Dort tafelten einst auf der heute noch vorhandenen Veranda im ersten Stock jahrelang die berühmtesten Radrennfahrer der Welt.

Der weiße Außenanstrich ist verwittert, Putz bröckelt, die Fenster sind grau verhangen: Das Haus Ebert-Allee 73 fällt jetzt besonders auf, weil die Nachbargebäude (74 , 75, 76) so picobello restauriert dastehen. Diese Nummer 73, die vor über einem Jahrhundert „Restaurant zur Sportbahn“ hieß, hat eine bunte Historie. Dort tafelten einst auf der heute noch vorhandenen Veranda im ersten Stock jahrelang die berühmtesten Radrennfahrer der Welt.

Der Grund dafür? Eine Rennbahn, in ganz Europa bekannt. Vom Haus Nummer 73 führt an der Mittelriede entlang ein Weg dorthin. Wie heute noch. Die alten Kastanienbäume am Ufer könnten den Renntrubel noch erlebt haben. An dieses 400 Meter lange Oval mit zwei Steilkurven (jeweils 3,50 Meter hoch) erinnert nur noch der Name „Sportbahn“, den ein Kleingartenverein trägt. Auf dessen heutigem Gelände stand nämlich dieses Stadion, das 1909 abgerissen wurde. Das ist Geschichte, die längst verweht ist. Am meisten weiß darüber Reinhard Wetterau, der akribisch arbeitende Heimatpfleger Riddagshausens. Aber auch für ihn blieben immer noch viele Fragen offen.

Da war es ein Glücksfall, dass mir bei der Leipziger Buchmesse vor vier Jahren die Bände der „Radwelt“ von 1900 bis 1905 in die Hände fielen. Nun klärt sich manches. Eingeweiht wurde die Rennbahn am 10. September 1899. Zunächst hatte das Oval eine Oberfläche aus gestampftem Feinkies. Doch der erwies sich als ungeeignet, so dass die Investoren Fabrikbesitzer Sudhop, die Zimmermeister Göcke und Heine nochmals Geld in die Hand nahmen und eine Zementoberfläche auftragen ließen. Radsport boomte damals, die Zuschauer strömten. Im deutschen Reich gab es 54 Rennbahnen (Stand 1904). Überwiegend waren es 400-Meter-Pisten, nur acht waren länger. Zur Weltelite zählten etwa der Berliner Walter Rütt (der 933 Rennen gewann, darunter 1906 auch die Six-Days in New York), außerdem der Weltmeister von 1901 und 1902, Thaddäus Robl, sowie der Hannoveraner Willy Arend (Weltmeister 1897).

Alle drei fuhren öfter in Braunschweig. Ebenso Asse aus Frankreich, Dänemark, England und sogar der weltberühmte, dunkelhäutige Champion Walter („Major“) Taylor aus USA. Diese Profis kamen natürlich nur, wenn die Kasse stimmte. Und die stimmte. Die Preisgelder in Braunschweig lagen ebenso so hoch wie in Prag, Berlin, Wien. Das war nur möglich, weil es Förderer gab. Den Regenten des Herzogtums, aber auch Unternehmer wie Büssing, Rimpau, Jüdel oder Franz Trinks, der mehrfach ein Rennen um den „Brunsviga-Preis“ finanzierte. Bis zu vier internationale Renntage gab es pro Jahr, dann zehn nationale Rennen und jeden Tag Trainingsbetrieb. Ein Beispiel vom 2. Juni 1901.

Da verkündeten Plakate: „Internationaler Radrenntag am Sonntag 15.30 Uhr, verbunden mit einem Konzert der kompletten Glindemannschen Kapelle.“ Dazu muss man wissen, dass in der Mitte des Ovals ein Teich lag. Der existiert noch heute im Gartenverein „Sportbahn“. Mitten im Wasser stand ein Musikpavillon, von dem aus die Kapellen die Stimmung anheizten. Die Eintrittspreise: Loge für vier Personen 10 Mark, Karte für den Innenraum 1 Mark, Außenraum 50 Pfennige. In Riddagshausen wurden meist Fliegerennen gefahren, für Profis und Amateure getrennt. Diese Sprints führten stets über 2000 Meter (fünf Runden). Bei 40 Startern waren das zehn Läufe für je vier Fahrer, bis die Finalisten feststanden. Sieger wurde im Juni 1901 Walter Rütt, der dafür 300 Mark einstrich. Er fuhr aber auch noch das Prämienrennen (da gab es für den Führenden jeder Runde Geld) und das Vorgaberennen für Teams (Rütt/Scheuermann siegten).

Rütts Tagesbilanz: 600 Mark. Pro Jahr verdiente Rütt (laut „Radwelt“) bis zu 80 000 Mark. 1902 gewann Thaddäus Robl das Dauerrennen der Steher um den „Großen Preis von Braunschweig“ und kassierte dafür 2000 Mark. Viel Geld, wenn man bedenkt, dass der Monatslohn eines Arbeiters damals bei 70 Mark lag. Die Rennen der Steher waren besonders beliebt. Dabei fuhr (wie noch heute) ein Motorrad voran, und gewährte dem Radfahrer Windschatten. Problem war, dass rasante Technikfortschritte die Motorräder immer schneller machte. Dafür waren jedoch die Kurven nicht ausgelegt, so dass sich Unfälle häuften. Zwischen 1900 und 1914 gab es in Europa 60 Todesstürze.

Auch in Braunschweig. Am 7. Juli 1904 stürzte der Magdeburger Otto Luther tödlich, am 7. Mai 1905 der Aachener Horst Sevenich. Die Veranstalter (nicht nur in Braunschweig) standen vor dem Dilemma: Neue Strecke mit höheren Steilkurven – oder Abriss. Da eine Finanzierung nicht darstellbar war, folgte für Riddagshausen nach Ende der Saison 1907 das „Aus“. Das „Restaurant zur Sportbahn“, das einst von den Radsportlern lebte, verlor seine Kundschaft und wurde später zum Wohnhaus. Die Polizeidirektion war indes froh, dass der Renntrubel ein Ende fand. Die „Landeszeitung“ nannte 1906 den Grund: „Automobile, Motorräder und Chaisen mit Pferden stauten sich bis zum Stadtrand. Viele der 6000 Zuschauer zechten bis in die Nacht“.

Eckhard Schimpf erzählt jeden zweiten Sonnabend Geschichten aus der Heimatregion und über ihre Menschen.