„Eines haben all diese Aussagen gemeinsam: Sie sind falsch.“

Es gibt Aussagen, die tauchen als weithin akzeptierte Wahrheiten immer wieder auf. Etwa, dass der Mensch nur zehn Prozent seines Gehirns nutze, die Erde im Mittelalter für eine Scheibe gehalten wurde oder dass der Amazonas-Regenwald die grüne Lunge unseres Planeten sei.

Eines haben all diese Aussagen gemeinsam: Sie sind falsch.

Zuletzt war es Entwicklungsminister Gerd Müller, der angesichts von Waldbränden in Brasilien und anlässlich des Tags der Tropenwälder am Montag von der „Lunge des Planeten“ sprach. Führende Regenwald-Experten wie Emmanuelle Macron, Leonardo DiCaprio oder Christiano Ronaldo ergänzen diese Behauptung gern mit der Angabe, dass der Amazonas-Wald 20 Prozent unseres Sauerstoffs produziere. In der Tat wandeln Bäume wie andere Pflanzen durch Photosynthese Kohlenstoffdioxid (CO2) und Wasser in Sauerstoff und energiereiche Moleküle wie Zucker um. Es stellt sich aber die Frage, wie bei der Umwandlung im groben Verhältnis von eins zu eins aus den rund 0,04 Prozent CO in der Luft 21 Prozent Sauerstoff werden sollen. Laut einer Studie im Fachmagazin „Science“ aus dem Jahr 2010 sind tropische Regenwälder für etwa 32 Prozent der Photosyntheseleistung an Land verantwortlich. Davon entfällt etwa die Hälfte auf das Amazonas-Gebiet. Großzügig gerundet, lassen sich daraus die erwähnten 20 Prozent ableiten. Zieht man allerdings das ebenfalls Photosynthese betreibende Phytoplankton im Meer hinzu, sinkt der Gesamtanteil des Amazonas an der Sauerstoffproduktion auf deutlich unter zehn Prozent.

Zudem wird bei solchen Rechnungen häufig vergessen, dass Photosynthese nur bei Licht abläuft. In der Nacht kehrt sich der Prozess um: Pflanzen nehmen Sauerstoff auf und bauen einen Teil des produzierten Zuckers wieder ab. So halbiert sich die Sauerstoffbilanz der Bäume noch einmal. Hinzu kommen Mikroorganismen im Boden der Wälder, die beim Zersetzen toter organischer Materie Sauerstoff verbrauchen. Und unterm Strich? Alles in allem liegt der Sauerstoff-Nettobetrag der Regenwälder etwa bei Null, sagt der Ökosystemwissenschaftler Yadvinder Malhi von der Universität Oxford. Den hohen Sauerstoffgehalt der Luft verdankt unser Planet einem über Milliarden Jahre laufenden Prozess in den Meeren. Anders als an Land hat sich das Phytoplankton in den Ozeanen zu einem großen Teil nach dem Tod nicht unter Verbrauch von Sauerstoff zersetzt, sondern wurde in Sedimenten konserviert. So konnte der erzeugte Sauerstoff sich langsam anreichern.

Das schmälert nicht die Bedeutung des Amazonas-Regenwaldes. Er speichert eine gewaltige Menge CO2, die beim Verbrennen in die Atmosphäre gelangen und den Klimawandel anheizen würde, und er reguliert das Wetter in Südamerika. Zudem ist er eine Schatzkammer der Biodiversität – das artenreichste Land-Ökosystem dieses Planeten. Um den Schutz der Regenwälder zu begründen, sind Mythen von grünen Lungen also gar nicht notwendig.