Wenn ich die Rübenhaufen am Feldrand sehe, muss ich unwillkürlich an die Geschichten meiner Mutter denken. Sie erzählt oft von „Rübenkraut“.

Wer in diesen Tagen über Land fährt, hat mit Behinderungen zu rechnen: verschmutzte Fahrbahnen, am Wegesrand abgestellte volle Anhänger, unvermittelt aus Feldwegen „preschende“ Lastzüge beladen mit – Zuckerrüben. Die Ernte der Zuckerrüben, übrigens „Kampagne“ genannt, ist seit Mitte September in vollem Gange.

Wenn ich die riesigen Rübenhaufen am Feldrand sehe, muss ich unwillkürlich an die Geschichten meiner Mutter denken. Sie erzählt oft von „Rübenkraut“, dem süßen Sirup, der auf das dick geschnittene Bauernbrot gestrichen wurde. Es war die Zeit, als Nutella noch nicht erfunden war. Ich kenne Rübensaft noch aus meiner WG-Zeit, und zwar aus dem typisch gelben Pappbecher mit der Aufschrift „Original Grafschafter Goldsaft“. Der hielt ewig, war ja auch genug Zucker enthalten. Eigentlich nur Zucker.

In den Fünfzigern kamen Marmeladen mit den exotischsten Früchten auf den Markt, was zur Folge hatte, dass sich die Zahl der Rübensafthersteller von rund 500 auf eine Handvoll verringerte. Egal ob Konfitüre, Gelee oder Nuss-Nougat-Creme: In all diesen Brotaufstrichen ist viel Zucker drin, sehr viel Zucker. Oft über 50 Prozent. Um Ihnen den Zuckergehalt einer Rübe mal anschaulich zu machen: In einer Zuckerrübe steckt der Zucker eines handelsüblichen 250-Gramm-Glases Orangenmarmelade, nämlich rund 170 Gramm. Aber wissen Sie eigentlich, wie der weiße Glücklichmacher hergestellt wird? Ich habe mich mal schlau gemacht. Schon bei der Ernte der Zuckerrüben erledigt der Roder, eine riesige landwirtschaftliche Maschine, gleich vier Funktionen auf dem Feld: Die Rüben werden entblättert, aus der Erde gehoben, grob gereinigt und aus dem Acker zusammengesammelt.

Sie wohnen dann zur Miete am Feldrand, nein Unsinn, sie liegen dann auf einem Haufen, der „Miete“ heißt, bis sie abgeholt werden, um zu Zucker verarbeitet zu werden. Gerade einmal acht Stunden dauert es, bis aus einer Knolle die heiß geliebten Zuckerkristalle entstehen. Die Rüben werden in der Raffinerie gründlich gewaschen und geschnetzelt. Im Extraktionsturm, einem riesigen Kochtopf, werden sie mit rund 80 Grad heißem Wasser übergossen, was einen dickflüssigen Zuckersaft ergibt.

Dort wird der Zucker aus dem Rübensaft herausgelöst. Danach folgt das Filtern, der süße Saft wird weiter eingekocht, bis eine zähflüssige Masse entsteht. Zentrifugen trennen die Kristalle von der braunen Flüssigkeit. Nach dem Trocknen rieseln die Kristalle in die bekannten 1-Kilo-Tüten.

Was meinen Sie, wie viel Zucker wir im Jahr verzehren? In Deutschland verbraucht ein Mensch jährlich durchschnittlich rund 35 Kilogramm Zucker. So viel? Ich kaufe doch fast nie solche Kilo-Pakete Zucker … Muss ich auch nicht, denn Zucker versteckt sich in vielen Lebensmitteln. Oft wissen wir gar nicht, worin er überall lauert: in Getränken, Fertiggerichten, Milchprodukten oder Müslis. Rund 60 Bezeichnungen gibt es für Zucker, da soll mal einer durchsteigen! Wissen Sie, dass Dextrose, Invertzuckersirup, Süßmolkepulver, Maltodextrin und Glukosesirup alle Begriffe für Zucker sind? Ernährungsexperten warnen. Ess-Coaches raten, nur 8 Kilo im Jahr zu konsumieren, die Durchschnittsdeutschen sollten also ihren Zuckerkonsum um drei Viertel reduzieren. Da könnte der von vielen erwartete Nutri-Score helfen. Keine Angst, ich malträtiere Sie nun nicht mit Ernährungstipps.

Vielmehr möchte ich nochmal auf die Zuckerrübe zurückkommen. Sie bietet – auch wenn sie wahrlich nicht das hübscheste Produkt der Natur ist – Anlass zu künstlerischer Auseinandersetzung. Hier ein Gedicht: Rübenland Im Laufe eines Menschenlebens hat sich vieles verändert in unserem Land: Geblieben sind die Rüben. Rübenfelder. Rübenhaufen. Rübenwolken. Freud-Rüben. Leid-Rüben. Neid-Rüben.

Bärbel Mäkeler, 1957 in Stuttgart geboren, ist Autorin, Lektorin und Germanistin. Sie lebt seit 1975 in Braunschweig und widmet sich in ihrer Kolumne den besonderen Dingen des Alltags.