1945 war ich erstmals im Dom-Inneren. Kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner. Ihre mit weißen Sternen bemalten Panzer, die drohenden Geschützrohre zur Erde gerichtet, parkten rund um den Dom. Ebenso ihre Jeeps, in denen dunkelhäutige Soldaten lümmelten und uns Schokolade zuwarfen. Wir lernten schnell: „Have you chewinggum?“ Nie baten wir vergeblich um Kaugummi. Unsere Mütter hatten uns „zum Luftschnappen“ auf die Straße geschickt, bewacht von größeren Geschwistern. Was für ein Gefühl: Keine Angst mehr vor den Bomben!

Beim Herumstromern, standen wir plötzlich im Dom, der den Bombenhagel glimpflich überstanden hatte. Bis auf fehlende Dachziegel, Splittereinschläge und zerborstene Fenster. Ich weiß nicht, durch welchen Spalt wir hineingehuscht sind. Aber das Bild sehe ich noch vor mir: die Sonne warf gleißend helle Muster auf umgestürzte Bänke, Bretter und eiserne Leuchter. Chaos herrschte an diesem Ort, der jahrelang Nazi-Weihestätte gewesen war. Dennoch ergriff mich beim stummen Herumschleichen das Gefühl, als verströme dieser himmelhohe Raum etwas Erhabenes. Etwas Besonderes, von dem man draußen keine Ahnung hat. Dieser frühe Eindruck blieb wach. Bis heute.

Eckhard Schimpf erzählt jeden zweiten Sonnabend Geschichten aus seiner Heimatregion und über ihre Menschen.