Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, glaube ich nicht, dass ich mich heute in Braunschweig aufhalten würde.

Am vergangenen Dienstag erschien diese Kolumne nicht. Viele besorgte Leserinnen und Leser meldeten sich bei mir, um zu fragen, ob es mir gut ginge. Ich möchte mich bei allen bedanken. Ich hatte beschlossen, mich für ein paar Tage zu erholen.

Knapp 31 Jahre ist es her, dass die Mauer gefallen ist. Sprachlos saß ich an jenem Tag vor dem Fernseher in Moskau. Die Nachrichten überschlugen sich, ich erlebte das erste Mal, wie unerwartete Ereignisse die Welt verändern können. Der deutsche Künstler Wayne Horse sagte: „Früher erzählten die Alten aus dem Krieg, wir werden von Mallorca erzählen.“

Ich dachte, ich werde nicht aus dem Krieg erzählen, weil ich keinen heißen Krieg erlebt habe, sondern von der Zeit kurz nach dem Fall der Mauer. Das ist auch meine Geschichte, die die offizielle Berichterstattung ignoriert, so wie sie auch die von Millionen anderer Menschen gar nicht wiedergeben kann.

Viele Menschen waren betroffen, und die Medien können nur die Geschichten herauspicken, die die Gesellschaft interessieren könnten. Aber die Geschichte des Mauerfalls ist keine Geschichte, die nur die Deutschen betrifft, das ist eine Geschichte, die die ganze Welt verändert hat, damit sind viele Regime in Ost-Europa sowie in Afrika wie Dominosteine gefallen.

Mein Lebenslauf ist mit dieser Zeit eng verbunden. Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, glaube ich nicht, dass ich mich heute in Braunschweig aufhalten würde. Vor einigen Tagen fiel mir beim Aufräumen ein Adressbuch aus meiner Zeit in Moskau in die Hände. Ich blätterte darin und fand den Namen und die Anschrift einer ostdeutschen Studentin, die ich damals während einer U-Bahn-Fahrt kennengelernt hatte.

Ich wohnte damals in einem Männerwohnheim, in dem es uns verboten war, Frauen zu empfangen. Nachdem ich festgestellt hatte, dass unsere Wächter nur sowjetische Frauen daran hinderten uns zu besuchen, entschied ich mich, keine russischen Frauen anzusprechen. Die Liaison mit der ostdeutschen Studentin erwies sich im Nachhinein als kompliziert. Sie erzählte mir, dass ihr Staat ihr nie gestatten würde, einen Nicht-Ostdeutschen zu heiraten, weil ihre Ausbildung für den Staat teuer war.

Sie hatte nicht Unrecht, viele Staaten, unter anderem auch afrikanische Länder, unterbanden Partnerschaften mit fremden Staatsbürgern. Ich hatte wenig Hoffnung auf eine Beziehung mit ihr und beschloss, sie nicht mehr zu besuchen.

Da ich mit meinem eigenen Überleben beschäftigt, und außerdem liiert war, hatte ich sie ganz vergessen. Da ich die Anschrift jetzt in den Händen hielt, bin ich neugierig geworden. Sicherlich muss sie heute ungefähr 50 Jahre alt sein. Und ich würde gerne wissen, was aus ihr geworden ist. Was ist die teure Ausbildung nach der Wende wert gewesen?

In den sozialen Netzwerken fand ich sie nicht. Vielleicht hat sie geheiratet und den Namen ihres Mannes angenommen? Ich gab die Anschrift ein und sah, dass das Dorf in der Nähe von Quedlinburg liegt. Ich stieg ins Auto, fuhr in das Dorf und fand auch das Haus. Auf dem Namenschild las ich einen anderen Namen. Normalerweise musste das der Wohnsitz ihrer Eltern gewesen sein.

Ich klingelte. Ein junger Mann öffnete. Ich sagte, dass ich auf der Suche nach einer Frau war und erzählte ihm die Geschichte. Der Name sagte ihm gar nichts. Er vermutete, dass die alten Bewohner das Haus verkauft hatten. Ich ging ein paar Mal durch die Straße. Wieder zu Hause, habe ich mich erinnert, dass wir gemeinsam ein Foto auf dem Roten Platz gemacht hatten. Ich guckte in meine Alben und suchte das Bild heraus. Ich dachte: das war eine Geschichte von der Wende. Ein Teil meines Lebens.

Luc Degla studierte im Benin Mathematik und in Moskau und Braunschweig Maschinenbau. Der freie Autor lebt in Braunschweig. In seiner Kolumne beschreibt er sein Leben mit den Deutschen.